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1975 legte der amerikanische Fotograf Joel-Peter Witkin an der University of New Mexico eine M.A. Thesis vor, die den Titel "Revolt against the Mystical" trägt. Dieser obskure und zugleich faszinierende Text - Autobiographie, Hagiographie, ein Sammelsurium von Anekdoten - bildet den Ausgangspunkt für eine Reihe von Erkundungen in die Mythen- und Diskursgeschichte der Fotografie. Untersucht werden in vier Kapiteln: die Geschichte der Retusche zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit; der Konflikt zwischen apparatischem Medium und Signaturprinzip, das Konkurrenzverhältnis zwischen der frühen…mehr

Produktbeschreibung
1975 legte der amerikanische Fotograf Joel-Peter Witkin an der University of New Mexico eine M.A. Thesis vor, die den Titel "Revolt against the Mystical" trägt. Dieser obskure und zugleich faszinierende Text - Autobiographie, Hagiographie, ein Sammelsurium von Anekdoten - bildet den Ausgangspunkt für eine Reihe von Erkundungen in die Mythen- und Diskursgeschichte der Fotografie. Untersucht werden in vier Kapiteln: die Geschichte der Retusche zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit; der Konflikt zwischen apparatischem Medium und Signaturprinzip, das Konkurrenzverhältnis zwischen der frühen Fotografie und der Malerei; die Experimente und Spekulationen um eine Fotografie des Unsichtbaren; die Rezeption der ersten Fotos des Grabtuchs von Turin und schließlich das mythische Dispositiv vom mortifizierenden Blick der Medusa. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den fototheoretischen Debatten des 19. Jahrhunderts, in denen sich jene Erwartungen, Konzeptionen und Vorbehalte ausbildeten, die noch in den einhundert Jahre später entstandenen Aufzeichnungen des Fotografen Witkin virulent sind.
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Autorenporträt
Stefanie Diekmann, Medien- und Theaterwissenschaftlerin. Gastprofessuren u.a. in Potsdam, Berlin und Frankfurt/Oder. Publikationen über intermediale Konstellationen: Kino und Theater, Film und Fotografie, Theaterfotografie, Comics.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.07.2004

