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Ebenso zärtlich wie obszön, so sprach- wie bildversessen: ein ironischer und cineastischer Roman über das Kopfkino einer erotischen Passion, über die Projektionen von Leidenschaften und, nicht zuletzt, über die Nach-68er-Generation, "die stets zu klug war, um an irgend etwas zu glauben".

Produktbeschreibung
Ebenso zärtlich wie obszön, so sprach- wie bildversessen: ein ironischer und cineastischer Roman über das Kopfkino einer erotischen Passion, über die Projektionen von Leidenschaften und, nicht zuletzt, über die Nach-68er-Generation, "die stets zu klug war, um an irgend etwas zu glauben".
Autorenporträt
Thomas Lehr, geboren 1957, lebt in Berlin. Für jedes seiner Bücher erhielt er mehrere Literaturpreise, darunter den Wolfgang-Koeppen-Preis der Hansestadt Greifswald, den Kunstpreis Rheinland-Pfalz, den Rheingau Literatur-Preis. 2010 wurde Thomas Lehr mit dem Berliner Literaturpreis ausgezeichnet, 2012 mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk sowie 2015 mit dem Joseph-Breitbach-Preis für sein Gesamtwerk.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.02.2000

Wie das Zentrum einer Gasflamme
In seinem Roman „Nabokovs Katze” zeigt sich Thomas Lehr als Nabokovs nachgeborener Mitschüler
Der Held von Thomas Lehrs drittem Roman kennt Vladimir Nabokov „nur von der Stanley-Kubrick-Verfilmung des Lolita-Romans” – also eigentlich gar nicht. Thomas Lehr indes hat dem Kapitel, das dem Roman seinen Namen gibt, kundig ein Motto vorangestellt, das von dem Nutzen zeugt, den Nabokov nicht unbedingt für das Leben, aber für die Verwandlung von Leben (in Literatur) haben kann. Lehr zitiert Nabokovs sardonische Antwort auf eine Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Dichtung: „Man hasst sich selbst, wenn man einem Nachbarn ein Haustier in Pflege gibt und es nie wieder abholt. ” Lehr gibt die Quelle dieser Sentenz so genau an, dass der Kontext aufgesucht sein will, ein Interview aus dem Jahre 1969 (das leicht zur Hand ist in Deutliche Worte, dem Band 20 der Gesammelten Werke).
Der Interviewer hatte Näheres wissen wollen über das einst von Nabokov geäußerte Bedauern, mit dem er Elemente seiner eigenen Lebensgeschichte an seine Figuren weitergebe. Interessant ist nicht nur die „Katze” in Nabokovs Antwort, die Lehr zitiert, sondern auch deren wiederum metaphorische Auslegung, die Nabokov vornimmt: „Die Elemente der Lebenserinnerung haben die Neigung, durch Zurschaustellung zu verblassen. Sie gleichen jenen reich pigmentierten Schmetterlingen und Nachtfaltern, die der ahnungslose Amateursammler in Schaukästen an den Wänden seines Sonnenzimmers aufhängt und die dann nach einigen Jahren zu einem tristen Gelbbraun ausgebleicht sind. Das metallische Blau als sogenannte Strukturfarbe der Flügelschuppen ist widerstandsfähiger, gleichwohl handelt der Sammler klug, der seine Stücke im trockenen und dunklen Inneren eines Schranks verwahrt. ”
Nabokov hat aus seinem Bedauern nicht die Konsequenz des Verzichts gezogen. In Erinnerung, sprich hat er jenen Autor glücklich geheißen, dem es gelinge, einen echten Liebesbrief aus seiner Jugend in einem Roman aufzubewahren, „wo er wie eine saubere Kugel in schlaffem Fleisch eingebettet liegt und zwischen den fiktiven Existenzen völlig sicher ist”. Mit anderen Worten: Das trockene und dunkle Innere eines Schrankes, das kann auch der Roman sein . . .
