Dieses Buch ist die erste anspruchsvolle Gesamtinterpretation von Bob Dylans Werk in deutscher Sprache. Richard Kleins Aufmerksamkeit gilt der Musik wie der Poesie, dem Songwriting wie der Performance. Vor allem jedoch und im Gegensatz zur bisherigen Literatur steht Dylans Stimme im Mittelpunkt: in der Vieldeutigkeit ihrer Masken und ihrer wechselvollen Geschichte von den Anfängen 1961 bis zu den Konzerten vom Herbst 2005. Neben zahlreichen auf den Gesang zentrierten Songanalysen werden Elemente einer Theorie der narrativen Stimme bei Dylan vorgestellt. Ausführlich beschäftigt sich der Band mit den frühen Jahren, insbesondere mit den politischen und ästhetischen Hintergründen, die zum Eklat von Manchester 1966 führten. Die Alben und Tourneen der siebziger Jahre werden als Zeichen einer Zeit gelesen, die mit der Notwendigkeit geschichtlicher Reflexion konfrontiert: Nostalgie bezwingen und Neuanfänge riskieren, die keine bloßen Kostümwechsel sind. Radikal innovativ ist Kleins Deutung der Gospelphase: Sie legt das Gewicht nicht auf die religiösen Texte, sondern auf die Musik, die Konzerte. Mit dem Ergebnis, daß diese Songs keineswegs, wie uns eine verkalkte Kritik einreden will, einen ideologischen Lapsus darstellen, den man vergessen sollte, sondern Dylans künstlerischen Zenit seit 1966. Weiten Raum nimmt die Interpretation des Spätwerks ein: Nicht nur werden dessen Motive bis in die frühen Jahre zurückverfolgt und der Ort des 'anderen Amerika' kritisch gesichtet. Erstmals erfahren auch die Folkalben der neunziger Jahre eine adäquate Zuwendung. Die Analysen zu Time Out Of Mind und Love And Theft kreisen beide je anders um das Spannungsverhältnis von Stimme und Geschichte. Ein großes Kapitel widmet sich der Never Ending Tour. Seine Message lautet: So faszinierend der frühe Dylan ist, der späte steht sich selbst in nichts nach.Partien zur rezeptiven Bedeutung von Dylans Musik schließen sich an. Die eine untersucht deren Ort in der lebensgeschichtlichen Beziehung von Jugend und Alter, die andere die Dialektik von Heiligenverehrung der Fans und Dylans Kampf gegen sie. Das letzte Kapitel begründet den Titel des Buches. Es zeigt, wie und warum sich Dylan der Alternative 'Pop oder Kunst' entzieht. Daß Text und Musik sich bei ihm gegenläufig zueinander verhalten. Jeder nur literarische oder nur musikalische Zugang zu seinem Werk wäre eigentlich falsch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.05.2006Unser täglich Brot sind die Botschaften des Nuschlers
Durch die Hintertür der Massenkultur: Der Musikwissenschaftler Richard Klein grüßt Adorno und ruft Bob Dylan als den Erben der Romantik aus, der erst einmal macht, was ihm gefällt
Jedes Jahr im Herbst wartet Bob Dylans Gemeinde darauf, daß ihr Idol endlich den Nobelpreis für Literatur erhält. Manch einer hätte auch gegen dessen Heiligsprechung nichts einzuwenden. Obwohl in Stockholm und Rom schon abwegigere Entscheidungen getroffen wurden, tritt Richard Klein in seiner elaborierten Analyse von Dylans Werk wie seiner prozessualen Performance nicht für eine solche Erhöhung ein. Zwar reiche Dylan ästhetisch wie intellektuell weit über die Sphäre der seichten Unterhaltung hinaus, dennoch sei es falsch und unproduktiv, ihn der Hochkultur zuzuordnen, er besetze vielmehr einen Raum zwischen Pop und Kunst. Auch sei das Literarische bei Dylan nicht ohne Schaden von der Musik, der Aufführungspraxis und einem existentiellen Konzept abzulösen.
