Die Implosion des Gesellschafts-und politischen Systems in der ehemaligen DDR gibt den Sozialwissenschaften eine Reihe von Fragen auf, die nicht allein durch die Analyse des politischen Systems, der Effizienz der ökono mischen Ordnung oder der machtpolitischen Einbindungen erklärt werden können. Konstellationen zwischen Zusammenbruch des Systems und politi scher Kultur und Psychologie sind ebenso wichtig für die Untersuchung politischer Entwicklungen in der DDR wie die vorangegangenen Gesichts punkte. Gerade in gesellschaftlichen Umbruchsituationen spielen Wertvor stellungen, Gefühle und Wahrnehmungen für die Erklärung politischen Verhaltens eine außerordentlich große Rolle. Ich gehe davon aus, dass ge sellschaftliche Wandlungsprozesse nicht nur durch berechenbare Kosten Nutzen-Verhältnisse unterlegt sind, sondern dass sich jahrzehntelang zu rückgehaltene und nach außen verschlossen gehaltene Einstellungen und Empfindungen, die bei den einzelnen irgendwann entstanden, sich aufeinander zu bewegen und schließlich in den Strom des gemeinsamen Handeins münden, einen ebenso großen Einfluss auf die Entwicklung der politischen Gemeinschaft haben. "Politische Werte, Gefühle und Meinungen -heißt es bei Gabriel Almond - sind weder bloße Reflexe sozialer und politischer Strukturen, noch sind sie reduzierbar auf rationelle Entscheidungen von Individuen. Die politischen Inhalte in den Köpfen von Bürgern und Eliten sind komplexer, langlebiger und autonomer als Marxismus, Liberalismus und rational choice Theorie glauben machen wollen. "] In der vorliegenden Publikation wird nun die Absicht verfolgt, der Ent stehung, der Festigung, dem Wandel und schließlich dem Verfall von politi schen Meinungen, Einstellungen und Verhalten in der DDR auf dieSpur zu kommen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.02.2002Arbeit am Mythos
Der DDR-Antifaschismus ebnete der Volksgemeinschaft den Weg auf die Siegerseite
Raina Zimmering: Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen. Verlag Leske + Budrich, Opladen 2000. 385 Seiten, 32,90 Euro.
Karin Hartewig: Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2000. 646 Seiten, 50,- Euro.
Norbert Podewin: Albert Norden. Der Rabinersohn im Politbüro - Stationen eines ungewöhnlichen Lebens. edition ost, Berlin 2001. 437 Seiten, 16,- Euro (derzeit nicht lieferbar).
Simone Hannemann: Robert Havemann und die Widerstandsgruppe "Europäische Union". Eine Darstellung der Ereignisse und deren Interpretation nach 1945. Schriftenreihe der Robert-Havemann-Gesellschaft, Berlin 2001. 188 Seiten, 8,- Euro.
Die landläufige Meinung ordnete lange Zeit den Mythos, dem etwas Irrationales anhafte, der Rechten und die rationale Aufklärung der Linken zu. Raina Zimmering widerspricht dieser Auffassung und untersucht die Ideologie des SED-Staates als Mythenerzählung. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß die SED-Herrschaft trotz aller Suche nach dem Urgrund ihrer staatlichen Sonderexistenz am Ende kein "DDR-Volk" hervorgebracht hat. "Es existierte lediglich die Zuweisung eines Staates an ein Teilvolk durch die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg" und ein "Kunstmythos", der nie volkseigen wurde. Die Autorin analysiert das anhand von drei zentralen Selbstlegitimationen des SED-Regimes: dem antifaschistischen "Gründungsmythos der DDR", der Beanspruchung von Bauernkriegen und Reformation als Vorgeschichte der DDR sowie dem Preußenmythos, der sich vom anfänglichen Negativbild zum Element der Identitätsstiftung gewandelt hat.
