Feierabend-Zoom statt eng an eng ein Bier in der Kneipe, Warteschlangen vor dem Supermarkt und ein verstecktes Lächeln hinter der FFP2-Maske. Mit Beginn der Corona-Pandemie hat sich unser Leben maßgeblich verändert - und damit unsere Beziehungen, Gefühle und Sehnsüchte. In 37 Miniaturen blicken Autorinnen und Illustratoren, Künstlerinnen und Schriftsteller auf unsere Zeit. Eigentlich hätten sie auf der Bühne des Stuttgarter Literaturhauses gestanden, stattdessen haben sie in Gedichten, kürzesten Erzählungen und Graphic Novels die kleinen und großen Erschütterungen eines gesellschaftlichen Ausnahmezustandes eingefangen.Mit Texten von: Lene Albrecht - Lina Atfah - Lukas Bärfuss - Max Baitinger - Nir Baram - Priya Basil - Julia Bernhard - Bov Bjerg - Alexandru Bulucz - Bea Davies - Marina Frenk - Zsuzsanna Gahse - Kübra Gümüsay - Katharina Hagena - Mathias Jeschke - Lukas Jüliger - Abbas Khider - Kathrin Klingner - Dagmara Kraus - Amanda Lasker-Berlin - Johanna Lier - Clemens Meyer - José F. A. Oliver - Martin Piekar - Kerstin Preiwuß - Leif Randt - Arne Rautenberg - Riad Sattouf - Christina Schmid - Ingo Schulze - Marina Schwabe - Lutz Seiler - Leona Stahlmann - Stefan Weidner
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.07.2021Erstes Plus der Pandemie
Das Literaturhaus Stuttgart lädt zur kleinen Form ein
"Literatur in schwierigen Zeiten - muss sie sanfter oder härter sein? Beides? Weder noch?" So ratlos fragt die britische Autorin Priya Basil, die hierzulande vor zwei Jahren mit ihrem Essay "Gastfreundschaft" bekannt geworden ist. Das waren damals noch einfachere Zeiten, während seitdem durch die Pandemie auch das Verständnis von Gast und Gastgeber ein anderes geworden ist. Basil selbst hätte Gast sein sollen: im Stuttgarter Literaturhaus, doch zu ihrer Lesung konnte sie in Corona-Zeitem gar nicht anreisen. Dieses Schicksal teilte sie mit Dutzenden anderer Autoren, und wenn man die vielen deutschsprachigen Literaturhäuser zusammennimmt, reden wir über Hunderte, wenn nicht Tausende entfallene Lesungen. Das Literaturhaus Stuttgart aber wollte die Gastgeberrolle nicht einfach aufgeben und bat darum alle seine für die Lockdown-Monate vorgesehenen, nun verhinderten Gäste stattdessen um kurze Texte, deren Form ihnen als "Minutennovellen" (nach einem vom ungarischen Schriftsteller István Örkény geprägten Begriff) vorgegeben war - zu lesen in kürzester Zeit, wenn auch nicht immer nur in einer Minute. Basils Essay "In ,giftiger' Zeit" ist mit dreieinhalb Seiten einer der längeren Texte, aber dann gibt es auch wieder Notate und Bildergeschichten anderer ausgebliebener Gäste, die sich deutlich rascher als in einer Minute lesen lassen.
Vierunddreißig Beiträge sind zusammengekommen, einige sowohl in Deutsch als auch in der Originalsprache abgedruckt wie bei Lina Atfah (Arabisch), Nir Baram (Hebräisch), Riad Sattouf (Französisch) oder auch Basil (Englisch). Sie ergeben knapp hundert Seiten in einem liebevoll gestalteten Reclam-Heftchen (etwas dunkleres Gelb und etwas größeres Format als bei der klassischen Reihe), das zwar bisweilen auch banale Beobachtungen aufweist, die nur belegen, dass auch Schriftsteller die Originalität nicht gepachtet haben, aber überwiegend Erzählungen und Erörterungen bietet, die gerade wegen der geforderten knappen Form auf eine Zuspitzung setzen, die tatsächlich novellistischen Charakter hat - wobei die konstitutive "unerhörte Begebenheit" eher in der kollektiven Pandemieerfahrung als in den einzelnen Themen liegt.