Obwohl also Klein Dylans Wirken ausdrücklich nicht der Populärkultur entziehen will, sitzt ihm der Stachel Theodor W. Adornos im enthusiastischen Fleisch, vor allem dessen kategorische Weigerung, den Produkten der Massenkultur authentischen Ausdruck zuzuschreiben. Deshalb hat Klein nach der methodologischen Hintertür geforscht, durch die er mit den analytischen Mitteln der Kritischen Theorie in jenen Zwischenraum eintreten kann. Adorno habe sich zwar der Popkultur emphatisch verweigert, nicht aber die dialektischen Äquivalenzen zwischen autonomer und populärer Kunst geleugnet. In der Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Aufsatz über die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks habe Adorno konzediert, daß das Obere wie das Untere Elemente der Veränderung enthalten, aber gleichermaßen auch die "Wundmale des Kapitalismus" aufweisen: "beide sind die auseinandergerissenen Hälften der ganzen Freiheit, die doch aus ihnen nicht sich zusammenaddieren läßt".
Der approbierte Musiker und Musikwissenschaftler Richard Klein will gleichwohl nicht leugnen, daß Dylans Mittel kompositionsgeschichtlich abgebraucht sind und bemüht sich deshalb auch nicht um den Nachweis einer stringenten Organisation des musikalischen Verlaufs von Dylans Liedern. Vielmehr weist er die Momente der Autonomie und der Authentizität der musikalisch-poetischen Welt im Vollzug und in einem individuellen Kontinuum auf, das sich jedem von außen herangetragenen Entwicklungs- und Erwartungsschema widersetzt.
Wenn Dylan seine ästhetischen Grundsätze selbstbewußt und ohne das notorische Understatement darlegen würde, würden sie Klein zufolge etwa so klingen: "Hier ist meine Musik, und dort seid Ihr. Es gibt keine Verbrüderung zwischen uns und kein ekstatisches Einerlei. Ich spiele für Euch, und ich spiele mit Lust, selbst wenn es manchmal anders aussehen mag. Aber meine Musik ist in keinem Fall dazu da, Euch zu gefallen, zu reizen oder in Stimmung zu bringen. Schon gar nicht orientiere ich mich an dem, was Ihr hören wollt. Meine Songs haben eigene Gesetze und Wertigkeiten unabhängig von dem, was Ihr mit ihnen macht und was Euch zu ihnen einfällt."
Entsprechend zeigt Klein, daß sich Dylans Songs gegen herangetragene politische Bedeutungen sperren. In ihren performativen Vollzugsformen steter Veränderung werde das Werkprinzip in immanenter ästhetischer Selbstreflexion dementiert. In jedem Album verweigere sich Dylan aufs neue der Überbietungsdynamik des Popgeschäfts und paradoxerweise auch der reproduktionstechnische Fixierung von Zeitgestalten.
Besonders die späten Konzerte zeigten ein Gegenmodell zur Ordnung des Nacheinander. Es ginge da um nicht weniger "als um die Möglichkeit, in der präsentischen Auseinandersetzung mit den Liedern eines Lebens einen Freiraum gegenüber der Historie und ihrer Entwicklung zu behaupten. So wären vor allem Dylans späte Konzerte Anschauungsfälle der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und des Widerstands gegen die Macht des nur Gewordenen."
Nicht ganz überraschend findet Klein in Dylans Verfahrensweise eine Variation von Adornos These des Doppelcharakters der Kunst als autonom und sozial zugleich wieder. Dylan mache je neu einen Schritt zur Welt, der aber geschehe im Namen der Autonomie, einer subversiven Eigenständigkeit künstlerischen Arbeitens, die sich um keinen Trend bekümmere. Die Freisetzung von ökonomischen und organisatorischen Zwängen, die Dylan sich erarbeitet habe, nutze er dazu, das Leiden um so ungeschminkter auszusprechen. In seinen melancholischen Zeitbildern präsentiere sich Dylan als geschichtsphilosophisch reflektierter Sänger der Unwahrheit unserer Existenz. Zwar evoziere er immer wieder den Gedanken des Glücks, jeder Versuch aber, dessen Vision zu leben, erscheine unter den herrschenden Bedingungen verwirkt. Derart zeigt Klein Bob Dylan als Erben einer desillusionierten Romantik mit all jenen Widersprüchen der Individualisierung, die sich nur in der Idee der Prozessualität, des permanenten Unterwegsseins, ertragen lassen, wie sich Dylans "never ending tour" performativ ausdrückt, selbstverständlich im Wissen, daß sie einmal doch enden wird, zumindest hienieden.
