Eine wunderschöne und bewegende Kurzgeschichten-Sammlung des literarischen Phänomens namens John Updike. Aus der Sicht des hohen Alters besucht Updike unter anderem die Lieblingsplätze seiner Kindheit.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2011Weisheiten aus der Wisteria Lane
Ohne Affären und Scheidungen kommt bei ihm kein Protagonist durch die Jahrzehnte: John Updikes neuer Erzählband "Die Tränen meines Vaters" reicht von Erinnerungen an die dreißiger Jahre bis zur Bearbeitung des 11. September. Man staunt über seine subtile Formulierungskunst und luzide Wahrnehmung.
Die letzten Erzählungen von John Updike sind Exerzitien der Erinnerung. Sie kommen mit kleinen Handlungskernen aus. Während sich Kurzgeschichten sonst meist auf einen knappen Zeitausschnitt beschränken, findet Updikes späte Prosa ihr eigenes, gedehntes, viele Jahrzehnte übergreifendes Zeitmaß. Ungebrochen waren bis zuletzt die Lust und das Können dieses Autors, Erfahrungen und Eindrücke in Sprache zu verwandeln, indem er autobiographisches Material mit Erfindung mischte. Noch einmal wird Updike zum literarischen Repräsentanten der weißen amerikanischen Mittelschicht, indem er seine "Archäologie in eigener Sache" betreibt, wie der Titel einer Erzählung lautet.
Die Jahrzehnte haben den Lebensläufen seiner Figuren den Stempel aufgedrückt: etwa die fünfziger Jahre mit ihrem Optimismus, ihrer moralischen Ungebrochenheit, ihrem Vertrauen auf treue Ehen und funktionierende Kleinfamilien. Dann kamen die Jahre, in denen das alles lustvoll untergraben wurde: "Ah, diese flimmernden Nachmittage am Strand in den sonnenverliebten, vergnügungssüchtigen Sechzigern", heißt es in der Erzählung "Blaues Licht", die von einem älteren Herrn namens Fleischer erzählt, der seine präkanzerösen Hautzellen bestrahlen lässt und vom Dermatologen über seine Sonnen-Sünden belehrt wird: "die beleidigte Epidermis vergisst es nie".
Auch die eigenen, mit drei Ehefrauen gezeugten Kinder und die Enkelkinder vergessen nicht die "obskuren Sünden" eines Großvaters, der sie alle verlassen hat, jetzt aber reihum wieder Besuche abstattet. Statt mit Sonne und Vergnügen bekommt er es dabei mit verschatteten Gemütern zu tun. Er blickt ins "kummervoll alternde Gesicht" seines Sohnes, der "rätselhaft verwundet" wirkt und nicht wahrhaben will, dass seine eigene Ehe auch schon wieder gescheitert ist. Kinder haben heißt: "zarte Wurzeln in die harte Substanz der Welt ausschicken".
"Diese unschuldige Generation war in die sexuelle Revolution hineingewachsen und hatte sich beeilt, Schritt zu halten." Kaum ein Autor seiner Generation hat literarisch so überzeugend Schritt gehalten wie Updike - unvergessen die Sexbeschreibungen des Meisterwerks "Bessere Verhältnisse". Die bewährten Verlockungen werden auch in diesem Erzählband noch einmal aufgerufen. "Frei" heißt die Geschichte, in der ein Mann jahrzehntelang seiner erstickten Affäre mit der sinnlichen Leila nachtrauert - "er war nicht gut im Ehebrechen". Als Witwer macht er sich noch einmal auf zur alten Flamme, um festzustellen, dass sie erloschen ist. Ohne Affären und Scheidungen kommt bei Updike niemand durch die Jahrzehnte. Wer sollte es missbilligen? "Seine Mutter, anfänglich empört, wurde philosophisch, legte sich postmoderne Ironie zu und eine Talkshow-Toleranz, die sie während vieler Stunden vor dem Fernseher eingeübt hatte."
