Heiner Müller gehört zu den wenigen Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, die sich nachhaltig mit der Gattung der Tragödie auseinandergesetzt haben. Zwar erklärte man ihn seit den 70er Jahren immer wieder zum Tragiker und seine Dramen zu Tragödien, keine literaturwissenschaftliche Untersuchung aber hat bislang versucht, seine Poetik der Tragödie nachzuzeichnen. Das Buch entwickelt Müllers Tragödienprojekt in Theorie (Philoktet-Brief, Ajax zum Beispiel) und Praxis (Philoktet, Ödipus Tyrann, Germania 3). Sie antwortet auf die Frage, wie Müller unterschiedliche tragödientheoretische Einflüsse (etwa Hölderlin, Hegel, Nietzsche und Carl Schmitt) mit einem durchgängigen Rückbezug auf die griechische Tragödie verbindet. Unter der geschichtsphilosophischen These, daß in den Tragödien epochale Umbruchssituationen reflektiert werden, (re)konstruiert Müller ethisch-politische Konflikte, deren Lösungen noch in der Gegenwart nachwirken (Selektionsdenken statt Gattungsbewußtsein; Ablösung der Theorie von der gesellschaftlichen Praxis). Dabei ist seine Poetik der Tragödie selbst in einem hohen Maß zeitverhaftet: führt er doch in den 90er Jahren eine Reihe von kultur- und zivilisationskritischen Argumenten dafür an, daß es einem bürgerlichen Publikum an Sinn für Tragik mangelt.