Das Attraktionszentrum von Dylans Kunst aber ist Klein zufolge seine Stimme. Sie allein integriert das Widerstrebende. In der Analyse des phänomenalen Spektrums von Dylans Stimme zwischen müdem Murmeln und Nuscheln, Verschlucken von Silben, über die verschiedensten Abschattierungen des Tons bis zur funkelnden Artikulation und scharfen Deklamation macht Klein das Wechselspiel von Enthüllen und Verbergen dingfest. Dylans Stimme verbinde rhythmischen Anarchismus mit der Aufmerksamkeit für sprachlichen Sinn wie zugleich dessen Suspension durch vokale Physis. So entziehe er sich jedem direkten Zugriff auf Bedeutungszusammenhänge, auf die es gleichwohl ankomme. Jede Reprise oder Variation eines Songs vollzieht nicht einfach einen Text oder ein Werk nach, sondern gibt ihm eine neue, periphere performative Dimension.
So legt der Sänger die Dynamik des Geschichtlichen frei, er läßt divergierende Traditionsbezüge aufeinanderstoßen und erreicht so eine prozessuale Gestalt musikalischer und poetischer Befreiung, die sich für Klein rockgeschichtlich auch als Befreiung von einer ästhetischen und darum auch politischen Bewußtlosigkeit darstellt, die der Popsphäre allzu lange anhaftete. So sieht der Interpret Bruce Springsteens Diktum bestätigt, Elvis habe dem Rock den Leib gebracht, Dylan aber den Geist.
In seiner Analyse von Dylans Konzertpraxis läßt Klein die triviale medientheoretische Entgegensetzung von Einmaligkeit und Reproduktion zerschellen. Das Original des Konzerts entsteht bei Dylan erst in bezug auf die Reproduktion. Jede Variation und Neudeutung eines Songs eröffnet eine weitere Perspektive in einen Gedächtnisraum. So besteht das Werk zuletzt in all dem, was Präsenz mit Vergangenheit und Zukunft zu tun hat. Es stellt sich als Integration der Zeit dar. Daher attestiert Klein Dylan eine "ungeheure Vermittlungsleistung", Dylan erscheint geradezu als ein künstlerischer Anthropologe, der uns selbstvergessen, aber nicht notwendig selbstlos, die bedeutsamen lebensgeschichtlichen und lebenszeitlichen Differenzen aus dem Geist der Endlichkeit wie zugleich deren Überschreitung in die Wahrnehmung bringt. Die Abwehr der Idolatrie, die Dylan keineswegs kokett betreibe, aber kann gerade deshalb nicht gelingen. Je mehr Dylan von sich absehe, Distanz und Freiraum herzustellen suche, desto mehr gerate er erneut und erst recht in die Rolle des Heiligen.
In seinen detaillierten musikanalytischen und poetologischen Analysen verleiht Klein dem Satz "Dylan begleitet mein ganzes Leben" vielschichtigste Bedeutung. Mit seiner Untersuchung steht er gegen Adornos Vermutung dafür ein, daß es den intelligente und formbewußten Fan gibt, der, vom Pop ausgehend, die auseinandergerissenen Hälften der Freiheit jenseits standardisierter Wahrnehmung in Beziehung zu setzen weiß und der so dem Pop, dessen außerordentliche Einwirkung auf das moderne Bewußtsein ja niemand bestreiten will, eine Sphäre kritischer Reflexion des Verhältnisses zwischen Individuum, Gesellschaft und Geschichte erschließt.