Der eigentliche Ursprungsmythos des Regimes aber, der Kommunismus, bleibt ausgespart. Das ist erstaunlich, weil die unerschütterliche Überzeugung und der missionarische Eifer, mit dem die Gründerväter der DDR zu Werke gingen, doch hier ihre Wurzeln hatten. Der kommunistischen Funktionärselite war von Anfang an klar, daß die "antifaschistisch-demokratische Ordnung" in die Diktatur des Proletariats münden würde. Im nachholenden Kampf gegen den "Hitler-Faschismus" und die westlichen Monopole konnte die Mehrheitsbevölkerung auf die Siegerseite wechseln und in die spezifische Widerstandsgeschichte der kommunistischen Minderheit integriert werden, damit die Zukunft auch ihre passende Vergangenheit habe.
Auch die jüdischen Überlebenden hatten sich rasch und ohne viel Aufhebens in die neue antifaschistisch-sozialistische Volksgemeinschaft einzufügen. Karin Hartewig vollzieht in ihrer fast enzyklopädischen Untersuchung diesen Teilaspekt der DDR-Geschichte nach. Dabei geht es der Autorin sowohl um das Schicksal der religiösen Juden in der zweiten Diktatur als auch um die aus dem Exil zurückgekehrten oder aus den Konzentrationslagern befreiten Kommunisten jüdischer Herkunft. Ihre Integration in die SED vollzog sich in aller Stille. Die Kaderabteilung wußte Bescheid, gegenüber der Öffentlichkeit wurden "Andeutungen über ihre jüdische Herkunft und die Verfolgung ihrer Familien jedoch streng vermieden". Albert Norden, SED-Politbüromitglied und Rabbinersohn, schrieb 1959 an Arnold Zweig, die Hervorkehrung jüdischen Selbstbewußtseins, die Forderung nach einem offenen Bekenntnis zum Judentum sei historisch überholt und könne "uns heute in die Position desjenigen bringen, der wider Willen Wasser auf die antisemitischen Mühlen gießt".
Für die SED war der nationalsozialistische Antisemitismus ein nachrangiges Phänomen. Karin Hartewig spricht von einer "Marginalisierung der jüdischen Opfer gegenüber den antifaschistischen Widerstandskämpfern". Der Judenmord wurde "als Nebenschauplatz der nationalsozialistischen Verfolgungspraxis betrachtet". Trotz vereinzelter Versuche, diese SED-Geschichtspolitik mit Gegenerzählungen zu konterkarieren, blieb der "Antifaschismus ohne Juden" bis in die achtziger Jahre das dominante und offizielle Geschichtsbild der SED.
Erst als sich die Honecker-Führung aus wirtschaftlichen Erwägungen gegenüber den Vereinigten Staaten bereit fand, "materielle Wiedergutmachung für jüdische Opfer im Tausch für politische Anerkennung und Prestige" anzubieten, kam es kurz vor dem Ende der DDR zum symbolischen Umschwung, der in der Gedenkveranstaltung zum fünfzigsten Jahrestag der "Reichskristallnacht" und dem Wiederaufbau der jüdischen Synagoge in der Oranienburger Straße gipfelte. Die jüdischen Gemeinden in der DDR hatten zu diesem Zeitpunkt noch gerade einmal vierhundert Mitglieder. Karin Hartewig betrachtet zu Beginn ihrer Darstellung mehrere exemplarische Biographien von SED-Funktionären aus jüdischen Elternhäusern und nähert sich mit kritischer Distanz den Brüchen und Kontinuitäten dieser ebenso komplizierten wie aufwühlenden Lebenswege durch das 20. Jahrhundert.
Auf geradezu entgegengesetzte Weise nimmt sich Norbert Podewin einer ungewöhnlichen Biographie an. Der oben zitierte SED-Funktionär Albert Norden gerät in Podewins Darstellung als "Rabbinersohn im Politbüro" zum linken Gutmenschen. "Ein politisch wie multikulturell überzeugender Sendbote seiner von gleichberechtigter Mitwirkung in der weltweiten Staatengemeinschaft lange Zeit ferngehaltenen Republik" soll er gewesen sein und schon in den zwanziger Jahren ein mäßigender Kritiker Ernst Thälmanns. Tatsächlich gehörte Norden in der Weimarer Republik zum linksradikalen Straßenkampfflügel der KPD, radikaler als Thälmann noch, stalinistisch und verblendet.
