Ebenso zärtlich wie obszön, so sprach- wie bildversessen: ein ironischer und cineastischer Roman über das Kopfkino einer erotischen Passion, über die Projektionen von Leidenschaften und, nicht zuletzt, über die Nach-68er-Generation, "die stets zu klug war, um an irgend etwas zu glauben".
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.11.1999Winnetous Schwester
Thomas Lehrs Nachtprogramm Von Burkhard Scherer
Ideen muss der Mensch haben. Georg Graf hat eine: "An möglichst vielen Punkten der Erde den Regen aufzunehmen, der vor der Jahrtausendwende fällt, ist eine vielschichtige, kaum erschöpfliche Idee." Gesagt, getan. Als Georg den Regensatz aufschreibt, um ihn via E-Mail an eine amerikanische Freundin zu schicken, scheint er, mit vierzig Jahren, aus dem Gröbsten raus zu sein, der fixen Idee, Camille Sesemann haben zu müssen. Dem ehemaligen Mathematikstudenten und heutigem Filmemacher, Stückeschreiber und Regisseur hat es am Kontakt zum anderen Geschlecht nicht gemangelt.
Für den Zeitraum von einer Nacht bis zu sieben Jahren waren ihm Lisa, Stella, Kristina, Erika, Brigitte, Judith, Klara und Mary konsensuell zu Willen gewesen, um nur die Frauen zu nennen, deren Namen und deren Topographie ihrer privaten Teile der Leser kennt. Sie mussten aber feststellen, dass Georg nicht sie meinte, dass Camilles Satz "Ich werde dich nie verlassen, Georg", 1972 in der Nähe der Stadtbibliothek von Speyer an einen Fünfzehnjährigen adressiert, für diesen fünfundzwanzig Jahre lang eine Realität darstellte, obwohl Camille ihm kurz darauf den Laufpass gegeben hatte. Georg darf ihr erst auf Seite 446, besagtes Vierteljahrhundert später, in Heidelberg an die detailliert geschilderte Wäsche. Das zwar mehrfach, aber nur für einen Morgen; es langt, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Das werden alle begrüßen, denen er mit seiner Camille-Obsession auf den Senkel gegangen ist, darunter sein Dauerfreund Hermann, Mary, eine amerikanische Ethnopsychologin, Georg selbst und der Rezensent.
Es beginnt alles - im Stil eines Erziehungsromans - in Speyer und mit einem LSD-Horrortrip, der es krankenhausträchtig in sich hat, dort aber den Protagonisten zu der Erkenntnis führt: "Hier in S. konnte und musste er die Vollkommenheit des Lebens erreichen." Sartres "Das Sein und das Nichts" dient als Zitatlager für jugendlichen Größenwahn: "Es lag nahe, dass in ihm das Genie eines Sartre biochemisch freigelegt worden war." Dieser Genieverdacht gegen sich selbst wird im Lauf der Jahre einige Beulen erhalten, ohne je ausgeräumt zu werden, in der restlichen Zeit in Speyer vor dem Abitur kann er sich aus der Erstellung von Avantgarde-Kurzfilmen in Super-8-Format ernähren und aus dem Versuch, den Lebensstil der Pariser Boheme mit jüngerem Personal in einer Kleinstadt am Rhein nachzustellen.
Seine Simone heißt Stella, und es kommt zu prickelnden Begegnungen zwischen seinem "maurischen Minarett" und ihrem "klitoralen Kapellchen"; was solches angeht, wird nicht immer alliteriert, aber akribisch Buch geführt, was in Berlin Kristina, die Medizinstudentin mit dem Hochbett, zu der Frage veranlasst: "Erstellst du einen gynäkologischen Atlas?" Nach einem - sehr platonischen - Wochenende in Berlin mit Camille wechselt Georg von Sartre zu Vermeer und den kontemporären Regisseursikonen, denn er wollte nun "seine eigene Welt erschaffen, und er wollte es um jeden Preis versuchen".