Die Frage ist freilich, ob Kleins Buch nicht im Gegensatz zu seiner Beschreibung eines Raums des Zwischen, in den er faszinierende Blicke eröffnet, jenem Oben zugehört, einer zuletzt doch wieder elitären Sonderkultur der happy few, die sich gegenseitig ihrer Subtilität versichern. Kleins interpretatorische Mittel und auch seine Sprache vermuten das angemessene Verständnis von Dylans Songs wider die eigene Intention in einer Sphäre des Schwierigen, Ernsthaften und Kommentarbedürftigen. Für pseudomarxistische Unverständige hat Klein jedenfalls so wenig übrig wie für jene gemeinen Fans, die "jovial zu johlen beginnen, wenn Dylan wieder einmal eine deutlich erneuerte Version eines alten Songs vorzutragen" sich anschickt. Dieses Johlen gelte eben nicht dem Neuen und Dylans experimentierfreudigem Geist. "Sie bejubeln ihr eigenes Wiedererkennungsvermögen." Da ist es wieder, Adornos Diktum der "Regression des Hörens" mitsamt dem rechthaberischen Ton. Um so mehr bleibt der Geltungsanspruch von Kleins Pophermeneutik, was die Sphäre der Rezeption und die begeisterten Massen betrifft, weitgehend ungeklärt. Darüber wird auf dem ab Donnerstag dieser Woche in Frankfurt stattfindenden Dylan-Kongreß, den Richard Klein mitinitiiert hat, wohl zu reden sein.
FRIEDMAR APEL
Richard Klein: "My Name It Is Nothin'". Bob Dylan: Nicht Pop, Nicht Kunst. Lukas Verlag, Berlin 2006. 396 S., geb., 24,90 [Euro].
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Durch die Hintertür der Massenkultur: Der Musikwissenschaftler Richard Klein grüßt Adorno und ruft Bob Dylan als den Erben der Romantik aus, der erst einmal macht, was ihm gefällt
Jedes Jahr im Herbst wartet Bob Dylans Gemeinde darauf, daß ihr Idol endlich den Nobelpreis für Literatur erhält. Manch einer hätte auch gegen dessen Heiligsprechung nichts einzuwenden. Obwohl in Stockholm und Rom schon abwegigere Entscheidungen getroffen wurden, tritt Richard Klein in seiner elaborierten Analyse von Dylans Werk wie seiner prozessualen Performance nicht für eine solche Erhöhung ein. Zwar reiche Dylan ästhetisch wie intellektuell weit über die Sphäre der seichten Unterhaltung hinaus, dennoch sei es falsch und unproduktiv, ihn der Hochkultur zuzuordnen, er besetze vielmehr einen Raum zwischen Pop und Kunst. Auch sei das Literarische bei Dylan nicht ohne Schaden von der Musik, der Aufführungspraxis und einem existentiellen Konzept abzulösen.
Obwohl also Klein Dylans Wirken ausdrücklich nicht der Populärkultur entziehen will, sitzt ihm der Stachel Theodor W. Adornos im enthusiastischen Fleisch, vor allem dessen kategorische Weigerung, den Produkten der Massenkultur authentischen Ausdruck zuzuschreiben. Deshalb hat Klein nach der methodologischen Hintertür geforscht, durch die er mit den analytischen Mitteln der Kritischen Theorie in jenen Zwischenraum eintreten kann. Adorno habe sich zwar der Popkultur emphatisch verweigert, nicht aber die dialektischen Äquivalenzen zwischen autonomer und populärer Kunst geleugnet. In der Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Aufsatz über die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks habe Adorno konzediert, daß das Obere wie das Untere Elemente der Veränderung enthalten, aber gleichermaßen auch die "Wundmale des Kapitalismus" aufweisen: "beide sind die auseinandergerissenen Hälften der ganzen Freiheit, die doch aus ihnen nicht sich zusammenaddieren läßt".
Der approbierte Musiker und Musikwissenschaftler Richard Klein will gleichwohl nicht leugnen, daß Dylans Mittel kompositionsgeschichtlich abgebraucht sind und bemüht sich deshalb auch nicht um den Nachweis einer stringenten Organisation des musikalischen Verlaufs von Dylans Liedern. Vielmehr weist er die Momente der Autonomie und der Authentizität der musikalisch-poetischen Welt im Vollzug und in einem individuellen Kontinuum auf, das sich jedem von außen herangetragenen Entwicklungs- und Erwartungsschema widersetzt.
Wenn Dylan seine ästhetischen Grundsätze selbstbewußt und ohne das notorische Understatement darlegen würde, würden sie Klein zufolge etwa so klingen: "Hier ist meine Musik, und dort seid Ihr. Es gibt keine Verbrüderung zwischen uns und kein ekstatisches Einerlei. Ich spiele für Euch, und ich spiele mit Lust, selbst wenn es manchmal anders aussehen mag. Aber meine Musik ist in keinem Fall dazu da, Euch zu gefallen, zu reizen oder in Stimmung zu bringen. Schon gar nicht orientiere ich mich an dem, was Ihr hören wollt. Meine Songs haben eigene Gesetze und Wertigkeiten unabhängig von dem, was Ihr mit ihnen macht und was Euch zu ihnen einfällt."
