Der Schatz der Marienlieder ist voll romantischen Zaubers, aber der Zauber will auch verstanden sein. Hermann Kurzke und Christiane Schäfer zeigen an den Entstehungs-, Fassungs- und Wirkungsgeschichten von zwölf großen Liedern die Wandlungen des Mythos Maria vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Singen ist mythosnäher als Sprechen. Die Epen der Völker wurden in einem festlichen Singsang vorgetragen. Der Mythos singt. Anstatt in Andacht versunken mitzusingen, wird in diesem Buch der Mythos philologisch zergliedert und auf seine Techniken befragt. Wenn ein Marienlied im 17. oder frühen 18. Jahrhundert als Wallfahrtslied entsteht, auf Liedflugblättern durch die Lande getragen wird, in Gesangbücher gerät, unter dem normativen Druck der Aufklärung aus ihnen wieder entfernt wird, untergeht, im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der Romantik aufersteht, in Volksliedanthologien weiterlebt, von Liederbüchern der Jugendbewegung für besinnliche Stunden vorgesehen wird, im 20. Jahrhundert dann ein zweites Mal in den Kirchengesang eingespeist wird, das alles unter stetem Fassungswandel, wenn dann Bischofskonferenzen 1916, 1947, 1975 und 2013 jeweils andere Fassungen zu "Einheitsliedern" erklären - dann sieht man, was "Tradition" wirklich bedeutet. Es wird nicht ein Glaube von Generation zu Generation weitergegeben,sondern da ist ein Wandel. Diesen Wandel beschreibt das Buch an vielen Beispielen als "Arbeit am Mythos".
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.10.2014KURZKRITIK
Meersternreime
Marienlieder unter der
literaturwissenschaftlichen Lupe
Dutzendweise haben sie Gebetfibeln ausgeschlachtet und Liedersammlungen, den Zupfgeigenhansl ebenso wie ein katholisches Gesangbuch namens „Psälterlein“. Denn die Literaturwissenschaftler Christiane Schäfer und Hermann Kurzke haben Marienlieder erst ge- und dann untersucht. Ihre mühselige Arbeit ist in ein Büchlein mit dem dafür etwas zu geschwollenen Titel „Mythos Maria“ geflossen. Er verspricht zu viel: die Autoren beschreiben lediglich „Berühmte Marienlieder und ihre Geschichte“ und blicken dabei über ihren engen philologischen Horizont kaum hinaus. Wer Aufschluss über den Marienkult und seine bizarren Auswüchse sucht, wird bei Kirchenhistorikern mehr erfahren.
Immerhin bieten Schäfer und Kurzke einige interessante Beobachtungen. Die Marienverehrer der Barockzeit zum Beispiel hatten noch ein wesentlich entspannteres Verhältnis zur Sexualität als heute. Die Gottesmutter solle vor ihren göttlichen Sohn treten, heißt es in einem Lied, und dem Flehen um Gnade für die Menschheit Nachdruck verleihen: „Zeig ihm deine Bruste / die er offt mit Luste / in seins Lebens friste / gesogen hat.“ Bekannt ist dieses Bild auch aus der Malerei auf Bildern der Lactatio des Heiligen Bernhard von Clairvaux, bei der Maria den Ordensgründer mit ihrer Brustmilch aufpäppelt. Dieses Motiv blenden die Autoren aber ebenso aus wie die kirchenpolitische Dimension Marias. Hat sich nicht gerade das Dogma der unbefleckten Empfängnis, Mitte des 19. Jahrhunderts von Pius IX. erhoben, nachhaltig auf Marienglauben und -liedgut ausgewirkt? Heutzutage reimen Madonnen-Anhängern neue Texte in Internet-Schwarmdichtungen, denn für ihre Wallfahrten brauchen sie lange Lieder. Beim Lied „Segne du Maria“ haben Kurzke und Schäfer stattliche 14 Strophen gezählt. Die Lust kommt nicht mehr vor.