Einige der Geschichten verschwimmen fast ineinander - immer wieder kommen Erinnerungen an die Dreißiger-Jahre-Kindheit zur Sprache, an eine sorgengeplagte, verarmte Ein-Kind-Familie, die in Zeiten der Depression zusammenrücken musste unter dem Dach der Großeltern, dazu anrührende Erinnerungen an einen Vater, der mal Lehrer ist, mal Buchhalter oder Theologe und auf jeden Fall einen schweren Stand hat gegenüber seiner künstlerisch veranlagten Frau mit ihrer "psychologischen Hitze" und ihrem Jähzorn. In den wunderbaren, eindrucksgesättigten "Kinderszenen" wird die Topographie des großelterlichen Gartens zur kindlichen Seelenlandschaft - mit der unheimlichen, schattigen Seite, wo das Haus fensterlos ist. "Das Haus der Eichelbergers ragt bedrohlich nah auf, und Toby hat Angst, dass Mr. Eichelberger sich mal aus irgendeinem Grund auf ihn stürzt ... Dann sperren sie ihn in ihren Keller, zwischen die spinnwebigen Borde mit eingemachtem, aus den Gläsern starrendem Obst, zu den Skeletten anderer gefangener Kinder."
Unfassbar, dass man kürzlich noch ein Kind war und jetzt "nebenan vom Tod wohnt". Sanfte Mädchen haben nun Gesichter von "eulenhafter Schärfe", alte Golfkumpel sind an Herzinfarkten gestorben. Kindheit und Alter werden in den Geschichten immer wieder enggeführt. Da wird beim Klassentreffen erst einmal eine moribunde Mitschülerin im Krankenhaus besucht, bevor man beisammensitzt und erster Rendezvous gedenkt. In "Der Spaziergang mit Elizanne" dankt diese "mit dem wissenden Lachen einer modernen Vorortfrau" ihrem alten Schulfreund David Kern für die erotische Initialzündung, die er vor einem halben Jahrhundert bei ihr auslöste: "Du warst sehr wichtig für mich. Du warst der erste Junge, der mich je nach Hause begleitet hat - und mich geküsst hat." Aufgewühlt von diesem unerwarteten Bekenntnis, wälzt sich Kern nachts im Hotelbett neben seiner Frau - und bemüht sich, die entschwundenen Details jenes epochemachenden Spaziergangs zu rekonstruieren, bis am Ende die Urszene prächtiger vor ihm steht, als sie je gewesen sein mag.
Ein paar Geschichten später ist David Kern wieder zum Klassentreffen unterwegs, und wieder hat er einen Weg vergessen: Er verirrt sich auf der Fahrt vom Motel zum Veranstaltungsraum. Zu Lebzeiten ist ihm die Heimatstadt fremd und labyrinthisch geworden. Immerhin, an diesem Abend trifft er seine Kindergarten-Liebe wieder. Aber sie versteht seine Rede kaum: "Er sah, dass die Höhlung ihres zierlichen Ohrs mit einem fleischfarbenen Hörgerät gefüllt war." Gehört ihr auch die Gehhilfe am Fenster? Kern seinerseits will keine Hilfe. Seine ortansässigen Schulfreunde möchten ihm jedoch keine zweite Irrfahrt zumuten: "Du fährst hinter uns her!" Mit Wut endet die Story. "Er konnte es nicht glauben: sie leiteten ihn wie einen in der Stadt fremden Schwachkopf bis auf den Parkplatz des Alton Motor Inn."
Zu den Erfahrungen des Alters gehört die existentielle Dispersion: Die Dinge scheinen sich zu entfernen, Kontakte gehen verloren. "In einem Universum sich beschleunigender Ausdehnung" - so der Titel einer der besten Geschichten - "hatte er immer seltener das Vergnügen, Nähe zu fühlen", heißt es über Martin Fairchild, der auf einer Spanien-Reise in unverhoffte Euphorie gerät. Nicht weil ihm die Kathedralen so nahe kämen, sondern weil er Opfer eines vom Moped aus agierenden Taschendiebes wird. Endlich wieder Kontakt! Updikes Meisterschaft kann diese unwahrscheinliche Pointe plausibel machen.
