Alt ist Ivo noch nicht, höchstens an der Grenze, aber zu alt dann doch, um sich in die Freundin des eigenen Sohnes zu verlieben. Seit die junge Frau im Museum auf der Festung arbeitet, Tür an Tür mit Ivo, der dort sein Restaurant hat, findet er keine Ruhe mehr. Mira raubt ihm den Schlaf. Nicht im Ehebett, das teilt er längst nicht mehr mit seiner Frau, die Gesangslehrerin ist, aber ein Star hätte werden können. Überhaupt ist alles anders gekommen in der kleinen Stadt an der Grenze, wo Westen und Osten, Norden und Süden aneinanderstoßen. Anders als erhofft. Es ist August, es ist drückend heiß, seine Tochter Ana hat Geburtstag, ein großes Fest steht bevor. Als wäre die Katastrophe, die Ivo auf sich zukommen sieht, nicht schon genug, hat sein Sohn auch noch einen Autounfall.Im Duktus einer Märchenerzählerin verwebt Nellja Veremej die Geschichte ihres Helden mit Mythen, Fabeln und Legenden. Aus dem leisen Humor, mit dem sie ihre Figuren, ihre Hoffnungen und Nöte betrachtet, spricht die Zuneigung einer Autorin, die aus eigener Erfahrung weiß, dass Geschichte aus Geschichten gemacht ist, dass sich das Große im Kleinen spiegelt. Nellja Veremej kann davon erzählen - und wie!
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buecher-magazin.deAuf einem Berg im Südosten Europas ruht eine Zitadelle, prächtig, einst erbaut, um der Bevölkerung Schutz zu gewähren. Selbst wenn ihre Fassaden inzwischen ein wenig bröckeln, blieb das Herz der Festung, der eigentliche Protagonist in "Nach dem Sturm", unzerstörbar. Trotz Zusammenbruchs des Eisernen Vorhangs und trotz anschließender Globalisierung. Vielleicht, weil an diesem (fiktiven) Ort, gelegen zwischen Osten und Westen, zwei Welten aufeinandertreffen und ein energetisches Dazwischen bilden. Wohingegen momentan die Rechtspopulisten nach Abschottung rufen, setzt die 1963 in der Sowjetunion geborene Autorin auf eine Stätte des Dialogs - sogar über Zeitgrenzen hinweg: Die Geschichte der Festungsbewohner reicht von einem Waisenjungen aus dem Mittelalter bis hin zu Ivo, dem Verkrachten einer Touristengaststätte. Indem Veremej verschiedene Handlungsstränge verschachtelt, knüpft sie spielerisch an orientalische Erzähltraditionen an. Nichtsdestotrotz bringt die Gebärde, derartig aus dem Vollen zu schöpfen, auch Schwierigkeiten mit sich: Eine bildhaft überfrachtete Sprache und manche Plauderei blähen das Prosageflecht auf. Lesenswert ist dieses bunte Panoptikum jedoch allemal - gerade in einer Gesellschaft, die allzu erhitzt über europäische Identität und Werte streitet.