Entsprechend zeigt Klein, daß sich Dylans Songs gegen herangetragene politische Bedeutungen sperren. In ihren performativen Vollzugsformen steter Veränderung werde das Werkprinzip in immanenter ästhetischer Selbstreflexion dementiert. In jedem Album verweigere sich Dylan aufs neue der Überbietungsdynamik des Popgeschäfts und paradoxerweise auch der reproduktionstechnische Fixierung von Zeitgestalten.
Besonders die späten Konzerte zeigten ein Gegenmodell zur Ordnung des Nacheinander. Es ginge da um nicht weniger "als um die Möglichkeit, in der präsentischen Auseinandersetzung mit den Liedern eines Lebens einen Freiraum gegenüber der Historie und ihrer Entwicklung zu behaupten. So wären vor allem Dylans späte Konzerte Anschauungsfälle der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und des Widerstands gegen die Macht des nur Gewordenen."
Nicht ganz überraschend findet Klein in Dylans Verfahrensweise eine Variation von Adornos These des Doppelcharakters der Kunst als autonom und sozial zugleich wieder. Dylan mache je neu einen Schritt zur Welt, der aber geschehe im Namen der Autonomie, einer subversiven Eigenständigkeit künstlerischen Arbeitens, die sich um keinen Trend bekümmere. Die Freisetzung von ökonomischen und organisatorischen Zwängen, die Dylan sich erarbeitet habe, nutze er dazu, das Leiden um so ungeschminkter auszusprechen. In seinen melancholischen Zeitbildern präsentiere sich Dylan als geschichtsphilosophisch reflektierter Sänger der Unwahrheit unserer Existenz. Zwar evoziere er immer wieder den Gedanken des Glücks, jeder Versuch aber, dessen Vision zu leben, erscheine unter den herrschenden Bedingungen verwirkt. Derart zeigt Klein Bob Dylan als Erben einer desillusionierten Romantik mit all jenen Widersprüchen der Individualisierung, die sich nur in der Idee der Prozessualität, des permanenten Unterwegsseins, ertragen lassen, wie sich Dylans "never ending tour" performativ ausdrückt, selbstverständlich im Wissen, daß sie einmal doch enden wird, zumindest hienieden.
Das Attraktionszentrum von Dylans Kunst aber ist Klein zufolge seine Stimme. Sie allein integriert das Widerstrebende. In der Analyse des phänomenalen Spektrums von Dylans Stimme zwischen müdem Murmeln und Nuscheln, Verschlucken von Silben, über die verschiedensten Abschattierungen des Tons bis zur funkelnden Artikulation und scharfen Deklamation macht Klein das Wechselspiel von Enthüllen und Verbergen dingfest. Dylans Stimme verbinde rhythmischen Anarchismus mit der Aufmerksamkeit für sprachlichen Sinn wie zugleich dessen Suspension durch vokale Physis. So entziehe er sich jedem direkten Zugriff auf Bedeutungszusammenhänge, auf die es gleichwohl ankomme. Jede Reprise oder Variation eines Songs vollzieht nicht einfach einen Text oder ein Werk nach, sondern gibt ihm eine neue, periphere performative Dimension.
So legt der Sänger die Dynamik des Geschichtlichen frei, er läßt divergierende Traditionsbezüge aufeinanderstoßen und erreicht so eine prozessuale Gestalt musikalischer und poetischer Befreiung, die sich für Klein rockgeschichtlich auch als Befreiung von einer ästhetischen und darum auch politischen Bewußtlosigkeit darstellt, die der Popsphäre allzu lange anhaftete. So sieht der Interpret Bruce Springsteens Diktum bestätigt, Elvis habe dem Rock den Leib gebracht, Dylan aber den Geist.
