Liebesgeschichten und Reiseberichte, Reflexionen über Fotografie, Erinnerung und Trauma: In einer dichten poetischen Sprache verwebt Maria Stepanova Fundstücke zu einem Jahrhundert ihrer jüdisch-russisch-europäischen Familiengeschichte.
Maria Stepanova erzählt von ihrer weitverzweigten Familie von Ärzten, Architekten, Bibliothekaren, Buchhaltern und Ingenieuren, die in unzivilisierten, gewaltgeprägten Zeiten ein stilles, unspektakuläres Leben führen wollten. Prädestiniert, Opfer von Verfolgung und Repressionen zu werden, ist es all ihren Verwandten gelungen, die Schrecken des 20. Jahrhunderts zu überleben. Wie war das möglich? Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln durchmisst die Autorin einen Gedächtnisraum, in dem die Linien des privaten Lebens haarscharf an den Abbruchkanten der Epochenlandschaft entlangführen. »Bei allen anderen bestand die Familie aus Teilnehmern der Geschichte, bei mir nur aus ihren Untermietern.«
Maria Stepanova erzählt von ihrer weitverzweigten Familie von Ärzten, Architekten, Bibliothekaren, Buchhaltern und Ingenieuren, die in unzivilisierten, gewaltgeprägten Zeiten ein stilles, unspektakuläres Leben führen wollten. Prädestiniert, Opfer von Verfolgung und Repressionen zu werden, ist es all ihren Verwandten gelungen, die Schrecken des 20. Jahrhunderts zu überleben. Wie war das möglich? Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln durchmisst die Autorin einen Gedächtnisraum, in dem die Linien des privaten Lebens haarscharf an den Abbruchkanten der Epochenlandschaft entlangführen. »Bei allen anderen bestand die Familie aus Teilnehmern der Geschichte, bei mir nur aus ihren Untermietern.«
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2020NEUE TASCHENBÜCHER
Tiefenbohrung in
Familiengeschichte
Eigentlich wollte sie bloß die Erinnerungen „bergen“, die sich aus den Überbleibseln ihrer Groß- und Urgroßeltern zusammensetzten, also Fotos, Notizen oder Briefe. Dann hat sie die Daten der hinterlassenen privaten Dokumente mit der großen Historie abgeglichen und zu ihr in Bezug gesetzt. Allein das wäre schon ein Modell, wie man mit der Familiengeschichte umgehen könnte, besonders in einem Land wie der Sowjetunion und dann Russlands, wo die Geschichte von der Obrigkeit gestaltet wurde und wird. Aber Maria Stepanovas Interesse reicht weiter, sie befragt ihre eigene Haltung – herausgekommen ist ein romanhafter Essay über den Umgang mit der Privatgeschichte, über das mögliche Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Generationen; über die an ein Publikum gerichteten Memoiren, die nach der russischen Revolution von 1917 in großer Menge verfasst wurden; und über die ungezielten Botschaften der Ahnen an ihre Nachgeborenen. So ergibt sich am Beispiel Russlands ein Vexierbild konkurrierender Gedächtniswelten, die in ihrer Summe spiegeln, wie „es“ vielleicht tatsächlich war.
RUDOLF VON BITTER
Maria Stepanova:
Nach dem Gedächtnis. Aus dem Russischen
von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2020.