RUDOLF NEUMAIER
Hermann Kurzke, Christiane Schäfer: Mythos Maria. Berühmte Marienlieder und ihre Geschichte. Verlag C.H. Beck, München 2014. 303 S., 24,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Meersternreime
Marienlieder unter der
literaturwissenschaftlichen Lupe
Dutzendweise haben sie Gebetfibeln ausgeschlachtet und Liedersammlungen, den Zupfgeigenhansl ebenso wie ein katholisches Gesangbuch namens „Psälterlein“. Denn die Literaturwissenschaftler Christiane Schäfer und Hermann Kurzke haben Marienlieder erst ge- und dann untersucht. Ihre mühselige Arbeit ist in ein Büchlein mit dem dafür etwas zu geschwollenen Titel „Mythos Maria“ geflossen. Er verspricht zu viel: die Autoren beschreiben lediglich „Berühmte Marienlieder und ihre Geschichte“ und blicken dabei über ihren engen philologischen Horizont kaum hinaus. Wer Aufschluss über den Marienkult und seine bizarren Auswüchse sucht, wird bei Kirchenhistorikern mehr erfahren.
Immerhin bieten Schäfer und Kurzke einige interessante Beobachtungen. Die Marienverehrer der Barockzeit zum Beispiel hatten noch ein wesentlich entspannteres Verhältnis zur Sexualität als heute. Die Gottesmutter solle vor ihren göttlichen Sohn treten, heißt es in einem Lied, und dem Flehen um Gnade für die Menschheit Nachdruck verleihen: „Zeig ihm deine Bruste / die er offt mit Luste / in seins Lebens friste / gesogen hat.“ Bekannt ist dieses Bild auch aus der Malerei auf Bildern der Lactatio des Heiligen Bernhard von Clairvaux, bei der Maria den Ordensgründer mit ihrer Brustmilch aufpäppelt. Dieses Motiv blenden die Autoren aber ebenso aus wie die kirchenpolitische Dimension Marias. Hat sich nicht gerade das Dogma der unbefleckten Empfängnis, Mitte des 19. Jahrhunderts von Pius IX. erhoben, nachhaltig auf Marienglauben und -liedgut ausgewirkt? Heutzutage reimen Madonnen-Anhängern neue Texte in Internet-Schwarmdichtungen, denn für ihre Wallfahrten brauchen sie lange Lieder. Beim Lied „Segne du Maria“ haben Kurzke und Schäfer stattliche 14 Strophen gezählt. Die Lust kommt nicht mehr vor.
RUDOLF NEUMAIER
Hermann Kurzke, Christiane Schäfer: Mythos Maria. Berühmte Marienlieder und ihre Geschichte. Verlag C.H. Beck, München 2014. 303 S., 24,95 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.01.2015Kann Gott sich verlieben?
Der Mythos der Gottesmutter hat in der Musikgeschichte tiefe Spuren hinterlassen: Hermann Kurzke und Christiane Schäfer analysieren berühmte geistliche Marienlieder - aber warum tun sie das so polemisch?
Sie wurde geliebt, verehrt, um Schutz und Hilfe angefleht. Maria, die heilige Jungfrau und Muttergottes, ist ein bemerkenswertes Phänomen des Christentums, dabei nicht ganz unproblematisch für die Theologie. Die Autoren des vorliegenden Buches schreiben: "Maria gehört zum mythischen Personal des katholischen Glaubens." Damit deuten sie schon an, dass sie sich mehr mit ausschmückenden Bildern und Sehnsuchtsprojektionen befassen als mit Bibelauslegung - Maria als "Mythos" ist eben viel größer als die Maria der Evangelien.
Sie wurde auch immer wieder besungen. Monteverdis großes Chorwerk "Marienvesper" von 1610 stellt ein bedeutsames Ereignis der Musikgeschichte dar. Die Reihe der Vertonungen von "Stabat mater dolorosa" scheint nicht abzureißen; der Schmerz Marias beim Sterben Jesu beschäftigte Komponisten von Palestrina bis Pergolesi, von Schubert bis Rihm. Daneben existieren viele Arten schlichteren musikalischen Ausdrucks, auch Kitsch ist nicht fern. Das "Ave Maria", das Charles Gounod im neunzehnten Jahrhundert improvisationshalber auf ein Präludium von Bach aufsattelte, wäre wohl nicht so populär geworden, hätte es nicht als Adressatin Maria.
Und dann gibt es noch die Marienlieder, bei Andachten oder Wallfahrten gesungen. Nur von ihnen, und auch nur von deutschsprachigen, handelt das Buch "Mythos Maria". Hermann Kurzke und Christiane Schäfer haben zwölf Lieder ausgewählt, die sie auf ihre Entstehungsgeschichte, ihren Gehalt und ihre Wirkung hin untersuchen. Mit dem auch evangelischen Christen vertrauten "Maria durch ein Dornwald ging" beginnen sie.
