In seiner fulminanten historischen Studie befreit Michel de Certeau die Mystiker der frühen Neuzeit von der Aura einer religiösen Nischenexistenz und rückt sie in die Mitte der geistig-politischen Auseinandersetzungen um die Moderne. Sie sind sensibel für die Krise der religiösen Institutionen, bemerken als erste, was sich verändert, wenn überkommene Sinnkontexte zerbrechen und die soziokulturellen Transmissionsriemen des Religiösen nicht mehr funktionieren. Mystik begründet nicht eine Geheimsprache, sondern kämpft mit den Mitteln der untergehenden Welt um deren mögliche Zukunft. Die Tradition wird zum Ruinenfeld, das es neu zu bewohnen gilt im Interesse einer wiederzugewinnenden Plausibilität. Als Figuren des Übergangs markieren Mystiker die Genealogie eines epistemologischen Bruchs: Religion und Moderne unterhalten eine schwierige, aber enge Beziehung, sie liegen nicht so weit auseinander wie oft vermutet. Certeau bietet eine genaue Analyse des historisch-literarischen Materials auf höchstem methodischem Niveau. Souverän verfügt er über linguistische, psychoanalytische und theologisch-hermeneutische Methoden und stellt vor Augen, worum es der frühneuzeitlichen Mystik geht: die Erotik des Gotteskörpers fühlbar zu machen als Spur eines untergehenden, vermißten, wiederzugewinnenden Sinnanspruchs.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.10.2011Sich von etwas Unaussagbarem verletzen lassen
So wird das Werk Michel de Certeaus von einer Geschichte der Spiritualität her verständlich: In vorzüglicher Übersetzung ist seine "Mystische Fabel" nun auch der deutschen Leserschaft zugänglich.
Michel de Certeau ist nie ganz im Pantheon der "French Theory" angekommen - als Jesuit wurde er sowohl von kirchlicher Seite als "Abtrünniger" empfunden wie auch umgekehrt vom Zeitgeist der Sechziger und Siebziger, der sich eher für Maoismus als für das Christentum interessierte, als verdächtig angesehen. Certeaus Weg in die aktuelle, vor allem kultur- und sozialwissenschaftliche Rezeption in Deutschland führt über die englischsprachigen Cultural Studies - bekannt geworden ist so in erster Linie ein Denker, der sich mit Raumpraktiken und Fragen des Alltagslebens beschäftigt, wie in "L'invention du quotidien" (ins Deutsche übersetzt unter dem unspezifischen Titel "Kunst des Handelns"). Aus dieser Rezeption bleibt aber ein anderer Aspekt komplett ausgeblendet, ohne den sein Werk im Grunde nicht verständlich ist: die Geschichte der Spritualität.
Allein schon deswegen gebührt der Initiative des Erfurter Max-Weber-Kollegs und dem Suhrkamp Verlag das große Verdienst, diesen Certeau geschlagene achtundzwanzig Jahre nach der Publikation seines Hauptwerks "La fable mystique" einer deutschen Leserschaft zugänglich gemacht zu haben. Michael Lauble hat eine genaue Übersetzung der "Mystischen Fabel" und der Certeau-Experte Daniel Bogner ein informatives Nachwort vorgelegt, das sich aber weitgehend auf eine sozialwissenschaftliche Sicht beschränkt und eines unterschlägt: dass Michel de Certeau - neben vielen anderen Dingen - auch ein höchst sensibler Textwissenschaftler war. Genau das verbindet ihn mit seinen Zeitgenossen aus dem Pantheon der "French Theory".
Auf die Gefahr einer enormen Verkürzung hin könnte man das französische Theorieumfeld Certeaus in zwei Lager einteilen, das der Positivisten und das der Unverfügbarkeitstheoretiker: Liest man nur die "Kunst des Handelns", ist man möglicherweise versucht, Michel de Certeau mit dem "anderen" Michel, das heißt mit Michel Foucault, als Positivisten zu verstehen, der gegen die Techniken der Macht die alltäglichen Praktiken und Listen im städtischen Raum setzt und bei aller Kritik an Foucault im Prinzip doch auf dem gleichen sozialen Feld operiert wie er. Aber eine solche, durch partielle Rezeptionsverläufe geförderte Sicht verkürzt Certeaus Denken um einen entscheidenden Begriff, der sich quer durch sein gesamtes Werk zieht: die Heterologie. In der Heterologie erhält etwas sprachlichen Ausdruck, das als solches generell unverfügbar ist und sich nur spurhaft in diskursiven Ordnungen realisiert. Als "Heterologe" steht Michel de Certeau dem Differenz- und Spurdenken eines Jacques Derrida, der lacanianischen Psychoanalyse und auch der Ontologiekritik eines Emmanuel Lévinas, der doch aus einer ganz anderen religiösen Tradition stammt als er, sehr viel näher als der Epistemologie Foucaults.