© BÜCHERmagazin, Björn Hayer
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Nicole Henneberg folgt den Wanderungen Nellja Veremejs durch das Herz Europas. Die Biografie der Autorin, ihre Lebensstationen im Ural, im Kaukasus, in Leningrad, schließlich in Berlin sieht Henneberg immer wieder im Text gespiegelt, der den Leser laut Rezensentin "mitreißend" in eine fiktive Stadt zwischen Ost und West entführt, eine Grenzregion, deren Historie und Gegenwart die Autorin "kunstvoll" miteinander verwebt. Figuren- und Stadtgeschichte verbinden sich vor dem Hintergrund großer Traumata. Politisch klug und einfühlsam und mit pragmatischer Ironie entwirft die Autorin Schicksalsbegegnungen, die laut Henneberg jederzeit den Blick öffnen können auf das kulturelle Gedächtnis Europas wie auf dessen Tragödien.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.05.2016Zauberkistchen und Kometen
Nellja Veremejs Roman „Nach dem Sturm“ erzählt von einem brüchigen Familiengefüge
und von der zurückgelassenen Herkunftswelt im Osten Europas
VON NICO BLEUTGE
Die Stadt liegt auf einer Anhöhe. Wenn die ersten Touristen durch das Tunneltor treten, brennt die Sonne schon vom Himmel. Wie ein Schimmer von Erfüllung locken die schattigen Bäume und die Cafés mit ihren Tischen und Stühlen. Doch die ruhige Oberfläche trügt, darunter gibt es noch eine zweite Welt: „Wie gigantische Wurmlöcher durchziehen die unterirdischen Gänge den Berg, in dessen Tiefen man den unverweslichen Leichnam des örtlichen Heiligen bestaunen kann . . . Wer Glück hat, bekommt auch Einblicke in das Leben der Fledermäuse – die endlosen, noch nicht restlos erkundeten Tunnelgänge des Oros beherbergen die größte Kolonie auf dem Kontinent.“
Nellja Veremej, die 1963 in der Sowjetunion geboren wurde, hat in ihren zweiten Roman Versatzstücke eigener Erfahrungen einfließen lassen. Doch ihr Buch über das brüchige Familiengefüge rund um die Figuren Ivo, Milly, Ana und Boris ist alles andere als eine ruhige Familienchronik. Hinter der erzählten Geschichte lauert ein ganzes Geflecht von Anspielungen und Zitaten, Bildern und Zweitgeschichten, das die Erzählung immer wieder neu ausrichtet. Zwar gibt es darin keinen Heiligen zu bestaunen, aber Fledermäuse spielen eine nicht unbedeutende Rolle.
Irgendwo im Osten liegt dieses Städtchen Gradow, „an seinen rauen, rissigen Rändern“. In jenen Landschaften Ostmitteleuropas also, über die der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk einmal meinte: „Aus Fetzen, Resten, aus Stimmen, Erinnerungen und Ahnungen basteln wir uns die Wahrheit zusammen.“ Ivo, der pater familias, ist Geschäftsführer des örtlichen Museumsrestaurants. Mit seiner Frau Milly, einer ehemaligen Opernsängerin, verbindet ihn kaum mehr als die gemeinsame Vergangenheit. Und auch das Verhältnis zu den beiden Kindern Ana und Boris ist von Entfremdung bestimmt.
Vor allem der Sohn verkörpert für Ivo jene „postindustriellen Winde, die jetzt herrschten“, die immer mehr Waren in entlegene Gegenden bringen und immer mehr Menschen „verschleppen“. Boris ist Manager einer großen Handelskette und Bewohner der neuen Industriezonen, der Outlet Centers und Shoppingmalls, „wo alles Tag / und Nacht bedunstet wird“, wie der Schriftsteller Marcel Beyer es in einem Gedicht beschrieben hat.
In die Gespräche der Figuren baut Veremej äußerst geschickt eine Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen des Sozialismus und der „neuen regulierenden Kräfte des Marktes“ ein. Hier die einst „lichte Zukunft“ der Verstaatlichung, an die Ivos Vater noch glauben konnte, dort der „Geist der Sachlichkeit und der Effizienz“, den Boris so liebt. Ivo ist das eine so wenig geheuer wie das andere. Sein Verlangen konzentriert sich vielmehr auf die junge Mira. Eigentlich die Freundin seines Sohnes, wird sie zum Mittelpunkt seiner Träume: „Ihr schwarzes Haar trägt sie fest zusammengebunden, bis auf eine Strähne, die sie versunken um den Zeigefinger dreht. Wäre da nicht diese Bewegung, sie würde ein Bild absoluter Ruhe abgeben.“
Die Ruhe indes ist nur Schein. Mira arbeitet im Museum der kleinen Stadt und will die Dinge umkrempeln. Um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass der Osten nicht Peripherie ist, sondern „Europas Nabel, sein Sonnengeflecht, das Reich der Mitte“, müsse die historische Ausstellung neu gestaltet werden. „Was sollen all diese Gipsköpfe, Gewehre, Töpfe, die nichts erzählen“, fragt sie einmal. Nellja Veremej hat sich diesen Ausspruch zu Herzen genommen. Das trockene Ausstellen von Archivalien ist ihre Sache nicht. Stattdessen setzt sie auf das Erzählen, auf ein mäanderndes, ausuferndes Erzählen, das die Lebensstränge der Figuren ebenso in seinen Rhythmus holt wie Anlehnungen an Gemälde oder erzählerische Vorbilder. Als habe sie eigens Tunnelgänge in die Innenwelten der Figuren gegraben, schmiegt sich die Erzählerin an deren Sichtweise an.