Die Legende vom Fotokünstler
Es braust der Entwickler, es dampft das Fixierbad: Stefanie Diekmann donnert die Geschichte der Fotografie mythologisch auf
Mythen sind Erzählungen von Göttern und Menschen aus uralter Zeit, die von Generation zu Generation weitergegeben, dabei umerzählt und modernisiert werden, so dass sie resistent gegen das Vergessen ihren Ort im Zentrum einer Kultur behalten. Ursprünglich wurden sie mündlich tradiert, bis man sie aufzeichnete, schriftlich oder bildlich weitererzählte. Stefanie Diekmann entdeckt nun in einem kleinen Text des Fotografen Joel Peter Witkin, „Revolt against the Mystical” (1976), Mythologeme eines Mediums, der Fotografie, das in seiner erst gut 150 Jahre währenden Geschichte wiederum uralte Mythen vom Leben der Bilder und der Künstler als ihren Schöpfern verbreitet.
Es geht also um eine Mythologie als Gegenstück zu einer Theorie der Fotografie, ein viel versprechender Ansatz. In vier Kapiteln will die Autorin durch das Dickicht der Bildermythen führen, trägt eine eindrucksvolle Menge überwiegend schriftlichen Materials zusammen, das sie, wie die Mythen selbst, zuweilen sprunghaft und assoziativ aneinander reiht und kommentiert.
Es beginnt mit den Motiven für die Entstehung der 15-seitigen Autobiographie des Protagonisten Witkin, die auf viel ältere Künstlerlegenden rekurriert. Diekmann spürt die Versatzstücke auf, die die Vita des Künstlers durchziehen: die Bestimmung eines Lebens für die Kunst, dieVoraussetzunglosigkeit der eigenen Kunst, also ihre Originalität, das Initialstadium in einem ersten traumatischen Erlebnis von Gewalt, Schmerz und Tod des jungen Künstlers, das zur Kunst führt etc. Große Ernsthaftigkeit und Anteilnahme am eigenen Schicksal, Pathos und der Anspruch, eine wahre Lebensgeschichte zu erzählen, sind der Duktus dieser Vita. Die Initien, ein tragischer Autounfall eines Mädchens, dessen Kopf dem sechsjährigen Witkin vor die Füße rollte, stellt sich im Nachhinein als eine erfundene Geschichte heraus, die nicht, wie Diekmann meint, eine story too good to be true ist, sondern Legitimation für ein Werk, dessen Größe und Bedeutung sich in einem fatalen Ereignis ankündigt.
Das Kapitel „Die Markierungen” nimmt den Bericht von der Entstehung des Fotos „Los Angeles Death” zum Anlass, um über das Motiv der versehrten Bilder und den graphischen Ursprung der Fotografie nachzudenken. In eine Bildserie, die dezidiert keine Menschen aufnehmen sollte, hatte sich eine Passantin eingeschlichen, die den fotografischen Akt beobachtet haben konnte. Diese unwillkommene Zeugenschaft führte dazu, dass Witkin die Frau „blind machte”, indem er ihr das Gesicht auf dem Negativ mit einer Nadel zerkratzte. Diekmann sieht diesen Akt einer Blendung in effigie und andere handwerklichen Eingriffe ins Foto im Kontext von Retuschen, des fragilen Bildträgers Papier und der Anfänge der Geschichte der Fototechnik, als die Bemalung der Fotos noch die Funktion der Belebung und künstlerischen Aufwertung hatte.
Nur wenig Mythologisches schimmert hier zunächst durch, eher zeigt eine apparative Bildaufzeichnungstechnik ihre eigenen Grenzen und Mängel auf, die der handwerklich-künstlerischer Intervention bedarf. Doch Witkin geht es wie vielen anderen Fotografen auch um den Eingriff in die „Natur” des fotografischen Bildes, dessen physikalisch-chemische Genese nicht dem Zufall überlassen werden durfte.
Museen sind wohl die Orte, an dem sich die Bildermythen entfalten, jedenfalls ereignete sich die Entdeckung des 17-jährigen Fotografen im Museum of Modern Art, und zwar plötzlich. Kein geringerer als Edward Steichen wählte damals ein Witkin-Dia für eine Ausstellung mit dem Titel „Great Photographs” aus. Diekmann referiert ein beliebtes Thema, die Relation von Malerei und Fotografie, eine nicht enden wollende Rivalität, die den Eingeweihten allerdings kaum neue Einsichten bietet. Auch Witkin muss Geld verdienen und lebt in zwei Welten, einer, die ihm die Existenz sichert, und in einer anderen, seiner Kunst - und der Kunst der großen Künstler, die ihm das Bildmaterial liefern.
Im Kuriositätenkabinett
Immer wieder geht es in dem Buch um Bilder, deren Reproduktionen man im nämlichen Buch vergeblich sucht. Die Autorin befleißigt sich geradezu einer Bildaskese, was im Missverhältnis zu dem überbordenden Material aus der jüngeren Kunst- und Kulturgeschichte steht, die sie zitiert. Von Witkins appropriativem Bildverfahren, das sich der Kunstgeschichte bedient, ist es nur ein kurzer Weg zu Malraux’ imaginärem Museum, und von dort geht es schnell noch zu Benjamins Reproduktions-Aufsatz, um Witkins Fotografien als dessen „Gegenprogramm” zu apostrophieren. Irgendwie scheint alles mit allem komparabel, auch wenn die Bezüge nicht immer passen.
Regelrecht mythologisch wird es dann im letzten Kapitel, denn auch der Protagonist Witkin glaubt an die magischen Fähigkeiten seines Mediums: Es geht um die Fotografie eines Rabbiners, der von sich sagt, er habe Gott gesehen. Mit dem Foto verband sich die surreale Hoffnung, dass Gott durch den chemischen Entwicklungsprozess sichtbar werde, Anlass genug, um über spiritistische Fotografie zu handeln und die unglaubliche Geschichte des Secondo Pia nachzuerzählen, dem es gelang, mit Hilfe seiner Fotografie das Antlitz Christi auf dem Turiner Grabtuch sichtbar zu machen. Diekmann kennt das Material, arrangiert es neu und fasst es zusammen: Hier wird offenbar, was dem Buch fehlt, eine klar umrissene Fragestellung und ein hermeneutisches Instrumentarium. Stattdessen wird die Geschichte der Fotografie als ein Kuriositätenkabinett dargeboten, eine Ansammlung zuweilen lächerlicher Vorfälle, die inmitten einer Welt stattfanden, die sich selbst modern nannte. Wie es zu diesem Irrglauben kommen konnte, macht das Buch nicht deutlich, da die eine Erzählung, wie dies im Mythos eben ist, auf die nächste antwortet.
CHRISTIANE KRUSE
STEFANIE DIEKMANN: Mythologien der Fotografie. Abriss zur Diskursgeschichte eines Mediums. Fink Verlag, München 2003. 244 S., 32, 90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die Mythologie "als Gegenstück zu einer Theorie der Fotografie" zu betrachten", ist für die Rezensentin Christiane Kruse der viel versprechende Ansatz dieser Dissertation von Stefanie Diekmann. Ausgehend von einer autobiografischen Schrift des Fotografen Joel Peter Witkin schlage sich Diekmann durch das "Dickicht der Bildermythen", durch die Mythen- und Diskursgeschichte der Fotografie. Dafür trage sie eine eindrucksvolle Menge Material zusammen, zahlreiche Geschichten aus der noch jungen Geschichte der Fotografie, eine "Ansammlung zuweilen lächerlicher Vorfälle", Kuriositäten, "die inmitten einer Welt stattfanden, die sich selbst modern nannte". Doch der Rezensentin, deren Kritik man leider schlecht folgen kann, ist nicht deutlich geworden, wie es zu diesem Irrglauben kommen konnte. Sie sieht eher eine Erzählung auf die andere folgen - "wie dies im Mythos eben ist". Was der Rezensentin fehlt, sind "eine klar umrissene Fragestellung und ein hermeneutisches Instrumentarium".

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