In der "Mystischen Fabel" untersucht Michel de Certeau das Spiel von Sprach- und Körperpraktiken, in dem sich die Heterologie vielleicht am deutlichsten zeigt, nämlich die Mystik in der Frühen Neuzeit. Certeau versteht die Mystik nicht überzeitlich, sondern als ein emergentes Phänomen, das aus der Krise der mittelalterlichen Glaubensgewissheit hervorgeht. Mit ihr bricht eine Sehnsucht nach einer unverfügbaren Alterität auf, die theologisch in der Hinwendung zu einem "corps manquant", dem unverfügbaren Leichnam Christi greifbar wird. Die Mystik, die sich überhaupt erst als Symptom einer Krise formiert, wird dabei nie zum herrschenden Diskurs, sondern schon bald von den kirchlichen Institutionen wieder marginalisiert. In dieser Marginalisierung verbreitet sich aber die mystische Heterologie nach Certeau in andere, scheinbar säkulare Konstellationen: in die Erotik, die Reiseliteratur und - das dürfte wohl bis zum heutigen Tag die provozierendste These Certeaus geblieben sein - nicht zuletzt in die Psychoanalyse: Auch sie darf als Supplement der mystischen Suche nach einem verlorenen Körper gelten, der nunmehr allerdings den Namen Phallus trägt.
Die "Mystische Fabel" entwickelt jedoch keine allgemeine Theorie der Heterologie (die Certeau im Übrigen nie geschrieben hat und die nur aus verstreuten Fragmenten seines Nachlasses zu erschließen ist), sondern eine durchaus detail- und voraussetzungsreiche historische Studie, die Exegese des Johannes vom Kreuz anhand "mystischer Phrasen" ebenso untersucht wie die Raummetapher der Burg bei Teresa von Ávila und die Wandlungen der Figur des "Wilden" als mystisches Subjekt ausgehend von einem Brief des Jesuiten Jean-Joseph Surin. Die Besonderheit aller Analysen liegt darin, dass sich Certeau in sprachspielerischer Umwidmung des Ausdrucks von der "Verkündigungsszene" (scène de l'annonciation) stets für die "Szene der sprachlichen Äußerung" (scène de l'énonciation) interessiert, die keine direkte Botschaft verkündet, sondern wortreich einen konstitutiven Mangel umkreist.
Nach Certeau ist das mystische Sprechen der Rest, der bleibt, wenn die frühneuzeitliche Gesellschaft durch eine immer leistungsfähigere Schriftkultur auf Operationalität getrimmt wird; sie ist eine Art des Sprechens, in dem, so Certeau, "das Aussagbare unablässig von etwas Unaussagbarem verletzt" wird - kein Wunder, dass das mystische Sprachspiel Affinitäten zur Literatur, vor allem zur Lyrik, aufweist. Die mystische Rede erfolgt als Selbsteinsetzung eines Sprechersubjekts und seines institutionellen Orts aus unverfügbarem Grund. Sie ist somit eine performative Geste, die von dem paradoxen Willen geprägt ist, eine letztlich unbenennbare, körperliche Erfahrung von Transzendenz zu bezeugen - das genaue Gegenteil eines selbstgewissen cartesianischen cogito.
Während die "leere" sprachliche Performanz der Mystik in der religionsgeschichtlichen Krisenzeit des sechzehnten Jahrhundert floriert, wird sie vom siebzehnten Jahrhundert an zunehmend an den Rand der kirchlichen Institution und ins Deviante, Pathologische, ins "Außen" der Wissensordnung gedrängt. Doch dies bereitet wiederum der Verbindung zwischen frühneuzeitlicher Mystik und moderner Erotik, Reiseliteratur und Psychoanalyse den Boden, mit denen sich Certeau in seinen besser bekannten Werken beschäftigt. Insofern bietet es sich auch an, die "Mystische Fabel" als fundierendes Palimpsest dessen zu lesen, was in den profanen Studien Certeaus zur Erfindung des Alltags, zur Geschichtsschreibung und zur Psychoanalyse meist unausgesprochen bleibt.