Norden rechtfertigte 1930 in seinen "militärpolitischen" Texten die Erschießung sozialdemokratischer Polizeioffiziere als notwendige Vorbereitungsübung des Jungproletariats auf den Bürgerkrieg. Zu DDR-Zeiten forderte er Berliner Grenzsoldaten zum Schußwaffengebrauch auf. "Ihr schießt also nicht auf Bruder und Schwester, wenn ihr mit der Waffe Grenzverletzer zum Halten bringt", erklärte Norden 1963 vor DDR-Grenzern. "Wie kann der euer Bruder sein, der die Republik verläßt, der die Macht des Volkes verrät, der die Macht des Volkes antastet. Auch der ist nicht unser Bruder, der zum Feind desertieren will. Verrätern gegenüber menschliche Gnade zu üben, heißt unmenschlich am ganzen Volk zu handeln." Der Biograph Podewin gehörte just in dieser Zeit zu den jungen Nachwuchsfunktionären in der von Norden geleiteten Propagandabteilung gegen die Bundesrepublik. Podewin zeichnet das Bild seines verstorbenen Lehrmeisters mit altem Eifer, ohne Selbstzweifel und ohne kritischen Blick in den seit langem im Bundesarchiv zugänglichen Nachlaß Albert Nordens.
Ein Fülle neuer Erkenntnisse fördert hingegen Simone Hannemanns Studie über Robert Havemann und die "Europäische Union" zutage. Der DDR-Staatssicherheitsdienst hielt bis zum Ende des SED-Regimes die Ermittlungsakten der Gestapo gegen die Widerstandsorganisation, der Havemann angehört hatte, unter Verschluß. Lange Zeit hofften die Staatssicherheitsoffiziere, den Regimekritiker Havemann mit Hilfe dieser Akten des Verrats an seinen Genossen überführen zu können.
"Wir stehen am Vorabend des Zusammenbruchs des europäischen Faschismus", lautete die erste These eines Manifestes, das vier junge Akademiker am 15. Juli 1943 in einer Berliner Dachgeschoßwohnung niederschrieben. Trotz härtester politischer Repression sei es dem Nationalsozialismus nicht gelungen, "die alten und ewigen freiheitlichen Ideen, die in Europa in den großen Revolutionen geboren wurden", auszulöschen. "Die Zukunft von morgen wird ein geeintes sozialistisches Europa sein."
Verfaßt haben dieses Manifest der Internist und Privatdozent Dr. Georg Groscurth, der Assistent am Pharmakologischen Institut der Berliner Universität Dr. Robert Havemann, der Dentist Paul Rentsch und der Architekt Herbert Richter. Ihre Widerstandsgruppe, die "Europäische Union", verfügte unter den in Berlin und Umgebung eingesetzten ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen über ein weitverzweigtes Kontakt- und Informationsnetz. Es sollte der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes gegen die nationalsozialistische Diktatur dienen. Außerdem half die Gruppe im Untergrund lebenden Juden, indem sie ihnen falsche Personalpapiere besorgte.
Der "Europäischen Union" gehörten neben dem oben erwähnten Kreis um Havemann zahlreiche ausländische Verbindungsleute an. Nachdem die Organisation 1943 von der Gestapo aufgerollt wurde, fällte der Volksgerichtshof vierzehn Todesurteile und zahlreiche langjährige Haftstrafen. Unter den Hingerichteten befanden sich der tschechische Jurist Paul Hatschek mit Frau Elli und Tochter Krista, der tschechische Chemiker Konstantin Zadkevicz, die französischen Elektrotechniker Wladimir Boisselier und Jean Cochon, der sowjetische Techniker Nikolai Sawitsch Romanenko sowie die sowjetische Lagerärztin Galina Fedrowna Romanowa. Robert Havemann, der in der Todeszelle mit kriegswichtigen Forschungsarbeiten befaßt war, und der Arzt Heinz Schlag - "wegen Tuberkulose nicht hinrichtungsfähig" - überlebten.