Alles was recht ist: Thomas Lehr hat Vladimir Nabokov gesucht – und ist nicht darin umgekommen! Das liegt einerseits daran, dass er sich auf einen Wettbewerb gar nicht erst eingelassen hat. Er hat Nabokov gelesen, aber verstanden. Nabokovs Katze kommt nicht nach Nabokovs autobiografischem Roman Die Gabe, mit dem sich sein bildungsromantisches, auch nicht nach Frühling in Fialta, mit dem sich sein liebesromantisches Programm vergleichen lässt. Nein, er setzt gleichsam vorher ein. (Eine Art Prolog des Romans heißt „Vorläufiges Ende” und „folgt” einem Wunsch von Ludwig Wittgenstein: „Man möchte vor dem Anfang anfangen. ”) Thomas Lehr bedient sich nicht der Nabokovschen Errungenschaften, sondern versucht sie sich noch einmal zu erschreiben. Es gibt Sätze in diesem Roman, da ist er nicht der Epigone Nabokovs, sondern der nachgeborene Mitschüler: „Die Luft war tiefblau und durchsichtig wie das Zentrum einer Gasflamme, aber schon so kühl, dass man die kommenden Wintermonate auf den Lippen schmeckte. ” Dann der taschenspielerische Austausch von Natur und Kunst: „Ein starkes Licht strahlte uns entgegen, herrührend von einem dieser alten Studio-Scheinwerfer am Ende des schmalen Parks, der vom Hotel entlang einer vierspurigen Straße zur Innenstadt führte. ” Schließlich die Epiphanie: „Ich war also geblendet, ich sah noch kaum etwas von Camilles Stadt oder nur das Wichtigste, nämlich Camille in diesem Lichtsturm, in dem ich sie bald und endgültig verlieren würde, da sie ja nicht einmal mehr mit mir frühstücken wollte. Sie trug eine weiße Jacke über dem weißen Pullover, ein sehr schön geschnittenes italienisches Modell. Ihr Segel. Das Hochzeitsgewand unseres letzten Abschieds. ”
Nein, hier jetzt nichts über das ausholende (und wiederholende) Portrait of the artist, nichts also über Georg, der in die Welt zieht, um (in Filmen und im Filmen) das Sehen – und das Verbergen – zu lernen, und nichts über das eigentliche Ziel seiner Sache, Camille, die ewige Jugendliebe, unerreichbar nah, ein Horizont, der vor dem zurückweicht, der sich ihm nähert. Auch nichts über das zweite Haustier des Romans, die quantenphysikalische Katze des Mathematikers Schrödinger. Nur noch der Hinweis auf ein maßgebendes Kunstwerk, das Lehr in seinem Roman „aufbewahrt” wie Nabokov einen Liebesbrief. Einmal erinnert sich Georg an eine Zugreise, die er als Neunjähriger unternommen hat: „Die von schmalen Rahmen getrennte Reihe der Zugfenster ist der Zelluloidstreifen, und das Malteserkreuz seines Gedächtnisses stellt aus den getrennten Ausblicken jenen ersten großen überwältigenden und sprachlosen Film her. ” Georg gibt diesem einzigen Film, der für ihn zähle am Ende der Reisen, den Titel „Das Herzzerreißende der Dinge”. Thomas Lehr spielt damit auf Chris Markers kaleidoskopischen Film-Essay Sans Soleil (1982) an, und einmal darf sein Held eine Liste der Dinge aufstellen, die sein Herz schneller schlagen lassen, so wie es in ihrem Kopfkissenbuch die japanische Hofdame Sei zu tun pflegte, an die sich Markers Film-Ich erinnert. Aus Thomas Lehrs Roman ließe sich eine ähnliche Liste ableiten, eine Liste von Lesefreuden, wie sie in der deutschen Gegenwartsliteratur selten sind. Das freilich ist vielleicht die einzige Schwäche des Romans: Dass er im Glanz der Einzelheiten manchmal sein „Ende” aus den Augen verliert.
HERMANN WALLMANN
THOMAS LEHR: Nabokovs Katze. Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 1999. 512 Seiten, 49,90 Mark.
Thomas Lehr
Foto: Anita Schiffer-Fuchs
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.1999

Winnetous Schwester
Thomas Lehrs Nachtprogramm Von Burkhard Scherer

Ideen muss der Mensch haben. Georg Graf hat eine: "An möglichst vielen Punkten der Erde den Regen aufzunehmen, der vor der Jahrtausendwende fällt, ist eine vielschichtige, kaum erschöpfliche Idee." Gesagt, getan. Als Georg den Regensatz aufschreibt, um ihn via E-Mail an eine amerikanische Freundin zu schicken, scheint er, mit vierzig Jahren, aus dem Gröbsten raus zu sein, der fixen Idee, Camille Sesemann haben zu müssen. Dem ehemaligen Mathematikstudenten und heutigem Filmemacher, Stückeschreiber und Regisseur hat es am Kontakt zum anderen Geschlecht nicht gemangelt.