Die französische Originalausgabe der "Mystischen Fabel" enthält auf der Innenseite des Umschlags ein Detail aus Hieronymus Boschs "Garten der Lüste", das zwei Menschen in erotischer Umarmung in einer Blase zeigt, die selbst aus der Blüte einer Blume hervorzugehen scheint. Für Michel de Certeau verdichtet sich in dieser Blase der Rückzugsraum der "mystischen Fabel", ein utopischer Raum des Taktilen und der Mündlichkeit, die dem direkten interpretatorischen Zugriff entzogen ist. Es ist schade, dass diese Abbildung in der deutschen Übersetzung fehlt, denn die "Mystische Fabel" ist nicht die einzige Studie Certeaus, das sich gleichsam als Bildkommentar entfaltet und damit auch als Buch in gewisser Weise das Prinzip der Heterologie realisiert: Die Schrift wird zum Kommentar einer bildlich dargestellten Szene, der der Text von vornherein äußerlich bleiben muss. Certeaus Lektüre des "Gartens der Lüste" ist zentral für sein Verständnis der Mystik als entzogener Raum jenseits positiver Wissensordnungen. Im Zusammenhang damit ist es aufschlussreich, wie anders im deutschsprachigen Raum ein anderer Raum-Denker, nämlich Peter Sloterdijk, die Blase der Liebenden verstanden hat, wenn er im ersten Band seines Sphären-Projekts genau anhand dieses Details aus dem "Garten der Lüste" seine Theorie der autogenen Gefäße entwirft: Bei Sloterdijk mündet das Leben in einer Blase letztlich in die These von der unvermeidbaren "Selbstklimatisierung" menschlicher Atmosphären - die Existential-Anthropologie vertreibt somit die Heterologie.
Wie die Relektüre dieses Details zeigt, scheint die Deutungshoheit über die Blasen aktuell eher den positivistischen Anthropotechnikern zu gehören als den Heterologen oder Melancholikern einer verlorenen Präsenz. Was immer man gegen Certeaus radikales Heterologiedenken einwenden kann, ist die am Beispiel der Mystik veranschaulichte Heterologie doch das Konzept, das seine bleibende Bedeutung markiert: Gegenüber der Konjunktur der Präsenztechniker kann man mit ihm, wenn nicht eine bestimmte Glaubensüberzeugung, so doch die grundlegende Denkfigur eines ursprünglichen Entzugs verteidigen, der kulturelle Praktiken allererst ermöglicht und sie stets nur im Zeichen eines Ursprungs beziehungsweise eines Ziels operieren lässt, die nicht auf einen bestimmten Begriff gebracht werden können.
JÖRG DÜNNE
Michel de Certeau: "Mystische Fabel".
Aus dem Französischen von Michael Lauble. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 542 S., geb., 32,- [Euro].
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So wird das Werk Michel de Certeaus von einer Geschichte der Spiritualität her verständlich: In vorzüglicher Übersetzung ist seine "Mystische Fabel" nun auch der deutschen Leserschaft zugänglich.
Michel de Certeau ist nie ganz im Pantheon der "French Theory" angekommen - als Jesuit wurde er sowohl von kirchlicher Seite als "Abtrünniger" empfunden wie auch umgekehrt vom Zeitgeist der Sechziger und Siebziger, der sich eher für Maoismus als für das Christentum interessierte, als verdächtig angesehen. Certeaus Weg in die aktuelle, vor allem kultur- und sozialwissenschaftliche Rezeption in Deutschland führt über die englischsprachigen Cultural Studies - bekannt geworden ist so in erster Linie ein Denker, der sich mit Raumpraktiken und Fragen des Alltagslebens beschäftigt, wie in "L'invention du quotidien" (ins Deutsche übersetzt unter dem unspezifischen Titel "Kunst des Handelns"). Aus dieser Rezeption bleibt aber ein anderer Aspekt komplett ausgeblendet, ohne den sein Werk im Grunde nicht verständlich ist: die Geschichte der Spritualität.
Allein schon deswegen gebührt der Initiative des Erfurter Max-Weber-Kollegs und dem Suhrkamp Verlag das große Verdienst, diesen Certeau geschlagene achtundzwanzig Jahre nach der Publikation seines Hauptwerks "La fable mystique" einer deutschen Leserschaft zugänglich gemacht zu haben. Michael Lauble hat eine genaue Übersetzung der "Mystischen Fabel" und der Certeau-Experte Daniel Bogner ein informatives Nachwort vorgelegt, das sich aber weitgehend auf eine sozialwissenschaftliche Sicht beschränkt und eines unterschlägt: dass Michel de Certeau - neben vielen anderen Dingen - auch ein höchst sensibler Textwissenschaftler war. Genau das verbindet ihn mit seinen Zeitgenossen aus dem Pantheon der "French Theory".