Die DDR-Geschichtsschreibung rückte diese Widerstandsorganisation nicht zuletzt deswegen aus dem Blickfeld, weil sie dem "antifaschistischen Geschichtsbild" widersprach, nach dem die KPD den Widerstand in Deutschland geleitet habe. Darüber hinaus stand die Programmatik der "Europäischen Union" im Widerspruch zur Europapolitik des Ostblocks. Und schließlich galt der politische Kopf dieser Organisation, Robert Havemann, auch in der zweiten deutschen Diktatur seit Mitte der sechziger Jahre als Staatsfeind.
Zudem enthielt das Progamm der "Europäischen Union" vieles Weitere, was mit den DDR-Dogmen unvereinbar war. Im Flugblatt Nr. 35 der Widerstandsorganisation hieß es über den künftigen europäischen Sozialismus, dieser bedeute nicht "Ausrottung der Bourgeoisie, Aufhebung des privaten Eigentums und Errichtung einer blutigen Diktatur dogmatischer Marxisten", sondern "Ausschaltung privater Interessen aus Politik und Wirtschaft" und "Befreiung des Individuums von wirtschaftlicher Bevormundung". Das Flugblatt endet mit einem Bekenntnis zu den Vereinigten Staaten von Europa und der Vorhersage, daß die von Hitler nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter aus ganz Europa zu Trägern des revolutionären Aufstandes gegen den Nationalsozialismus würden.
Von der deutschen Bevölkerung, die in ihrer Mehrheit den Nationalsozialismus unterstützte oder sich mit dem Regime arrangiert hatte, erwarteten sich Havemann und seine Freunde nicht viel. Auch in dieser Hinsicht war die Geschichte der "Europäischen Union" mit den Legenden des SED-Antifaschismus unvereinbar. Simone Hannemann legt nach einigen Vorarbeiten des Robert-Havemann-Archivs nun die erste umfassende historische Darstellung über die weitgehend unbekannte Widerstandsorganisation vor, der neben Robert Havemann zeitweise auch der spätere Verleger Helmut Kindler angehörte. Es hat über ein halbes Jahrhundert gedauert, bis schließlich alle Namen und Schicksale der ausländischen und deutschen Widerstandskämpfer aus der "Europäischen Union" bekannt wurden. Ihr Einsatz für Freiheit und Menschenrechte hat in den Gedenkstätten der Bundesrepublik bislang noch keine angemessene Würdigung erfahren.
JOCHEN STAADT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der DDR-Antifaschismus ebnete der Volksgemeinschaft den Weg auf die Siegerseite
Raina Zimmering: Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen. Verlag Leske + Budrich, Opladen 2000. 385 Seiten, 32,90 Euro.
Karin Hartewig: Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2000. 646 Seiten, 50,- Euro.
Norbert Podewin: Albert Norden. Der Rabinersohn im Politbüro - Stationen eines ungewöhnlichen Lebens. edition ost, Berlin 2001. 437 Seiten, 16,- Euro (derzeit nicht lieferbar).
Simone Hannemann: Robert Havemann und die Widerstandsgruppe "Europäische Union". Eine Darstellung der Ereignisse und deren Interpretation nach 1945. Schriftenreihe der Robert-Havemann-Gesellschaft, Berlin 2001. 188 Seiten, 8,- Euro.
Die landläufige Meinung ordnete lange Zeit den Mythos, dem etwas Irrationales anhafte, der Rechten und die rationale Aufklärung der Linken zu. Raina Zimmering widerspricht dieser Auffassung und untersucht die Ideologie des SED-Staates als Mythenerzählung. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß die SED-Herrschaft trotz aller Suche nach dem Urgrund ihrer staatlichen Sonderexistenz am Ende kein "DDR-Volk" hervorgebracht hat. "Es existierte lediglich die Zuweisung eines Staates an ein Teilvolk durch die Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg" und ein "Kunstmythos", der nie volkseigen wurde. Die Autorin analysiert das anhand von drei zentralen Selbstlegitimationen des SED-Regimes: dem antifaschistischen "Gründungsmythos der DDR", der Beanspruchung von Bauernkriegen und Reformation als Vorgeschichte der DDR sowie dem Preußenmythos, der sich vom anfänglichen Negativbild zum Element der Identitätsstiftung gewandelt hat.