Im längsten Text, "Spielarten religiöser Erfahrung", verlässt der Autor den fruchtbaren autobiographischen Boden und schreibt Rollenprosa im Auftrag der Zeitgeschichte. Auch seine Erzählkunst kann indes nicht ganz plausibel machen, welchen Mehrwert die literarische Bearbeitung des 11. September angesichts der enzyklopädischen medialen Beschäftigung mit dem Thema noch bieten soll. In einer Szene erleben wir Mohammed Atta in der Striptease-Bar, nichts als Unheil brütend: "die angejahrte Kellnerin, faltig und fett, eine Sickergrube voll geronnener Geilheit, voll ranzig gewordener amerikanischer Möglichkeiten". Diese Formulierung hat was; trotzdem wirken diese Seiten wie eine Creative-Writing-Übung: Mache das Hirn eines Terroristen mittels erlebter Rede begehbar. Geschildert werden außerdem die letzten Minuten im Leben eines Wertpapierhändlers im Nordturm sowie einer alten Dame an Bord von United Airlines 93. Und der New-York-Besucher Dan Kellogg verliert im Blick auf das qualmende Inferno seinen Glauben. Um ihn am Ende wiederzufinden, auf unverkennbare Updike-Weise: "Ihm würde die Versammlung der Gemeinde am Sonntag fehlen, der Geruch nach gewachsten Kirchenbänken und muffigen Kniekissen, die Heizkörper, die nach einer Woche kühlen Nichtgebrauchs an winterlichen Sonntagmorgen klopften, der Geschmack der nach nichts schmeckenden Oblate in seinem Mund." Solche sinnlichen Details können bei Updike kollabierende Türme aufwiegen.
Auch wenn einige der Geschichten etwas verplaudert wirken, staunt man immer wieder über subtile Formulierungen, treffende Adjektive und luzide Wahrnehmungen - noch einmal bewährt sich Updike als Sammler emphatischer und epiphanischer Augenblicke. Die Abschlussgeschichte handelt von einem Mann, der nach langer "glattzüngiger Bürotätigkeit" Spezialist für alte Holzfußböden wurde. Bei der Beschreibung seines Handwerks ist Updikes Poetik mitzulesen: "Arbeite mit dem Pinsel nicht so, dass du nicht mehr aus der Ecke herauskommst. Folge beim Streichen der Maserung, lenke deine Gedanken auf die Oberfläche . . ." Der letzte Satz in Updikes allerletzter Erzählung folgt der Maserung eines großen, menschenfreundlichen Lebenswerks: "Wenn ich die Gedanken dieses sonderbaren alten Kerls richtig lese, bringt er gerade einen Toast auf die sichtbare Welt aus, sein bevorstehendes Verschwinden aus ihr sei verdammt."
WOLFGANG SCHNEIDER
John Updike: "Die Tränen meines Vaters". Erzählungen.
Aus dem Amerikanischen von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 367 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ohne Affären und Scheidungen kommt bei ihm kein Protagonist durch die Jahrzehnte: John Updikes neuer Erzählband "Die Tränen meines Vaters" reicht von Erinnerungen an die dreißiger Jahre bis zur Bearbeitung des 11. September. Man staunt über seine subtile Formulierungskunst und luzide Wahrnehmung.
Die letzten Erzählungen von John Updike sind Exerzitien der Erinnerung. Sie kommen mit kleinen Handlungskernen aus. Während sich Kurzgeschichten sonst meist auf einen knappen Zeitausschnitt beschränken, findet Updikes späte Prosa ihr eigenes, gedehntes, viele Jahrzehnte übergreifendes Zeitmaß. Ungebrochen waren bis zuletzt die Lust und das Können dieses Autors, Erfahrungen und Eindrücke in Sprache zu verwandeln, indem er autobiographisches Material mit Erfindung mischte. Noch einmal wird Updike zum literarischen Repräsentanten der weißen amerikanischen Mittelschicht, indem er seine "Archäologie in eigener Sache" betreibt, wie der Titel einer Erzählung lautet.
Die Jahrzehnte haben den Lebensläufen seiner Figuren den Stempel aufgedrückt: etwa die fünfziger Jahre mit ihrem Optimismus, ihrer moralischen Ungebrochenheit, ihrem Vertrauen auf treue Ehen und funktionierende Kleinfamilien. Dann kamen die Jahre, in denen das alles lustvoll untergraben wurde: "Ah, diese flimmernden Nachmittage am Strand in den sonnenverliebten, vergnügungssüchtigen Sechzigern", heißt es in der Erzählung "Blaues Licht", die von einem älteren Herrn namens Fleischer erzählt, der seine präkanzerösen Hautzellen bestrahlen lässt und vom Dermatologen über seine Sonnen-Sünden belehrt wird: "die beleidigte Epidermis vergisst es nie".