Der katholische Freiherr, Nationalökonom und "Hobbyhymnologe" August von Haxthausen publizierte es 1850 in dem Buch "Geistliche Volkslieder mit ihren ursprünglichen Weisen gesammelt aus mündlicher Tradition und seltenen Gesangbüchern", ein Projekt, bei dem auch die Brüder Grimm und Annette von Droste-Hülshoff mithalfen. Die vermeintliche Altertümlichkeit des Liedes schreiben Kurzke und Schäfer dem gewollten Ausdruck einer romantischen Ästhetik zu: "Aus vorgefundenen Elementen aus dem Eichsfeld wurde ein raffiniert-naives Kunstlied gemacht." Es könnte ein Wallfahrts- oder Ansingelied gewesen sein, bei dem ein Vorsänger die Strophen übernahm, die anderen Pilger die Kehrverse "Kyrie eleison" und "Jesus und Maria".
Die Überlieferung der Lieder ist lückenhaft, das vermittelt sich beim Lesen nur zu gut, wenn man den Autoren auf den Spuren verschiedener regionaler Gesang- und Gebetbücher durch sechs Jahrhunderte folgt. Bei Melodien ist es oft noch schwieriger, sie sind "erinnerungsstabiler" und wurden deshalb seltener notiert. Vielversprechend scheint zunächst der Ansatz, von der musikalischen Machart auf die Entstehungszeit zu schließen. Aber was genau Ton- und Taktarten aussagen können, ob es Tendenzen, vielleicht auch in Verbindung mit inhaltlichen Topoi (Wiegenlied, Schmerzenslied, Freudenlied und so weiter) gibt, darüber geben die Autoren keine Auskunft.
Das böhmische "Ave Maria zart, / du edler Rosengart" von 1675 ist ein schönes Beispiel barocker Lyrik; das singende Ich identifiziert sich mit dem Engel der Verkündigung: "Ich grüße dich zur Stund / mit Gabrielis Mund / Ave die du bist voller Gnaden." In der Überlieferung erfährt das Lied einschneidende Textbearbeitungen: Aus dem Vers "Jesum das liebe Kind" wurde das abstraktere "den Heiland Jesus Christ", aus "Evae Apfel-Biß" wird "Sündenfall", von den Autoren als "Theologenslang" gegeißelt. Der im heutigen katholischen Kirchengesangbuch "Gotteslob" abgedruckte Text ist jedenfalls sprachlich geglättet.
Zu Recht weisen sie auf den daktylischen Charakter der Verse hin, ein Ergebnis vor allem der soghaften musikalischen Faktur mit ihren Punktierungen. Doch auch hier ist die musikalische Analyse nicht verlässlich, denn statt zu Taktwechseln, wie behauptet, kommt es nur zu Betonungsverschiebungen, wie sie auch die barocke Tanzmusik kennt. Das wirkt sich freilich unmittelbar auf den gesungenen Text aus, und möglicherweise erklären sich die Bearbeitungsversuche auch aus der Spannung zwischen textlichem und musikalischem Rhythmus.
"Diese Lieder wurden gebraucht" oder "Maria hilft aushalten" heißt es überraschend persönlich im Nachwort. Woher kommt dann das Unbehagen der Autoren gegenüber den Glaubensaussagen, die in den Marienliedern, wie unbeholfen auch immer, stecken? In den Liedanalysen greifen sie immer wieder zu Polemik. Leiden sie unter einer schwärmerischen, dichterisch anspruchslosen Marienverehrung? In dem Lied "Die Schönste von allen" singen die Verse: "an ihrer Gestalt all Schönheit beisammen, Gott selbst wohlgefallt", und Kurzke und Schäfer spotten: "Auch Gott kann sich verlieben, warum nicht?"
Abgesehen davon, dass der Topos der Schönheit in der Marienverehrung durch die Jahrhunderte hindurch eine große Rolle spielte, fragt man sich, warum sie sich über das Lied lustig machen oder über Gottes Wohlgefallen an dieser Frau. Wenn "wohl gefallen" etwas mit "Wohlgefallen" zu tun hat, so greift die Liedzeile einen grundlegenden Gedanken der Geschichte vom Umgang Gottes mit den Menschen auf, der sich vom Alten Testament über die Evangelien bis hinein in die kirchliche Liturgie zieht.