Aber deren Vielfalt ist ebenso verblüffend wie begeisternd. Clemens Meyer zum Beispiel widmet sich in einem witzigen winzigen Text dem fantastischen Konstruktionsprinzip seiner im vergangenen Jahr erschienenen großen zeithistorischen Novelle "Nacht im Bioskop" - hier bekommen wir dazu also die kleine Schwester. Christina Schmidt vermag in zwei Sätzen die Quintessenz des Kribbelns von Strandlektüre zu formulieren, und der erwähnte Comiczeichner Sattouf hält nicht weniger als einen gezeichneten Abwehrzauber gegen die Ansteckung mit Covid-19 parat. Literarisch hat die Pandemie noch nicht allzu viel Positives bewirkt. Hier jedoch ist ein Anfang gemacht. Klein, aber fein.
apl
"Na ja. Vielleicht nächstes Jahr". Minutennovellen.
Hrsg. vom Literaturhaus Stuttgart.
Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 104 S., Abb., br.,
8,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Literaturhaus Stuttgart lädt zur kleinen Form ein
"Literatur in schwierigen Zeiten - muss sie sanfter oder härter sein? Beides? Weder noch?" So ratlos fragt die britische Autorin Priya Basil, die hierzulande vor zwei Jahren mit ihrem Essay "Gastfreundschaft" bekannt geworden ist. Das waren damals noch einfachere Zeiten, während seitdem durch die Pandemie auch das Verständnis von Gast und Gastgeber ein anderes geworden ist. Basil selbst hätte Gast sein sollen: im Stuttgarter Literaturhaus, doch zu ihrer Lesung konnte sie in Corona-Zeitem gar nicht anreisen. Dieses Schicksal teilte sie mit Dutzenden anderer Autoren, und wenn man die vielen deutschsprachigen Literaturhäuser zusammennimmt, reden wir über Hunderte, wenn nicht Tausende entfallene Lesungen. Das Literaturhaus Stuttgart aber wollte die Gastgeberrolle nicht einfach aufgeben und bat darum alle seine für die Lockdown-Monate vorgesehenen, nun verhinderten Gäste stattdessen um kurze Texte, deren Form ihnen als "Minutennovellen" (nach einem vom ungarischen Schriftsteller István Örkény geprägten Begriff) vorgegeben war - zu lesen in kürzester Zeit, wenn auch nicht immer nur in einer Minute. Basils Essay "In ,giftiger' Zeit" ist mit dreieinhalb Seiten einer der längeren Texte, aber dann gibt es auch wieder Notate und Bildergeschichten anderer ausgebliebener Gäste, die sich deutlich rascher als in einer Minute lesen lassen.
Vierunddreißig Beiträge sind zusammengekommen, einige sowohl in Deutsch als auch in der Originalsprache abgedruckt wie bei Lina Atfah (Arabisch), Nir Baram (Hebräisch), Riad Sattouf (Französisch) oder auch Basil (Englisch). Sie ergeben knapp hundert Seiten in einem liebevoll gestalteten Reclam-Heftchen (etwas dunkleres Gelb und etwas größeres Format als bei der klassischen Reihe), das zwar bisweilen auch banale Beobachtungen aufweist, die nur belegen, dass auch Schriftsteller die Originalität nicht gepachtet haben, aber überwiegend Erzählungen und Erörterungen bietet, die gerade wegen der geforderten knappen Form auf eine Zuspitzung setzen, die tatsächlich novellistischen Charakter hat - wobei die konstitutive "unerhörte Begebenheit" eher in der kollektiven Pandemieerfahrung als in den einzelnen Themen liegt.
Aber deren Vielfalt ist ebenso verblüffend wie begeisternd. Clemens Meyer zum Beispiel widmet sich in einem witzigen winzigen Text dem fantastischen Konstruktionsprinzip seiner im vergangenen Jahr erschienenen großen zeithistorischen Novelle "Nacht im Bioskop" - hier bekommen wir dazu also die kleine Schwester. Christina Schmidt vermag in zwei Sätzen die Quintessenz des Kribbelns von Strandlektüre zu formulieren, und der erwähnte Comiczeichner Sattouf hält nicht weniger als einen gezeichneten Abwehrzauber gegen die Ansteckung mit Covid-19 parat. Literarisch hat die Pandemie noch nicht allzu viel Positives bewirkt. Hier jedoch ist ein Anfang gemacht. Klein, aber fein.
apl
"Na ja. Vielleicht nächstes Jahr". Minutennovellen.
Hrsg. vom Literaturhaus Stuttgart.
Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 104 S., Abb., br.,
8,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Das erste Plus der Pandemie: Literarisch hat die Pandemie noch nicht allzu viel Positives bewirkt. Hier jedoch ist ein Anfang gemacht. Klein, aber fein.«