Auch die eigenen, mit drei Ehefrauen gezeugten Kinder und die Enkelkinder vergessen nicht die "obskuren Sünden" eines Großvaters, der sie alle verlassen hat, jetzt aber reihum wieder Besuche abstattet. Statt mit Sonne und Vergnügen bekommt er es dabei mit verschatteten Gemütern zu tun. Er blickt ins "kummervoll alternde Gesicht" seines Sohnes, der "rätselhaft verwundet" wirkt und nicht wahrhaben will, dass seine eigene Ehe auch schon wieder gescheitert ist. Kinder haben heißt: "zarte Wurzeln in die harte Substanz der Welt ausschicken".
"Diese unschuldige Generation war in die sexuelle Revolution hineingewachsen und hatte sich beeilt, Schritt zu halten." Kaum ein Autor seiner Generation hat literarisch so überzeugend Schritt gehalten wie Updike - unvergessen die Sexbeschreibungen des Meisterwerks "Bessere Verhältnisse". Die bewährten Verlockungen werden auch in diesem Erzählband noch einmal aufgerufen. "Frei" heißt die Geschichte, in der ein Mann jahrzehntelang seiner erstickten Affäre mit der sinnlichen Leila nachtrauert - "er war nicht gut im Ehebrechen". Als Witwer macht er sich noch einmal auf zur alten Flamme, um festzustellen, dass sie erloschen ist. Ohne Affären und Scheidungen kommt bei Updike niemand durch die Jahrzehnte. Wer sollte es missbilligen? "Seine Mutter, anfänglich empört, wurde philosophisch, legte sich postmoderne Ironie zu und eine Talkshow-Toleranz, die sie während vieler Stunden vor dem Fernseher eingeübt hatte."
Einige der Geschichten verschwimmen fast ineinander - immer wieder kommen Erinnerungen an die Dreißiger-Jahre-Kindheit zur Sprache, an eine sorgengeplagte, verarmte Ein-Kind-Familie, die in Zeiten der Depression zusammenrücken musste unter dem Dach der Großeltern, dazu anrührende Erinnerungen an einen Vater, der mal Lehrer ist, mal Buchhalter oder Theologe und auf jeden Fall einen schweren Stand hat gegenüber seiner künstlerisch veranlagten Frau mit ihrer "psychologischen Hitze" und ihrem Jähzorn. In den wunderbaren, eindrucksgesättigten "Kinderszenen" wird die Topographie des großelterlichen Gartens zur kindlichen Seelenlandschaft - mit der unheimlichen, schattigen Seite, wo das Haus fensterlos ist. "Das Haus der Eichelbergers ragt bedrohlich nah auf, und Toby hat Angst, dass Mr. Eichelberger sich mal aus irgendeinem Grund auf ihn stürzt ... Dann sperren sie ihn in ihren Keller, zwischen die spinnwebigen Borde mit eingemachtem, aus den Gläsern starrendem Obst, zu den Skeletten anderer gefangener Kinder."
Unfassbar, dass man kürzlich noch ein Kind war und jetzt "nebenan vom Tod wohnt". Sanfte Mädchen haben nun Gesichter von "eulenhafter Schärfe", alte Golfkumpel sind an Herzinfarkten gestorben. Kindheit und Alter werden in den Geschichten immer wieder enggeführt. Da wird beim Klassentreffen erst einmal eine moribunde Mitschülerin im Krankenhaus besucht, bevor man beisammensitzt und erster Rendezvous gedenkt. In "Der Spaziergang mit Elizanne" dankt diese "mit dem wissenden Lachen einer modernen Vorortfrau" ihrem alten Schulfreund David Kern für die erotische Initialzündung, die er vor einem halben Jahrhundert bei ihr auslöste: "Du warst sehr wichtig für mich. Du warst der erste Junge, der mich je nach Hause begleitet hat - und mich geküsst hat." Aufgewühlt von diesem unerwarteten Bekenntnis, wälzt sich Kern nachts im Hotelbett neben seiner Frau - und bemüht sich, die entschwundenen Details jenes epochemachenden Spaziergangs zu rekonstruieren, bis am Ende die Urszene prächtiger vor ihm steht, als sie je gewesen sein mag.