Selbstverständlich kann man gegen jede irreführende oder dem Kitsch frönende Marienverehrung anschreiben. Aber man sollte als Autor sein eigenes Unbehagen klar vor Augen haben und formulieren. Diese Ernsthaftigkeit haben auch die Leser verdient und alle, die etwas erfahren wollen über die Kultur und Mythen der Religion.
ANJA-ROSA THÖMING.
Hermann Kurzke und Christiane Schäfer: "Mythos Maria". Berühmte Marienlieder und ihre Geschichte. Verlag C. H. Beck, München 2014. 303 S., 108 Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Mythos der Gottesmutter hat in der Musikgeschichte tiefe Spuren hinterlassen: Hermann Kurzke und Christiane Schäfer analysieren berühmte geistliche Marienlieder - aber warum tun sie das so polemisch?
Sie wurde geliebt, verehrt, um Schutz und Hilfe angefleht. Maria, die heilige Jungfrau und Muttergottes, ist ein bemerkenswertes Phänomen des Christentums, dabei nicht ganz unproblematisch für die Theologie. Die Autoren des vorliegenden Buches schreiben: "Maria gehört zum mythischen Personal des katholischen Glaubens." Damit deuten sie schon an, dass sie sich mehr mit ausschmückenden Bildern und Sehnsuchtsprojektionen befassen als mit Bibelauslegung - Maria als "Mythos" ist eben viel größer als die Maria der Evangelien.
Sie wurde auch immer wieder besungen. Monteverdis großes Chorwerk "Marienvesper" von 1610 stellt ein bedeutsames Ereignis der Musikgeschichte dar. Die Reihe der Vertonungen von "Stabat mater dolorosa" scheint nicht abzureißen; der Schmerz Marias beim Sterben Jesu beschäftigte Komponisten von Palestrina bis Pergolesi, von Schubert bis Rihm. Daneben existieren viele Arten schlichteren musikalischen Ausdrucks, auch Kitsch ist nicht fern. Das "Ave Maria", das Charles Gounod im neunzehnten Jahrhundert improvisationshalber auf ein Präludium von Bach aufsattelte, wäre wohl nicht so populär geworden, hätte es nicht als Adressatin Maria.
Und dann gibt es noch die Marienlieder, bei Andachten oder Wallfahrten gesungen. Nur von ihnen, und auch nur von deutschsprachigen, handelt das Buch "Mythos Maria". Hermann Kurzke und Christiane Schäfer haben zwölf Lieder ausgewählt, die sie auf ihre Entstehungsgeschichte, ihren Gehalt und ihre Wirkung hin untersuchen. Mit dem auch evangelischen Christen vertrauten "Maria durch ein Dornwald ging" beginnen sie.
Der katholische Freiherr, Nationalökonom und "Hobbyhymnologe" August von Haxthausen publizierte es 1850 in dem Buch "Geistliche Volkslieder mit ihren ursprünglichen Weisen gesammelt aus mündlicher Tradition und seltenen Gesangbüchern", ein Projekt, bei dem auch die Brüder Grimm und Annette von Droste-Hülshoff mithalfen. Die vermeintliche Altertümlichkeit des Liedes schreiben Kurzke und Schäfer dem gewollten Ausdruck einer romantischen Ästhetik zu: "Aus vorgefundenen Elementen aus dem Eichsfeld wurde ein raffiniert-naives Kunstlied gemacht." Es könnte ein Wallfahrts- oder Ansingelied gewesen sein, bei dem ein Vorsänger die Strophen übernahm, die anderen Pilger die Kehrverse "Kyrie eleison" und "Jesus und Maria".
Die Überlieferung der Lieder ist lückenhaft, das vermittelt sich beim Lesen nur zu gut, wenn man den Autoren auf den Spuren verschiedener regionaler Gesang- und Gebetbücher durch sechs Jahrhunderte folgt. Bei Melodien ist es oft noch schwieriger, sie sind "erinnerungsstabiler" und wurden deshalb seltener notiert. Vielversprechend scheint zunächst der Ansatz, von der musikalischen Machart auf die Entstehungszeit zu schließen. Aber was genau Ton- und Taktarten aussagen können, ob es Tendenzen, vielleicht auch in Verbindung mit inhaltlichen Topoi (Wiegenlied, Schmerzenslied, Freudenlied und so weiter) gibt, darüber geben die Autoren keine Auskunft.