Der eigentliche Ursprungsmythos des Regimes aber, der Kommunismus, bleibt ausgespart. Das ist erstaunlich, weil die unerschütterliche Überzeugung und der missionarische Eifer, mit dem die Gründerväter der DDR zu Werke gingen, doch hier ihre Wurzeln hatten. Der kommunistischen Funktionärselite war von Anfang an klar, daß die "antifaschistisch-demokratische Ordnung" in die Diktatur des Proletariats münden würde. Im nachholenden Kampf gegen den "Hitler-Faschismus" und die westlichen Monopole konnte die Mehrheitsbevölkerung auf die Siegerseite wechseln und in die spezifische Widerstandsgeschichte der kommunistischen Minderheit integriert werden, damit die Zukunft auch ihre passende Vergangenheit habe.
Auch die jüdischen Überlebenden hatten sich rasch und ohne viel Aufhebens in die neue antifaschistisch-sozialistische Volksgemeinschaft einzufügen. Karin Hartewig vollzieht in ihrer fast enzyklopädischen Untersuchung diesen Teilaspekt der DDR-Geschichte nach. Dabei geht es der Autorin sowohl um das Schicksal der religiösen Juden in der zweiten Diktatur als auch um die aus dem Exil zurückgekehrten oder aus den Konzentrationslagern befreiten Kommunisten jüdischer Herkunft. Ihre Integration in die SED vollzog sich in aller Stille. Die Kaderabteilung wußte Bescheid, gegenüber der Öffentlichkeit wurden "Andeutungen über ihre jüdische Herkunft und die Verfolgung ihrer Familien jedoch streng vermieden". Albert Norden, SED-Politbüromitglied und Rabbinersohn, schrieb 1959 an Arnold Zweig, die Hervorkehrung jüdischen Selbstbewußtseins, die Forderung nach einem offenen Bekenntnis zum Judentum sei historisch überholt und könne "uns heute in die Position desjenigen bringen, der wider Willen Wasser auf die antisemitischen Mühlen gießt".
Für die SED war der nationalsozialistische Antisemitismus ein nachrangiges Phänomen. Karin Hartewig spricht von einer "Marginalisierung der jüdischen Opfer gegenüber den antifaschistischen Widerstandskämpfern". Der Judenmord wurde "als Nebenschauplatz der nationalsozialistischen Verfolgungspraxis betrachtet". Trotz vereinzelter Versuche, diese SED-Geschichtspolitik mit Gegenerzählungen zu konterkarieren, blieb der "Antifaschismus ohne Juden" bis in die achtziger Jahre das dominante und offizielle Geschichtsbild der SED.
Erst als sich die Honecker-Führung aus wirtschaftlichen Erwägungen gegenüber den Vereinigten Staaten bereit fand, "materielle Wiedergutmachung für jüdische Opfer im Tausch für politische Anerkennung und Prestige" anzubieten, kam es kurz vor dem Ende der DDR zum symbolischen Umschwung, der in der Gedenkveranstaltung zum fünfzigsten Jahrestag der "Reichskristallnacht" und dem Wiederaufbau der jüdischen Synagoge in der Oranienburger Straße gipfelte. Die jüdischen Gemeinden in der DDR hatten zu diesem Zeitpunkt noch gerade einmal vierhundert Mitglieder. Karin Hartewig betrachtet zu Beginn ihrer Darstellung mehrere exemplarische Biographien von SED-Funktionären aus jüdischen Elternhäusern und nähert sich mit kritischer Distanz den Brüchen und Kontinuitäten dieser ebenso komplizierten wie aufwühlenden Lebenswege durch das 20. Jahrhundert.
Auf geradezu entgegengesetzte Weise nimmt sich Norbert Podewin einer ungewöhnlichen Biographie an. Der oben zitierte SED-Funktionär Albert Norden gerät in Podewins Darstellung als "Rabbinersohn im Politbüro" zum linken Gutmenschen. "Ein politisch wie multikulturell überzeugender Sendbote seiner von gleichberechtigter Mitwirkung in der weltweiten Staatengemeinschaft lange Zeit ferngehaltenen Republik" soll er gewesen sein und schon in den zwanziger Jahren ein mäßigender Kritiker Ernst Thälmanns. Tatsächlich gehörte Norden in der Weimarer Republik zum linksradikalen Straßenkampfflügel der KPD, radikaler als Thälmann noch, stalinistisch und verblendet.