Ein paar Geschichten später ist David Kern wieder zum Klassentreffen unterwegs, und wieder hat er einen Weg vergessen: Er verirrt sich auf der Fahrt vom Motel zum Veranstaltungsraum. Zu Lebzeiten ist ihm die Heimatstadt fremd und labyrinthisch geworden. Immerhin, an diesem Abend trifft er seine Kindergarten-Liebe wieder. Aber sie versteht seine Rede kaum: "Er sah, dass die Höhlung ihres zierlichen Ohrs mit einem fleischfarbenen Hörgerät gefüllt war." Gehört ihr auch die Gehhilfe am Fenster? Kern seinerseits will keine Hilfe. Seine ortansässigen Schulfreunde möchten ihm jedoch keine zweite Irrfahrt zumuten: "Du fährst hinter uns her!" Mit Wut endet die Story. "Er konnte es nicht glauben: sie leiteten ihn wie einen in der Stadt fremden Schwachkopf bis auf den Parkplatz des Alton Motor Inn."
Zu den Erfahrungen des Alters gehört die existentielle Dispersion: Die Dinge scheinen sich zu entfernen, Kontakte gehen verloren. "In einem Universum sich beschleunigender Ausdehnung" - so der Titel einer der besten Geschichten - "hatte er immer seltener das Vergnügen, Nähe zu fühlen", heißt es über Martin Fairchild, der auf einer Spanien-Reise in unverhoffte Euphorie gerät. Nicht weil ihm die Kathedralen so nahe kämen, sondern weil er Opfer eines vom Moped aus agierenden Taschendiebes wird. Endlich wieder Kontakt! Updikes Meisterschaft kann diese unwahrscheinliche Pointe plausibel machen.
Im längsten Text, "Spielarten religiöser Erfahrung", verlässt der Autor den fruchtbaren autobiographischen Boden und schreibt Rollenprosa im Auftrag der Zeitgeschichte. Auch seine Erzählkunst kann indes nicht ganz plausibel machen, welchen Mehrwert die literarische Bearbeitung des 11. September angesichts der enzyklopädischen medialen Beschäftigung mit dem Thema noch bieten soll. In einer Szene erleben wir Mohammed Atta in der Striptease-Bar, nichts als Unheil brütend: "die angejahrte Kellnerin, faltig und fett, eine Sickergrube voll geronnener Geilheit, voll ranzig gewordener amerikanischer Möglichkeiten". Diese Formulierung hat was; trotzdem wirken diese Seiten wie eine Creative-Writing-Übung: Mache das Hirn eines Terroristen mittels erlebter Rede begehbar. Geschildert werden außerdem die letzten Minuten im Leben eines Wertpapierhändlers im Nordturm sowie einer alten Dame an Bord von United Airlines 93. Und der New-York-Besucher Dan Kellogg verliert im Blick auf das qualmende Inferno seinen Glauben. Um ihn am Ende wiederzufinden, auf unverkennbare Updike-Weise: "Ihm würde die Versammlung der Gemeinde am Sonntag fehlen, der Geruch nach gewachsten Kirchenbänken und muffigen Kniekissen, die Heizkörper, die nach einer Woche kühlen Nichtgebrauchs an winterlichen Sonntagmorgen klopften, der Geschmack der nach nichts schmeckenden Oblate in seinem Mund." Solche sinnlichen Details können bei Updike kollabierende Türme aufwiegen.
Auch wenn einige der Geschichten etwas verplaudert wirken, staunt man immer wieder über subtile Formulierungen, treffende Adjektive und luzide Wahrnehmungen - noch einmal bewährt sich Updike als Sammler emphatischer und epiphanischer Augenblicke. Die Abschlussgeschichte handelt von einem Mann, der nach langer "glattzüngiger Bürotätigkeit" Spezialist für alte Holzfußböden wurde. Bei der Beschreibung seines Handwerks ist Updikes Poetik mitzulesen: "Arbeite mit dem Pinsel nicht so, dass du nicht mehr aus der Ecke herauskommst. Folge beim Streichen der Maserung, lenke deine Gedanken auf die Oberfläche . . ." Der letzte Satz in Updikes allerletzter Erzählung folgt der Maserung eines großen, menschenfreundlichen Lebenswerks: "Wenn ich die Gedanken dieses sonderbaren alten Kerls richtig lese, bringt er gerade einen Toast auf die sichtbare Welt aus, sein bevorstehendes Verschwinden aus ihr sei verdammt."
WOLFGANG SCHNEIDER
John Updike: "Die Tränen meines Vaters". Erzählungen.
Aus dem Amerikanischen von Maria Carlsson. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 367 S., geb., 19,95 [Euro].
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