Allen Befürwortern eines türkischen EU-Beitritts sei dieser Essay über die moderne Türkei empfohlen. Er stammt von einem der klügsten politischen Essayisten der Gegenwart und zeigt, dass die Türken im 20. Jahrhundert ihrem Staat und den alten europäischen Mächten eine moderne Gesellschaft und Wirtschaft abgetrotzt haben. Der autoritäre Staat aber ist geblieben. Nationale Minderheiten gelten als Bedrohung, Demokratie ist mal erlaubt, mal verboten, Nordzypern soll auch in der EU nicht herausgegeben werden, und die Plätze und Straßen der türkischen Städte tragen weiterhin die Namen der Initiatoren des armenischen Völkermords. Kemals Reformen haben ein halbwegs modernes Land hervorgebracht, aber den islamischen Konsens nie angetastet. In Europa haben die Türken längst viel zu sagen. Ihr Staat bisher aber noch nicht.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Gustav Seibt ist höchst erfreut darüber, dass Perry Andersons Abhandlungen zur Türkei nun in deutscher Übersetzung vorliegen. Die Essays des britischen Historikers zeichnen sich für ihn durch ihren Stil aus, den er als "trocken, scharfzüngig, witzig" lobt. Aber auch inhaltlich haben ihn die Texte völlig überzeugt. Auch wenn er in dem Band keine definitive Antwort auf die Frage findet, ob die Türkei nun in die Europäische Union aufgenommen werden soll oder nicht, scheinen ihm die klugen Analysen des Autors überaus aufschlussreich. Er hebt die Ausführungen über die Säkularisierung des Staats durch Atatürk, die relative Stabilität der türkischen Demokratie, die Rolle der Religion hervor. Die Europatauglichkeit der Türkei sehe Anderson nicht durch den Islam in Frage gestellt, sondern durch die Minderheitenprobleme des Landes und den ungelösten Zypernkonflikt. Mit hohem Lob bedenkt er in diesem Zusammenhang den Essay über die Entstehung dieses Konflikts, für ihn ein Text von "atemberaubender Kraft". Gefallen haben Seibt nicht zuletzt die spöttischen Anmerkungen Andersons über die EU.
© Perlentaucher Medien GmbH
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