Norden rechtfertigte 1930 in seinen "militärpolitischen" Texten die Erschießung sozialdemokratischer Polizeioffiziere als notwendige Vorbereitungsübung des Jungproletariats auf den Bürgerkrieg. Zu DDR-Zeiten forderte er Berliner Grenzsoldaten zum Schußwaffengebrauch auf. "Ihr schießt also nicht auf Bruder und Schwester, wenn ihr mit der Waffe Grenzverletzer zum Halten bringt", erklärte Norden 1963 vor DDR-Grenzern. "Wie kann der euer Bruder sein, der die Republik verläßt, der die Macht des Volkes verrät, der die Macht des Volkes antastet. Auch der ist nicht unser Bruder, der zum Feind desertieren will. Verrätern gegenüber menschliche Gnade zu üben, heißt unmenschlich am ganzen Volk zu handeln." Der Biograph Podewin gehörte just in dieser Zeit zu den jungen Nachwuchsfunktionären in der von Norden geleiteten Propagandabteilung gegen die Bundesrepublik. Podewin zeichnet das Bild seines verstorbenen Lehrmeisters mit altem Eifer, ohne Selbstzweifel und ohne kritischen Blick in den seit langem im Bundesarchiv zugänglichen Nachlaß Albert Nordens.
Ein Fülle neuer Erkenntnisse fördert hingegen Simone Hannemanns Studie über Robert Havemann und die "Europäische Union" zutage. Der DDR-Staatssicherheitsdienst hielt bis zum Ende des SED-Regimes die Ermittlungsakten der Gestapo gegen die Widerstandsorganisation, der Havemann angehört hatte, unter Verschluß. Lange Zeit hofften die Staatssicherheitsoffiziere, den Regimekritiker Havemann mit Hilfe dieser Akten des Verrats an seinen Genossen überführen zu können.
"Wir stehen am Vorabend des Zusammenbruchs des europäischen Faschismus", lautete die erste These eines Manifestes, das vier junge Akademiker am 15. Juli 1943 in einer Berliner Dachgeschoßwohnung niederschrieben. Trotz härtester politischer Repression sei es dem Nationalsozialismus nicht gelungen, "die alten und ewigen freiheitlichen Ideen, die in Europa in den großen Revolutionen geboren wurden", auszulöschen. "Die Zukunft von morgen wird ein geeintes sozialistisches Europa sein."
Verfaßt haben dieses Manifest der Internist und Privatdozent Dr. Georg Groscurth, der Assistent am Pharmakologischen Institut der Berliner Universität Dr. Robert Havemann, der Dentist Paul Rentsch und der Architekt Herbert Richter. Ihre Widerstandsgruppe, die "Europäische Union", verfügte unter den in Berlin und Umgebung eingesetzten ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen über ein weitverzweigtes Kontakt- und Informationsnetz. Es sollte der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes gegen die nationalsozialistische Diktatur dienen. Außerdem half die Gruppe im Untergrund lebenden Juden, indem sie ihnen falsche Personalpapiere besorgte.
Der "Europäischen Union" gehörten neben dem oben erwähnten Kreis um Havemann zahlreiche ausländische Verbindungsleute an. Nachdem die Organisation 1943 von der Gestapo aufgerollt wurde, fällte der Volksgerichtshof vierzehn Todesurteile und zahlreiche langjährige Haftstrafen. Unter den Hingerichteten befanden sich der tschechische Jurist Paul Hatschek mit Frau Elli und Tochter Krista, der tschechische Chemiker Konstantin Zadkevicz, die französischen Elektrotechniker Wladimir Boisselier und Jean Cochon, der sowjetische Techniker Nikolai Sawitsch Romanenko sowie die sowjetische Lagerärztin Galina Fedrowna Romanowa. Robert Havemann, der in der Todeszelle mit kriegswichtigen Forschungsarbeiten befaßt war, und der Arzt Heinz Schlag - "wegen Tuberkulose nicht hinrichtungsfähig" - überlebten.