Auch eine zweite Begegnung mit dem Objekt der Begierde fünf Jahre später, Georg ist dreißig, hat Konsequenzen. Zum einen "war er sich sicher, dass er Camille zum letzten Mal in seinem Leben sah. Er fühlte weder Schmerz noch Bedauern", zum anderen entdeckt er im Zug von K. nach Berlin in Klara die richtige Frau fürs Leben, sieben Jahre lang, bis es ihn nach Mexiko drängt, denn "wir tun, was wir tun müssen - ich muss Indianer sehen". Der Plural täuscht, es geht nur um einen weiblichen Indianer, Winnetous Schwester, die gefunden werden muss, weil Camille der so sehr ähnelt. Beide sind trotz der Unterstützung durch die Reise- und Intimbekanntschaft Mary während der Recherche zwischen Puff und Chiapas nicht zu entdecken, genausowenig in New York im Umkreis der Lexington Avenue, wo Georg die nächsten drei Jahre in Marys Appartement verbringt. Das ist auch kein Wunder, weil die Traumfrau inzwischen in Heidelberg wohnt.
Was soll das alles? Thomas Lehr hat mit "Nabokovs Katze" - die taucht übrigens nicht auf - ein dickes, verstörendes Buch geschrieben. Denn es ist nicht zu greifen: Es birgt fulminante Passagen voller Zeitkolorit neben schnöder Schwadroniererei im Geiste der Prominenten-Autobiographie, und bei aller bewundernswerter Wortmacht kann es einen für den Protagonisten nur beiläufig interessieren. Man möchte sich einer Sentenz der E-Mail anschließen, die Camille am Schluss an Georg schickt: "Ach, es ist fürchterlich. Ich habe keine Lust, auf Deinen Ton einzugehen, von dem man nicht weiß, ob es sich um einen Gebetstext handelt oder um Pornographie." Man möchte zustimmen, aber das geht auch nicht, weil das ja nicht Camille geschrieben hat, sondern Thomas Lehr. Ach.
Thomas Lehr: "Nabokovs Katze". Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 1999. 510 S., geb., 49,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Lehrs Nachtprogramm Von Burkhard Scherer
Ideen muss der Mensch haben. Georg Graf hat eine: "An möglichst vielen Punkten der Erde den Regen aufzunehmen, der vor der Jahrtausendwende fällt, ist eine vielschichtige, kaum erschöpfliche Idee." Gesagt, getan. Als Georg den Regensatz aufschreibt, um ihn via E-Mail an eine amerikanische Freundin zu schicken, scheint er, mit vierzig Jahren, aus dem Gröbsten raus zu sein, der fixen Idee, Camille Sesemann haben zu müssen. Dem ehemaligen Mathematikstudenten und heutigem Filmemacher, Stückeschreiber und Regisseur hat es am Kontakt zum anderen Geschlecht nicht gemangelt.
Für den Zeitraum von einer Nacht bis zu sieben Jahren waren ihm Lisa, Stella, Kristina, Erika, Brigitte, Judith, Klara und Mary konsensuell zu Willen gewesen, um nur die Frauen zu nennen, deren Namen und deren Topographie ihrer privaten Teile der Leser kennt. Sie mussten aber feststellen, dass Georg nicht sie meinte, dass Camilles Satz "Ich werde dich nie verlassen, Georg", 1972 in der Nähe der Stadtbibliothek von Speyer an einen Fünfzehnjährigen adressiert, für diesen fünfundzwanzig Jahre lang eine Realität darstellte, obwohl Camille ihm kurz darauf den Laufpass gegeben hatte. Georg darf ihr erst auf Seite 446, besagtes Vierteljahrhundert später, in Heidelberg an die detailliert geschilderte Wäsche. Das zwar mehrfach, aber nur für einen Morgen; es langt, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Das werden alle begrüßen, denen er mit seiner Camille-Obsession auf den Senkel gegangen ist, darunter sein Dauerfreund Hermann, Mary, eine amerikanische Ethnopsychologin, Georg selbst und der Rezensent.
Es beginnt alles - im Stil eines Erziehungsromans - in Speyer und mit einem LSD-Horrortrip, der es krankenhausträchtig in sich hat, dort aber den Protagonisten zu der Erkenntnis führt: "Hier in S. konnte und musste er die Vollkommenheit des Lebens erreichen." Sartres "Das Sein und das Nichts" dient als Zitatlager für jugendlichen Größenwahn: "Es lag nahe, dass in ihm das Genie eines Sartre biochemisch freigelegt worden war." Dieser Genieverdacht gegen sich selbst wird im Lauf der Jahre einige Beulen erhalten, ohne je ausgeräumt zu werden, in der restlichen Zeit in Speyer vor dem Abitur kann er sich aus der Erstellung von Avantgarde-Kurzfilmen in Super-8-Format ernähren und aus dem Versuch, den Lebensstil der Pariser Boheme mit jüngerem Personal in einer Kleinstadt am Rhein nachzustellen.