524 Seiten, 14 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Tiefenbohrung in
Familiengeschichte
Eigentlich wollte sie bloß die Erinnerungen „bergen“, die sich aus den Überbleibseln ihrer Groß- und Urgroßeltern zusammensetzten, also Fotos, Notizen oder Briefe. Dann hat sie die Daten der hinterlassenen privaten Dokumente mit der großen Historie abgeglichen und zu ihr in Bezug gesetzt. Allein das wäre schon ein Modell, wie man mit der Familiengeschichte umgehen könnte, besonders in einem Land wie der Sowjetunion und dann Russlands, wo die Geschichte von der Obrigkeit gestaltet wurde und wird. Aber Maria Stepanovas Interesse reicht weiter, sie befragt ihre eigene Haltung – herausgekommen ist ein romanhafter Essay über den Umgang mit der Privatgeschichte, über das mögliche Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Generationen; über die an ein Publikum gerichteten Memoiren, die nach der russischen Revolution von 1917 in großer Menge verfasst wurden; und über die ungezielten Botschaften der Ahnen an ihre Nachgeborenen. So ergibt sich am Beispiel Russlands ein Vexierbild konkurrierender Gedächtniswelten, die in ihrer Summe spiegeln, wie „es“ vielleicht tatsächlich war.
RUDOLF VON BITTER
Maria Stepanova:
Nach dem Gedächtnis. Aus dem Russischen
von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2020.
524 Seiten, 14 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Gegenstand dieses Buches ist ... in erster Linie die Reflexion einer Suche nach deren verbliebenen Spuren. Es beschreibt das Bemühen darum, etwas einzufangen und zu bewahren, das längst verloren ist, und thematisiert gleichzeitig das Wissen um die Vergeblichkeit des Vorhabens. Ein beharrliches, und herrliches, 'Trotzdem!' ... « Katharina Granzin Frankfurter Rundschau 20190227
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2019Sind wir nur Dämmstoff der Geschichte?
Maria Stepanovas "Nach dem Gedächtnis" ist ein vielschichtiger, von Zweifeln grundierter Essay über das Wesen des Erinnerns
Ein kaum drei Zentimeter großes Porzellanpüppchen wollte Maria Stepanova zum Leitmotiv ihres als "Metaroman" annoncierten Buches "Nach dem Gedächtnis" machen. Tatsächlich handelt es sich um einen erzählerischen, von Kulturwissenschaft und Literatur ebenso wie von Skrupeln grundierten Essay über die eigene jüdisch-russische Familie, über die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und über das Erinnern selbst. Die Porzellanfigur hatte die 1972 in Moskau geborene Autorin und Redakteurin von "colta.ru", einer Internetzeitschrift für Kultur, Gesellschaft und Politik, in einer Kiste mit unzähligen anderen beschädigten Püppchen auf dem Flohmarkt entdeckt.
Angeblich - verifizieren allerdings kann Stepanova dies nicht - dienten die Püppchen, die seit Ende der 1880er Jahre in einer Fabrik in Deutschland produziert wurden, einst als eine Art Dämmstoff: "Billig und anspruchslos, wie sie waren, wurden sie als Verpackungsmaterial beim Gütertransport benutzt, damit die schweren Gegenstände der Epoche einander nicht die Seiten zerschrammten, wenn sie im Dunkeln zusammenstießen."
Sinnbildlicher kann man das Schicksal des Individuums, das zwischen den Bewegungen der Politik, wo nicht zermalmt, so doch versehrt wird, kaum fassen. Es klingt beinahe zu treffend, um wahr sein zu können. Auch auf ihre Familie, deren Mitglieder Stepanova nicht als Protagonisten, sondern lediglich als "Untermieter" der Geschichte begreift, passt die Vorstellung von den Figuren allzu gut.
Irritierend aber mutet Stepanovas Schlussfolgerung aus dem Vergleich von zerschlagenen Puppen und Menschen an: "dass nur das Trauma uns aus Massenware in unverwechselbare, einzigartige Wesen verwandelt, in uns selbst". Ein Einverständnis klingt da hindurch, eine Anerkennung der historischen Unmenschlichkeiten und Verbrechen, denen mit einem "Trotz" besser begegnet wäre.