Die DDR-Geschichtsschreibung rückte diese Widerstandsorganisation nicht zuletzt deswegen aus dem Blickfeld, weil sie dem "antifaschistischen Geschichtsbild" widersprach, nach dem die KPD den Widerstand in Deutschland geleitet habe. Darüber hinaus stand die Programmatik der "Europäischen Union" im Widerspruch zur Europapolitik des Ostblocks. Und schließlich galt der politische Kopf dieser Organisation, Robert Havemann, auch in der zweiten deutschen Diktatur seit Mitte der sechziger Jahre als Staatsfeind.
Zudem enthielt das Progamm der "Europäischen Union" vieles Weitere, was mit den DDR-Dogmen unvereinbar war. Im Flugblatt Nr. 35 der Widerstandsorganisation hieß es über den künftigen europäischen Sozialismus, dieser bedeute nicht "Ausrottung der Bourgeoisie, Aufhebung des privaten Eigentums und Errichtung einer blutigen Diktatur dogmatischer Marxisten", sondern "Ausschaltung privater Interessen aus Politik und Wirtschaft" und "Befreiung des Individuums von wirtschaftlicher Bevormundung". Das Flugblatt endet mit einem Bekenntnis zu den Vereinigten Staaten von Europa und der Vorhersage, daß die von Hitler nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter aus ganz Europa zu Trägern des revolutionären Aufstandes gegen den Nationalsozialismus würden.
Von der deutschen Bevölkerung, die in ihrer Mehrheit den Nationalsozialismus unterstützte oder sich mit dem Regime arrangiert hatte, erwarteten sich Havemann und seine Freunde nicht viel. Auch in dieser Hinsicht war die Geschichte der "Europäischen Union" mit den Legenden des SED-Antifaschismus unvereinbar. Simone Hannemann legt nach einigen Vorarbeiten des Robert-Havemann-Archivs nun die erste umfassende historische Darstellung über die weitgehend unbekannte Widerstandsorganisation vor, der neben Robert Havemann zeitweise auch der spätere Verleger Helmut Kindler angehörte. Es hat über ein halbes Jahrhundert gedauert, bis schließlich alle Namen und Schicksale der ausländischen und deutschen Widerstandskämpfer aus der "Europäischen Union" bekannt wurden. Ihr Einsatz für Freiheit und Menschenrechte hat in den Gedenkstätten der Bundesrepublik bislang noch keine angemessene Würdigung erfahren.
JOCHEN STAADT
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dass die DDR mit ihren eigenen Mythen nicht sorgfältig genug umgegangen ist, so Susanna Katzorke, ist These und Ergebnis dieser Studie. Dabei beklagt die Autorin und Lehrbeauftragte an der Humboldt-Universität Berlin nicht etwa das Vorhandensein überhaupt von politischen Mythen, sondern sieht sie vielmehr als zur Politik sui generis gehörig, schreibt Katzorke. So gilt ihre Aufmerksaamkeit vor allem der inneren Konsistenz bzw. Inkonsistenz, die sie am Beispiel des antifaschistischen, anti-preußischen Gründungssmythos der DDR exemplifiziert. Als dessen Bindungskraft nachließ, wurde zur nationalen Identifikation plötzlich preußisch-aufklärerische Größe als positive Erbmasse angeboten. Einen ähnlichen Kurswechsel hatte man auch in Bezug auf Luther schon einmal vorgenommen: erst "verachtungswürdiger Gegenspieler Thomas Müntzers", dann "anbetungswürdige Kultfigur". Und weil die öffentliche Diskussion hierzu nicht Stellung beziehen durfte, was aber "unabdingbares Korrektiv zum Funktionieren politischer Mythen" sei, referiert Katzorke, haben solche Identitätsbehauptungen schließlich gänzlich an Wirkung verloren. Die Besprechung von Susanne Katzorke ist leider nur eine Art zustimmendes Referat und enthält keinerlei Hinweise auf besondere Qualitäten oder Mängel des Buches.
© Perlentaucher Medien GmbH
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