Auf die Gefahr einer enormen Verkürzung hin könnte man das französische Theorieumfeld Certeaus in zwei Lager einteilen, das der Positivisten und das der Unverfügbarkeitstheoretiker: Liest man nur die "Kunst des Handelns", ist man möglicherweise versucht, Michel de Certeau mit dem "anderen" Michel, das heißt mit Michel Foucault, als Positivisten zu verstehen, der gegen die Techniken der Macht die alltäglichen Praktiken und Listen im städtischen Raum setzt und bei aller Kritik an Foucault im Prinzip doch auf dem gleichen sozialen Feld operiert wie er. Aber eine solche, durch partielle Rezeptionsverläufe geförderte Sicht verkürzt Certeaus Denken um einen entscheidenden Begriff, der sich quer durch sein gesamtes Werk zieht: die Heterologie. In der Heterologie erhält etwas sprachlichen Ausdruck, das als solches generell unverfügbar ist und sich nur spurhaft in diskursiven Ordnungen realisiert. Als "Heterologe" steht Michel de Certeau dem Differenz- und Spurdenken eines Jacques Derrida, der lacanianischen Psychoanalyse und auch der Ontologiekritik eines Emmanuel Lévinas, der doch aus einer ganz anderen religiösen Tradition stammt als er, sehr viel näher als der Epistemologie Foucaults.
In der "Mystischen Fabel" untersucht Michel de Certeau das Spiel von Sprach- und Körperpraktiken, in dem sich die Heterologie vielleicht am deutlichsten zeigt, nämlich die Mystik in der Frühen Neuzeit. Certeau versteht die Mystik nicht überzeitlich, sondern als ein emergentes Phänomen, das aus der Krise der mittelalterlichen Glaubensgewissheit hervorgeht. Mit ihr bricht eine Sehnsucht nach einer unverfügbaren Alterität auf, die theologisch in der Hinwendung zu einem "corps manquant", dem unverfügbaren Leichnam Christi greifbar wird. Die Mystik, die sich überhaupt erst als Symptom einer Krise formiert, wird dabei nie zum herrschenden Diskurs, sondern schon bald von den kirchlichen Institutionen wieder marginalisiert. In dieser Marginalisierung verbreitet sich aber die mystische Heterologie nach Certeau in andere, scheinbar säkulare Konstellationen: in die Erotik, die Reiseliteratur und - das dürfte wohl bis zum heutigen Tag die provozierendste These Certeaus geblieben sein - nicht zuletzt in die Psychoanalyse: Auch sie darf als Supplement der mystischen Suche nach einem verlorenen Körper gelten, der nunmehr allerdings den Namen Phallus trägt.
Die "Mystische Fabel" entwickelt jedoch keine allgemeine Theorie der Heterologie (die Certeau im Übrigen nie geschrieben hat und die nur aus verstreuten Fragmenten seines Nachlasses zu erschließen ist), sondern eine durchaus detail- und voraussetzungsreiche historische Studie, die Exegese des Johannes vom Kreuz anhand "mystischer Phrasen" ebenso untersucht wie die Raummetapher der Burg bei Teresa von Ávila und die Wandlungen der Figur des "Wilden" als mystisches Subjekt ausgehend von einem Brief des Jesuiten Jean-Joseph Surin. Die Besonderheit aller Analysen liegt darin, dass sich Certeau in sprachspielerischer Umwidmung des Ausdrucks von der "Verkündigungsszene" (scène de l'annonciation) stets für die "Szene der sprachlichen Äußerung" (scène de l'énonciation) interessiert, die keine direkte Botschaft verkündet, sondern wortreich einen konstitutiven Mangel umkreist.
Nach Certeau ist das mystische Sprechen der Rest, der bleibt, wenn die frühneuzeitliche Gesellschaft durch eine immer leistungsfähigere Schriftkultur auf Operationalität getrimmt wird; sie ist eine Art des Sprechens, in dem, so Certeau, "das Aussagbare unablässig von etwas Unaussagbarem verletzt" wird - kein Wunder, dass das mystische Sprachspiel Affinitäten zur Literatur, vor allem zur Lyrik, aufweist. Die mystische Rede erfolgt als Selbsteinsetzung eines Sprechersubjekts und seines institutionellen Orts aus unverfügbarem Grund. Sie ist somit eine performative Geste, die von dem paradoxen Willen geprägt ist, eine letztlich unbenennbare, körperliche Erfahrung von Transzendenz zu bezeugen - das genaue Gegenteil eines selbstgewissen cartesianischen cogito.