Die winzige Figur, die Stepanova lange mit sich herumträgt, zerschellt schließlich auf einem Fliesenboden. Vielleicht aber spiegelt sie gerade im Zerbrechen das von Stepanova wiederholt problematisierte Wesen des Erinnerns selbst wider: "Je weiter, meine ich vielmehr, die Gegenwart in die Vergangenheit hineinwatet (bis ans Knie, an die Taille, an die Brust), desto vernehmlicher wird die Frage, wem sie gehört: die Frage nach dem Eigentumsrecht an diesem oder jenem Fetzen Vergangenheit und die Frage nach denen, die kein solches Recht haben." Das Erinnern will Stepanova als Gewaltakt an den Toten erscheinen.
Diese Zweifel an der Legitimität des Erinnerns sind angesichts der prekären Erinnerungskultur in Russland, die lange nicht existierte und erst seit kurzem von einer jüngeren Autorengeneration, etwa von Sergej Lebedew, eingefordert wird, allzu verständlich. Und natürlich will Stepanova im Überwinden des Schweigens keinesfalls in die Nähe einer ideologischen Vereinnahmung rücken, wie sie von offizieller Seite betrieben wird.
Im Vergleich aber etwa mit Lebedew, der in Romanen wie "Der Himmel auf ihren Schultern", "Menschen im August" oder jüngst "Kronos' Kinder" mit der Präzision und Ruhe eines Geologen Mentalitätsschichten der Gegenwart und Vergangenheit freilegt, scheint Stepanova sich durchaus mit einer gewissen Lust der vermeintlichen Unmöglichkeit ihres Anliegens verschrieben zu haben. Wie die zersprungene Porzellanfigur ist auch das Buch kein geschlossenes Ganzes mehr. Dokumente, Briefwechsel, Erzählung und mitunter mäandernde Reflexion wechseln sich ab. Die Auseinandersetzung ist geprägt von Ambivalenzen. Schon mit zehn Jahren, berichtet Stepanova, verspürte sie den Drang, dieses Buch über ihre Familie zu schreiben, und noch in dem Moment, als sie sich Jahrzehnte später dazu durchringen kann, ist der Antrieb ähnlich stark wie die Scheu, sich an den Toten zu vergreifen.
Dieses Für und Wider führt Stepanova zu der Frage nach der grundsätzlichen Bedeutung des Aufschreibens. Stellt es eine Inbesitznahme dar? Oder einen Akt der Camouflage? Es tauchen verschiedene Figuren auf, an denen Stepanova dieses Changieren zwischen Aneignen und Verbergen zeigt - etwa die jüngst verstorbene Tante, die in ihrem Tagebuch minutiös die täglichen Verrichtungen vermerkt hat, aber kaum je etwas von ihrer Befindlichkeit preisgibt. "Als hätte der Hauptzweck jedes Eintrags, jedes jährlich gefüllten Bandes darin bestanden, ein verlässliches Zeugnis zu hinterlassen und ihr eigentliches, inneres Leben für sich zu behalten."
Ähnlich, aber historisch noch einmal fataler, lesen sich die Briefe, die der knapp zwanzigjährige Soldat Leonid, ein Cousin von Stepanovas Großvaters, bis zu seinem Tod von der Front des Zweiten Weltkriegs an seine Familie schreibt. Beschwörend beinahe seine stets ähnlichen Beteuerungen, dass er wohlauf, seine Lage geradezu komfortabel sei, und seine stereotypen Fragen nach einzelnen Familienmitgliedern. Nicht nur will er die Familie nicht beunruhigen, es scheint auch die omnipräsente Angst vor möglichen Sanktionen eines totalitären Regimes mitzuschreiben.
Das aufgezwungene Verleugnen der eigenen Existenz - wie es auch in den zahlreichen politischen Fragebögen und selbstverfassten und modifizierten Lebensläufen ihrer Verwandten, die Stepanova zitiert, geschieht -, die ständige Gefahr, dass das, was in einem Moment lebensrettend ist, unter gewandelten politischen Verhältnissen zum Verhängnis werden kann, macht die stille Seite der Katastrophe des russischen zwanzigsten Jahrhunderts aus, der Stepanova mit ihrem Buch ein Denkmal setzen will.