Das böhmische "Ave Maria zart, / du edler Rosengart" von 1675 ist ein schönes Beispiel barocker Lyrik; das singende Ich identifiziert sich mit dem Engel der Verkündigung: "Ich grüße dich zur Stund / mit Gabrielis Mund / Ave die du bist voller Gnaden." In der Überlieferung erfährt das Lied einschneidende Textbearbeitungen: Aus dem Vers "Jesum das liebe Kind" wurde das abstraktere "den Heiland Jesus Christ", aus "Evae Apfel-Biß" wird "Sündenfall", von den Autoren als "Theologenslang" gegeißelt. Der im heutigen katholischen Kirchengesangbuch "Gotteslob" abgedruckte Text ist jedenfalls sprachlich geglättet.
Zu Recht weisen sie auf den daktylischen Charakter der Verse hin, ein Ergebnis vor allem der soghaften musikalischen Faktur mit ihren Punktierungen. Doch auch hier ist die musikalische Analyse nicht verlässlich, denn statt zu Taktwechseln, wie behauptet, kommt es nur zu Betonungsverschiebungen, wie sie auch die barocke Tanzmusik kennt. Das wirkt sich freilich unmittelbar auf den gesungenen Text aus, und möglicherweise erklären sich die Bearbeitungsversuche auch aus der Spannung zwischen textlichem und musikalischem Rhythmus.
"Diese Lieder wurden gebraucht" oder "Maria hilft aushalten" heißt es überraschend persönlich im Nachwort. Woher kommt dann das Unbehagen der Autoren gegenüber den Glaubensaussagen, die in den Marienliedern, wie unbeholfen auch immer, stecken? In den Liedanalysen greifen sie immer wieder zu Polemik. Leiden sie unter einer schwärmerischen, dichterisch anspruchslosen Marienverehrung? In dem Lied "Die Schönste von allen" singen die Verse: "an ihrer Gestalt all Schönheit beisammen, Gott selbst wohlgefallt", und Kurzke und Schäfer spotten: "Auch Gott kann sich verlieben, warum nicht?"
Abgesehen davon, dass der Topos der Schönheit in der Marienverehrung durch die Jahrhunderte hindurch eine große Rolle spielte, fragt man sich, warum sie sich über das Lied lustig machen oder über Gottes Wohlgefallen an dieser Frau. Wenn "wohl gefallen" etwas mit "Wohlgefallen" zu tun hat, so greift die Liedzeile einen grundlegenden Gedanken der Geschichte vom Umgang Gottes mit den Menschen auf, der sich vom Alten Testament über die Evangelien bis hinein in die kirchliche Liturgie zieht.
Selbstverständlich kann man gegen jede irreführende oder dem Kitsch frönende Marienverehrung anschreiben. Aber man sollte als Autor sein eigenes Unbehagen klar vor Augen haben und formulieren. Diese Ernsthaftigkeit haben auch die Leser verdient und alle, die etwas erfahren wollen über die Kultur und Mythen der Religion.
ANJA-ROSA THÖMING.
Hermann Kurzke und Christiane Schäfer: "Mythos Maria". Berühmte Marienlieder und ihre Geschichte. Verlag C. H. Beck, München 2014. 303 S., 108 Abb., geb., 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mehr Ernsthaftigkeit hätte sich Anja-Rosa Thöming von Hermann Kurzke und Christiane Schäfer gewünscht, wenn es um die Glaubensaussagen in den von den Herausgebern analysierten Marienliedern geht. Spott und Polemik angesichts der zu Kitsch neigenden Marienverehrung vertragen sich nicht mit einer seriösen Auseinandersetzung mit christlicher Kultur und Mythen, wie Thöming feststellt. Der entstehungs- und rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung der zwölf ausgewählten deutschsprachigen Marienlieder mangelt es laut Rezensentin zudem mitunter an Genauigkeit und Verlässlichkeit. So vermisst Thöming etwa weiterreichende Gedanken über die Aussagekraft von Ton- und Taktarten und inhaltliche Topoi.
© Perlentaucher Medien GmbH
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