Während die "leere" sprachliche Performanz der Mystik in der religionsgeschichtlichen Krisenzeit des sechzehnten Jahrhundert floriert, wird sie vom siebzehnten Jahrhundert an zunehmend an den Rand der kirchlichen Institution und ins Deviante, Pathologische, ins "Außen" der Wissensordnung gedrängt. Doch dies bereitet wiederum der Verbindung zwischen frühneuzeitlicher Mystik und moderner Erotik, Reiseliteratur und Psychoanalyse den Boden, mit denen sich Certeau in seinen besser bekannten Werken beschäftigt. Insofern bietet es sich auch an, die "Mystische Fabel" als fundierendes Palimpsest dessen zu lesen, was in den profanen Studien Certeaus zur Erfindung des Alltags, zur Geschichtsschreibung und zur Psychoanalyse meist unausgesprochen bleibt.
Die französische Originalausgabe der "Mystischen Fabel" enthält auf der Innenseite des Umschlags ein Detail aus Hieronymus Boschs "Garten der Lüste", das zwei Menschen in erotischer Umarmung in einer Blase zeigt, die selbst aus der Blüte einer Blume hervorzugehen scheint. Für Michel de Certeau verdichtet sich in dieser Blase der Rückzugsraum der "mystischen Fabel", ein utopischer Raum des Taktilen und der Mündlichkeit, die dem direkten interpretatorischen Zugriff entzogen ist. Es ist schade, dass diese Abbildung in der deutschen Übersetzung fehlt, denn die "Mystische Fabel" ist nicht die einzige Studie Certeaus, das sich gleichsam als Bildkommentar entfaltet und damit auch als Buch in gewisser Weise das Prinzip der Heterologie realisiert: Die Schrift wird zum Kommentar einer bildlich dargestellten Szene, der der Text von vornherein äußerlich bleiben muss. Certeaus Lektüre des "Gartens der Lüste" ist zentral für sein Verständnis der Mystik als entzogener Raum jenseits positiver Wissensordnungen. Im Zusammenhang damit ist es aufschlussreich, wie anders im deutschsprachigen Raum ein anderer Raum-Denker, nämlich Peter Sloterdijk, die Blase der Liebenden verstanden hat, wenn er im ersten Band seines Sphären-Projekts genau anhand dieses Details aus dem "Garten der Lüste" seine Theorie der autogenen Gefäße entwirft: Bei Sloterdijk mündet das Leben in einer Blase letztlich in die These von der unvermeidbaren "Selbstklimatisierung" menschlicher Atmosphären - die Existential-Anthropologie vertreibt somit die Heterologie.
Wie die Relektüre dieses Details zeigt, scheint die Deutungshoheit über die Blasen aktuell eher den positivistischen Anthropotechnikern zu gehören als den Heterologen oder Melancholikern einer verlorenen Präsenz. Was immer man gegen Certeaus radikales Heterologiedenken einwenden kann, ist die am Beispiel der Mystik veranschaulichte Heterologie doch das Konzept, das seine bleibende Bedeutung markiert: Gegenüber der Konjunktur der Präsenztechniker kann man mit ihm, wenn nicht eine bestimmte Glaubensüberzeugung, so doch die grundlegende Denkfigur eines ursprünglichen Entzugs verteidigen, der kulturelle Praktiken allererst ermöglicht und sie stets nur im Zeichen eines Ursprungs beziehungsweise eines Ziels operieren lässt, die nicht auf einen bestimmten Begriff gebracht werden können.
JÖRG DÜNNE
Michel de Certeau: "Mystische Fabel".
Aus dem Französischen von Michael Lauble. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 542 S., geb., 32,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Michel de Certeau lesen? Gern, aber nur mit poststrukturalistischer Rüstung, meint Barbara Stollberg-Rillinger. Ob der Autor selber dem mystischen Schreiben fröhnt, wer weiß. Der Rezensentin erscheint es manchmal so, auch weil ihr Certeaus metaphernselige Sprache in der Übersetzung eher dunkel und hölzern im Ohr klingt. Obgleich die Rezensentin das Buch als Einführung in die Mystik also nicht empfehlen kann, als Einstieg in Certeau eignet es sich. Laut Stollberg-Rillinger begegnet der Autor einem nicht als Historiker, sondern als Hermeneutiker, wenn er die großen Mystiker des 16. und 17. Jahrhunderts behandelt, denen der Glauben abhanden kam und die sich eine eigene Wahrheit schufen im Sprechen einer Sprache, die nur auf sich selbst verweist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»So wird das Werk Michel de Certeaus von seiner Geschichte der Spiritualität her verständlich: In vorzüglicher Übersetzung ist seine Mystische Fabel nun auch der deutschen Leserschaft zugänglich.« Jörg Dünne Frankfurter Allgemeine Zeitung 20111031