Was aber bleibt von dem, das Stepanova in immer neuen Ansätzen von den früheren Generationen ihrer Familie erzählt - von ihrer Urgroßmutter etwa, einer couragierten Frau, die in Paris Medizin studierte und die Fotografien bei Barrikadenkämpfen zeigen? Diese Figuren drohen den Lesern und Leserinnen in der von Stepanova gewählten Form zwischen den Fingern hindurchzugleiten und wie eine kleine Porzellanfigur zu zerschellen.
WIEBKE POROMBKA
Maria Stepanova: "Nach dem Gedächtnis". Roman.
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 527 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Maria Stepanovas "Nach dem Gedächtnis" ist ein vielschichtiger, von Zweifeln grundierter Essay über das Wesen des Erinnerns
Ein kaum drei Zentimeter großes Porzellanpüppchen wollte Maria Stepanova zum Leitmotiv ihres als "Metaroman" annoncierten Buches "Nach dem Gedächtnis" machen. Tatsächlich handelt es sich um einen erzählerischen, von Kulturwissenschaft und Literatur ebenso wie von Skrupeln grundierten Essay über die eigene jüdisch-russische Familie, über die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und über das Erinnern selbst. Die Porzellanfigur hatte die 1972 in Moskau geborene Autorin und Redakteurin von "colta.ru", einer Internetzeitschrift für Kultur, Gesellschaft und Politik, in einer Kiste mit unzähligen anderen beschädigten Püppchen auf dem Flohmarkt entdeckt.
Angeblich - verifizieren allerdings kann Stepanova dies nicht - dienten die Püppchen, die seit Ende der 1880er Jahre in einer Fabrik in Deutschland produziert wurden, einst als eine Art Dämmstoff: "Billig und anspruchslos, wie sie waren, wurden sie als Verpackungsmaterial beim Gütertransport benutzt, damit die schweren Gegenstände der Epoche einander nicht die Seiten zerschrammten, wenn sie im Dunkeln zusammenstießen."
Sinnbildlicher kann man das Schicksal des Individuums, das zwischen den Bewegungen der Politik, wo nicht zermalmt, so doch versehrt wird, kaum fassen. Es klingt beinahe zu treffend, um wahr sein zu können. Auch auf ihre Familie, deren Mitglieder Stepanova nicht als Protagonisten, sondern lediglich als "Untermieter" der Geschichte begreift, passt die Vorstellung von den Figuren allzu gut.
Irritierend aber mutet Stepanovas Schlussfolgerung aus dem Vergleich von zerschlagenen Puppen und Menschen an: "dass nur das Trauma uns aus Massenware in unverwechselbare, einzigartige Wesen verwandelt, in uns selbst". Ein Einverständnis klingt da hindurch, eine Anerkennung der historischen Unmenschlichkeiten und Verbrechen, denen mit einem "Trotz" besser begegnet wäre.
Die winzige Figur, die Stepanova lange mit sich herumträgt, zerschellt schließlich auf einem Fliesenboden. Vielleicht aber spiegelt sie gerade im Zerbrechen das von Stepanova wiederholt problematisierte Wesen des Erinnerns selbst wider: "Je weiter, meine ich vielmehr, die Gegenwart in die Vergangenheit hineinwatet (bis ans Knie, an die Taille, an die Brust), desto vernehmlicher wird die Frage, wem sie gehört: die Frage nach dem Eigentumsrecht an diesem oder jenem Fetzen Vergangenheit und die Frage nach denen, die kein solches Recht haben." Das Erinnern will Stepanova als Gewaltakt an den Toten erscheinen.
Diese Zweifel an der Legitimität des Erinnerns sind angesichts der prekären Erinnerungskultur in Russland, die lange nicht existierte und erst seit kurzem von einer jüngeren Autorengeneration, etwa von Sergej Lebedew, eingefordert wird, allzu verständlich. Und natürlich will Stepanova im Überwinden des Schweigens keinesfalls in die Nähe einer ideologischen Vereinnahmung rücken, wie sie von offizieller Seite betrieben wird.