Und so, wie in diesem Buch die Perspektiven übereinander gelegt sind, ist in die Jetztzeit eine historische Schicht eingelassen. Im Jahr 1715 wird die Stadt mehrere Monate lang durch die Osmanen belagert, eine Bedrohung, die nur durch das Wunder eines sommerlichen Schneefalls abgewendet wird. Veremej beschreibt dieses Ereignis anhand der Lebensgeschichte von Damir, einem Jungen mit borstigem Haar und großen Füßen, „der mit seinen scharfen Rückgratspitzen einem eingeigelten Tierchen ähnelte“. Doch man ginge der Erzählerin Nellja Veremej auf den Leim, wollte man ihren Roman eingleisig oder gar realistisch lesen. In gleichem Maße, wie Figuren aus der historischen Geschichte unversehens in der Jetztzeit auftauchen können, ist auch die Stadt Gradow noch um eine Schicht fiktiver, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn Gradow verdankt sich den Ideen des russischen Schriftstellers Andrej Platonow: 1926 erschien seine Novelle „Die Stadt Gradow“.
Platonows Erzählungen schwappen in den Roman herüber, wie die Atmosphären aus Gemälden von Hieronymus Bosch oder Albrecht Dürer. Die vielleicht schönste Anverwandlung ist aber eine Überschreibung der Texte von Bruno Schulz. Wenn Veremej Mira durch das Labyrinth verlassener Werkstätten von Schneidern, Schustern und Uhrmachern streifen lässt, erwachen in Zitaten die „Zimtläden“ des großen polnischen Autors für Momente zum Leben: „Du konntest dort bengalisches Feuer finden, Zauberkistchen, Briefmarken, chinesische Abziehbilder, Indigo, Kolophonium aus Malabar, Eier exotischer Insekten, Papageien, Tukane oder lebende Salamander und Basilisken“.
Allerdings findet Veremej nicht für alle Teile ihres Romans solche Zauberkistchen. Immer wieder verliert sie sich in Formulierungen, die eher Abziehbildern gleichen, als dass sie etwas von den Figuren und Orten zeigen würden. Eine „steile Karriere“ etwa oder ein „schwunghafter Aufstieg“ stören nicht weniger den sprachlichen Lauf als Adjektivpaare wie „gelb und öde“ (für einen Platz) oder „fade und matt“ (für Farben). Vor allem aber gelingt es ihr nicht vollends, die historische Ebene mit der Gegenwart zu verbinden. Erst recht nicht in dem Versuch, die damaligen Fluchtbewegungen („ein kleiner Junge, ein Flüchtling“, heißt es über Damir) mit den vielen Flüchtenden unserer Tage kurzzuschließen. Am Ende erscheinen die „Flüchtlingszelte in Olivenhainen“, die ab und an im Text aufblitzen, oder die „verstörenden Bilder im Fernsehen“ wie bloße Staffage.
Das ist schade, denn Nellja Veremej hat ein großes Gespür für die Ideen und Sehnsüchte, die in Lebensgeschichten eingelagert sind. Für die Antriebe und Notwendigkeiten, die Menschen dazu zwingen können, ihre Heimatländer zu verlassen. Das hat sie schon in ihrem Debütroman „Berlin liegt im Osten“ gezeigt. Und es prägt auch das zweite Buch an seinen besten Stellen.
Wenn Nellja Veremej die Lebenssituation einer Figur in Bilder fasst, ist sie ganz bei sich. So wie Ivo, als er in seinem Restaurant eine Fledermaus entdeckt, ein „kleines Teufelchen“, das sich im Kreis dreht: „In der Dunkelheit hallt das Geräusch herabfallender Tropfen, eine unsichtbare Wasseruhr, kleine kurzlebige Kometen, die in der ewigen Dunkelheit verschwinden, einer nach dem anderen.“
Nellja Veremej: Nach dem Sturm. Roman. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2016. 240 Seiten, 21 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Eingelagert in die Gespräche
der Figuren sind Reflexionen über
die postsozialistische Realität
Veremej hat viel Gespür für
die Antriebe, die Menschen dazu
bringen, ihre Heimat zu verlassen
Nellja Veremej, geboren 1963 in der Sowjetunion, hat in ihren zweiten Roman Versatzstücke eigener Erfahrungen einfließen lassen.