In seiner Analyse von Dylans Konzertpraxis läßt Klein die triviale medientheoretische Entgegensetzung von Einmaligkeit und Reproduktion zerschellen. Das Original des Konzerts entsteht bei Dylan erst in bezug auf die Reproduktion. Jede Variation und Neudeutung eines Songs eröffnet eine weitere Perspektive in einen Gedächtnisraum. So besteht das Werk zuletzt in all dem, was Präsenz mit Vergangenheit und Zukunft zu tun hat. Es stellt sich als Integration der Zeit dar. Daher attestiert Klein Dylan eine "ungeheure Vermittlungsleistung", Dylan erscheint geradezu als ein künstlerischer Anthropologe, der uns selbstvergessen, aber nicht notwendig selbstlos, die bedeutsamen lebensgeschichtlichen und lebenszeitlichen Differenzen aus dem Geist der Endlichkeit wie zugleich deren Überschreitung in die Wahrnehmung bringt. Die Abwehr der Idolatrie, die Dylan keineswegs kokett betreibe, aber kann gerade deshalb nicht gelingen. Je mehr Dylan von sich absehe, Distanz und Freiraum herzustellen suche, desto mehr gerate er erneut und erst recht in die Rolle des Heiligen.
In seinen detaillierten musikanalytischen und poetologischen Analysen verleiht Klein dem Satz "Dylan begleitet mein ganzes Leben" vielschichtigste Bedeutung. Mit seiner Untersuchung steht er gegen Adornos Vermutung dafür ein, daß es den intelligente und formbewußten Fan gibt, der, vom Pop ausgehend, die auseinandergerissenen Hälften der Freiheit jenseits standardisierter Wahrnehmung in Beziehung zu setzen weiß und der so dem Pop, dessen außerordentliche Einwirkung auf das moderne Bewußtsein ja niemand bestreiten will, eine Sphäre kritischer Reflexion des Verhältnisses zwischen Individuum, Gesellschaft und Geschichte erschließt.
Die Frage ist freilich, ob Kleins Buch nicht im Gegensatz zu seiner Beschreibung eines Raums des Zwischen, in den er faszinierende Blicke eröffnet, jenem Oben zugehört, einer zuletzt doch wieder elitären Sonderkultur der happy few, die sich gegenseitig ihrer Subtilität versichern. Kleins interpretatorische Mittel und auch seine Sprache vermuten das angemessene Verständnis von Dylans Songs wider die eigene Intention in einer Sphäre des Schwierigen, Ernsthaften und Kommentarbedürftigen. Für pseudomarxistische Unverständige hat Klein jedenfalls so wenig übrig wie für jene gemeinen Fans, die "jovial zu johlen beginnen, wenn Dylan wieder einmal eine deutlich erneuerte Version eines alten Songs vorzutragen" sich anschickt. Dieses Johlen gelte eben nicht dem Neuen und Dylans experimentierfreudigem Geist. "Sie bejubeln ihr eigenes Wiedererkennungsvermögen." Da ist es wieder, Adornos Diktum der "Regression des Hörens" mitsamt dem rechthaberischen Ton. Um so mehr bleibt der Geltungsanspruch von Kleins Pophermeneutik, was die Sphäre der Rezeption und die begeisterten Massen betrifft, weitgehend ungeklärt. Darüber wird auf dem ab Donnerstag dieser Woche in Frankfurt stattfindenden Dylan-Kongreß, den Richard Klein mitinitiiert hat, wohl zu reden sein.
FRIEDMAR APEL
Richard Klein: "My Name It Is Nothin'". Bob Dylan: Nicht Pop, Nicht Kunst. Lukas Verlag, Berlin 2006. 396 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Instruktiv findet Rezensent Friedmar Apel diese "elaborierte Analyse" von Bob Dylans Werk und den Auftritten, die der Musikwissenschaftler Richard Klein vorgelegt hat. Er attestiert den Analysen ein hohes Maß an Subtilität, verweist auf Kleins Orientierung an Adorno und der Kritischen Theorie, moniert mitunter aber den Ton des Autors, der ihm etwas elitär vorkommt. Ausführlich referiert Apel die einzelnen Themen, die Klein abhandelt. Er betont die Einordnung Dylans in einen Bereich zwischen Pop und Kunst, den Nachweis von Momenten der Autonomie und Authentizität in der musikalisch-poetischen Welt Dylans sowie die Analyse des breiten Spektrums von dessen Stimme.
© Perlentaucher Medien GmbH
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