Seine Simone heißt Stella, und es kommt zu prickelnden Begegnungen zwischen seinem "maurischen Minarett" und ihrem "klitoralen Kapellchen"; was solches angeht, wird nicht immer alliteriert, aber akribisch Buch geführt, was in Berlin Kristina, die Medizinstudentin mit dem Hochbett, zu der Frage veranlasst: "Erstellst du einen gynäkologischen Atlas?" Nach einem - sehr platonischen - Wochenende in Berlin mit Camille wechselt Georg von Sartre zu Vermeer und den kontemporären Regisseursikonen, denn er wollte nun "seine eigene Welt erschaffen, und er wollte es um jeden Preis versuchen".
Auch eine zweite Begegnung mit dem Objekt der Begierde fünf Jahre später, Georg ist dreißig, hat Konsequenzen. Zum einen "war er sich sicher, dass er Camille zum letzten Mal in seinem Leben sah. Er fühlte weder Schmerz noch Bedauern", zum anderen entdeckt er im Zug von K. nach Berlin in Klara die richtige Frau fürs Leben, sieben Jahre lang, bis es ihn nach Mexiko drängt, denn "wir tun, was wir tun müssen - ich muss Indianer sehen". Der Plural täuscht, es geht nur um einen weiblichen Indianer, Winnetous Schwester, die gefunden werden muss, weil Camille der so sehr ähnelt. Beide sind trotz der Unterstützung durch die Reise- und Intimbekanntschaft Mary während der Recherche zwischen Puff und Chiapas nicht zu entdecken, genausowenig in New York im Umkreis der Lexington Avenue, wo Georg die nächsten drei Jahre in Marys Appartement verbringt. Das ist auch kein Wunder, weil die Traumfrau inzwischen in Heidelberg wohnt.
Was soll das alles? Thomas Lehr hat mit "Nabokovs Katze" - die taucht übrigens nicht auf - ein dickes, verstörendes Buch geschrieben. Denn es ist nicht zu greifen: Es birgt fulminante Passagen voller Zeitkolorit neben schnöder Schwadroniererei im Geiste der Prominenten-Autobiographie, und bei aller bewundernswerter Wortmacht kann es einen für den Protagonisten nur beiläufig interessieren. Man möchte sich einer Sentenz der E-Mail anschließen, die Camille am Schluss an Georg schickt: "Ach, es ist fürchterlich. Ich habe keine Lust, auf Deinen Ton einzugehen, von dem man nicht weiß, ob es sich um einen Gebetstext handelt oder um Pornographie." Man möchte zustimmen, aber das geht auch nicht, weil das ja nicht Camille geschrieben hat, sondern Thomas Lehr. Ach.
Thomas Lehr: "Nabokovs Katze". Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 1999. 510 S., geb., 49,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Lehr erzählt noch einmal in einer in der deutschen Literatur einzigartigen Intensität des Erotischen die Pathologiegeschichte des Intellekts, die Geschichte vom menschlichen Hirntier zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit. Zugleich ist der Roman ein Glanzstück erzählerischer Polyphonie, eine wunderbare Hommage an Nabokov, eine Liebeserklärung an das Kino und die Entfesselung einer Erotik, die scharfsinnig ist." Sibylle Cramer, Frankfurter Rundschau
"Lehr hat mit "Nabokovs Katze" einen ganz altmodisch-gediegenen Bildungs- und Künstlerroman geschrieben, zugleich eine Education érotique - mit einer Ernsthaftigkeit und Könnerschaft, die das Buch über die meisten Literaturtitel dieses Herbstes hinaushebt." Volker Hage, Der Spiegel
"Es gibt Sätze in diesem Roman, da ist Thomas Lehr nicht der Epigone Nabokovs, sondern der nachgeborene Mitschüler." Hermann Wallmann, Süddeutsche Zeitung
"Lehr hat mit "Nabokovs Katze" einen ganz altmodisch-gediegenen Bildungs- und Künstlerroman geschrieben, zugleich eine Education érotique - mit einer Ernsthaftigkeit und Könnerschaft, die das Buch über die meisten Literaturtitel dieses Herbstes hinaushebt." Volker Hage, Der Spiegel
"Es gibt Sätze in diesem Roman, da ist Thomas Lehr nicht der Epigone Nabokovs, sondern der nachgeborene Mitschüler." Hermann Wallmann, Süddeutsche Zeitung