Für den Zeitraum von einer Nacht bis zu sieben Jahren waren ihm Lisa, Stella, Kristina, Erika, Brigitte, Judith, Klara und Mary konsensuell zu Willen gewesen, um nur die Frauen zu nennen, deren Namen und deren Topographie ihrer privaten Teile der Leser kennt. Sie mussten aber feststellen, dass Georg nicht sie meinte, dass Camilles Satz "Ich werde dich nie verlassen, Georg", 1972 in der Nähe der Stadtbibliothek von Speyer an einen Fünfzehnjährigen adressiert, für diesen fünfundzwanzig Jahre lang eine Realität darstellte, obwohl Camille ihm kurz darauf den Laufpass gegeben hatte. Georg darf ihr erst auf Seite 446, besagtes Vierteljahrhundert später, in Heidelberg an die detailliert geschilderte Wäsche. Das zwar mehrfach, aber nur für einen Morgen; es langt, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Das werden alle begrüßen, denen er mit seiner Camille-Obsession auf den Senkel gegangen ist, darunter sein Dauerfreund Hermann, Mary, eine amerikanische Ethnopsychologin, Georg selbst und der Rezensent.

Es beginnt alles - im Stil eines Erziehungsromans - in Speyer und mit einem LSD-Horrortrip, der es krankenhausträchtig in sich hat, dort aber den Protagonisten zu der Erkenntnis führt: "Hier in S. konnte und musste er die Vollkommenheit des Lebens erreichen." Sartres "Das Sein und das Nichts" dient als Zitatlager für jugendlichen Größenwahn: "Es lag nahe, dass in ihm das Genie eines Sartre biochemisch freigelegt worden war." Dieser Genieverdacht gegen sich selbst wird im Lauf der Jahre einige Beulen erhalten, ohne je ausgeräumt zu werden, in der restlichen Zeit in Speyer vor dem Abitur kann er sich aus der Erstellung von Avantgarde-Kurzfilmen in Super-8-Format ernähren und aus dem Versuch, den Lebensstil der Pariser Boheme mit jüngerem Personal in einer Kleinstadt am Rhein nachzustellen.

Seine Simone heißt Stella, und es kommt zu prickelnden Begegnungen zwischen seinem "maurischen Minarett" und ihrem "klitoralen Kapellchen"; was solches angeht, wird nicht immer alliteriert, aber akribisch Buch geführt, was in Berlin Kristina, die Medizinstudentin mit dem Hochbett, zu der Frage veranlasst: "Erstellst du einen gynäkologischen Atlas?" Nach einem - sehr platonischen - Wochenende in Berlin mit Camille wechselt Georg von Sartre zu Vermeer und den kontemporären Regisseursikonen, denn er wollte nun "seine eigene Welt erschaffen, und er wollte es um jeden Preis versuchen".

Auch eine zweite Begegnung mit dem Objekt der Begierde fünf Jahre später, Georg ist dreißig, hat Konsequenzen. Zum einen "war er sich sicher, dass er Camille zum letzten Mal in seinem Leben sah. Er fühlte weder Schmerz noch Bedauern", zum anderen entdeckt er im Zug von K. nach Berlin in Klara die richtige Frau fürs Leben, sieben Jahre lang, bis es ihn nach Mexiko drängt, denn "wir tun, was wir tun müssen - ich muss Indianer sehen". Der Plural täuscht, es geht nur um einen weiblichen Indianer, Winnetous Schwester, die gefunden werden muss, weil Camille der so sehr ähnelt. Beide sind trotz der Unterstützung durch die Reise- und Intimbekanntschaft Mary während der Recherche zwischen Puff und Chiapas nicht zu entdecken, genausowenig in New York im Umkreis der Lexington Avenue, wo Georg die nächsten drei Jahre in Marys Appartement verbringt. Das ist auch kein Wunder, weil die Traumfrau inzwischen in Heidelberg wohnt.

Was soll das alles? Thomas Lehr hat mit "Nabokovs Katze" - die taucht übrigens nicht auf - ein dickes, verstörendes Buch geschrieben. Denn es ist nicht zu greifen: Es birgt fulminante Passagen voller Zeitkolorit neben schnöder Schwadroniererei im Geiste der Prominenten-Autobiographie, und bei aller bewundernswerter Wortmacht kann es einen für den Protagonisten nur beiläufig interessieren. Man möchte sich einer Sentenz der E-Mail anschließen, die Camille am Schluss an Georg schickt: "Ach, es ist fürchterlich. Ich habe keine Lust, auf Deinen Ton einzugehen, von dem man nicht weiß, ob es sich um einen Gebetstext handelt oder um Pornographie." Man möchte zustimmen, aber das geht auch nicht, weil das ja nicht Camille geschrieben hat, sondern Thomas Lehr. Ach.

Thomas Lehr: "Nabokovs Katze". Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 1999. 510 S., geb., 49,90 DM.

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