Im Vergleich aber etwa mit Lebedew, der in Romanen wie "Der Himmel auf ihren Schultern", "Menschen im August" oder jüngst "Kronos' Kinder" mit der Präzision und Ruhe eines Geologen Mentalitätsschichten der Gegenwart und Vergangenheit freilegt, scheint Stepanova sich durchaus mit einer gewissen Lust der vermeintlichen Unmöglichkeit ihres Anliegens verschrieben zu haben. Wie die zersprungene Porzellanfigur ist auch das Buch kein geschlossenes Ganzes mehr. Dokumente, Briefwechsel, Erzählung und mitunter mäandernde Reflexion wechseln sich ab. Die Auseinandersetzung ist geprägt von Ambivalenzen. Schon mit zehn Jahren, berichtet Stepanova, verspürte sie den Drang, dieses Buch über ihre Familie zu schreiben, und noch in dem Moment, als sie sich Jahrzehnte später dazu durchringen kann, ist der Antrieb ähnlich stark wie die Scheu, sich an den Toten zu vergreifen.
Dieses Für und Wider führt Stepanova zu der Frage nach der grundsätzlichen Bedeutung des Aufschreibens. Stellt es eine Inbesitznahme dar? Oder einen Akt der Camouflage? Es tauchen verschiedene Figuren auf, an denen Stepanova dieses Changieren zwischen Aneignen und Verbergen zeigt - etwa die jüngst verstorbene Tante, die in ihrem Tagebuch minutiös die täglichen Verrichtungen vermerkt hat, aber kaum je etwas von ihrer Befindlichkeit preisgibt. "Als hätte der Hauptzweck jedes Eintrags, jedes jährlich gefüllten Bandes darin bestanden, ein verlässliches Zeugnis zu hinterlassen und ihr eigentliches, inneres Leben für sich zu behalten."
Ähnlich, aber historisch noch einmal fataler, lesen sich die Briefe, die der knapp zwanzigjährige Soldat Leonid, ein Cousin von Stepanovas Großvaters, bis zu seinem Tod von der Front des Zweiten Weltkriegs an seine Familie schreibt. Beschwörend beinahe seine stets ähnlichen Beteuerungen, dass er wohlauf, seine Lage geradezu komfortabel sei, und seine stereotypen Fragen nach einzelnen Familienmitgliedern. Nicht nur will er die Familie nicht beunruhigen, es scheint auch die omnipräsente Angst vor möglichen Sanktionen eines totalitären Regimes mitzuschreiben.
Das aufgezwungene Verleugnen der eigenen Existenz - wie es auch in den zahlreichen politischen Fragebögen und selbstverfassten und modifizierten Lebensläufen ihrer Verwandten, die Stepanova zitiert, geschieht -, die ständige Gefahr, dass das, was in einem Moment lebensrettend ist, unter gewandelten politischen Verhältnissen zum Verhängnis werden kann, macht die stille Seite der Katastrophe des russischen zwanzigsten Jahrhunderts aus, der Stepanova mit ihrem Buch ein Denkmal setzen will.
Was aber bleibt von dem, das Stepanova in immer neuen Ansätzen von den früheren Generationen ihrer Familie erzählt - von ihrer Urgroßmutter etwa, einer couragierten Frau, die in Paris Medizin studierte und die Fotografien bei Barrikadenkämpfen zeigen? Diese Figuren drohen den Lesern und Leserinnen in der von Stepanova gewählten Form zwischen den Fingern hindurchzugleiten und wie eine kleine Porzellanfigur zu zerschellen.
WIEBKE POROMBKA
Maria Stepanova: "Nach dem Gedächtnis". Roman.
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 527 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main