Foto: Tobias Bohm
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Nellja Veremejs Roman „Nach dem Sturm“ erzählt von einem brüchigen Familiengefüge
und von der zurückgelassenen Herkunftswelt im Osten Europas
VON NICO BLEUTGE
Die Stadt liegt auf einer Anhöhe. Wenn die ersten Touristen durch das Tunneltor treten, brennt die Sonne schon vom Himmel. Wie ein Schimmer von Erfüllung locken die schattigen Bäume und die Cafés mit ihren Tischen und Stühlen. Doch die ruhige Oberfläche trügt, darunter gibt es noch eine zweite Welt: „Wie gigantische Wurmlöcher durchziehen die unterirdischen Gänge den Berg, in dessen Tiefen man den unverweslichen Leichnam des örtlichen Heiligen bestaunen kann . . . Wer Glück hat, bekommt auch Einblicke in das Leben der Fledermäuse – die endlosen, noch nicht restlos erkundeten Tunnelgänge des Oros beherbergen die größte Kolonie auf dem Kontinent.“
Nellja Veremej, die 1963 in der Sowjetunion geboren wurde, hat in ihren zweiten Roman Versatzstücke eigener Erfahrungen einfließen lassen. Doch ihr Buch über das brüchige Familiengefüge rund um die Figuren Ivo, Milly, Ana und Boris ist alles andere als eine ruhige Familienchronik. Hinter der erzählten Geschichte lauert ein ganzes Geflecht von Anspielungen und Zitaten, Bildern und Zweitgeschichten, das die Erzählung immer wieder neu ausrichtet. Zwar gibt es darin keinen Heiligen zu bestaunen, aber Fledermäuse spielen eine nicht unbedeutende Rolle.
Irgendwo im Osten liegt dieses Städtchen Gradow, „an seinen rauen, rissigen Rändern“. In jenen Landschaften Ostmitteleuropas also, über die der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk einmal meinte: „Aus Fetzen, Resten, aus Stimmen, Erinnerungen und Ahnungen basteln wir uns die Wahrheit zusammen.“ Ivo, der pater familias, ist Geschäftsführer des örtlichen Museumsrestaurants. Mit seiner Frau Milly, einer ehemaligen Opernsängerin, verbindet ihn kaum mehr als die gemeinsame Vergangenheit. Und auch das Verhältnis zu den beiden Kindern Ana und Boris ist von Entfremdung bestimmt.
Vor allem der Sohn verkörpert für Ivo jene „postindustriellen Winde, die jetzt herrschten“, die immer mehr Waren in entlegene Gegenden bringen und immer mehr Menschen „verschleppen“. Boris ist Manager einer großen Handelskette und Bewohner der neuen Industriezonen, der Outlet Centers und Shoppingmalls, „wo alles Tag / und Nacht bedunstet wird“, wie der Schriftsteller Marcel Beyer es in einem Gedicht beschrieben hat.
In die Gespräche der Figuren baut Veremej äußerst geschickt eine Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen des Sozialismus und der „neuen regulierenden Kräfte des Marktes“ ein. Hier die einst „lichte Zukunft“ der Verstaatlichung, an die Ivos Vater noch glauben konnte, dort der „Geist der Sachlichkeit und der Effizienz“, den Boris so liebt. Ivo ist das eine so wenig geheuer wie das andere. Sein Verlangen konzentriert sich vielmehr auf die junge Mira. Eigentlich die Freundin seines Sohnes, wird sie zum Mittelpunkt seiner Träume: „Ihr schwarzes Haar trägt sie fest zusammengebunden, bis auf eine Strähne, die sie versunken um den Zeigefinger dreht. Wäre da nicht diese Bewegung, sie würde ein Bild absoluter Ruhe abgeben.“
Die Ruhe indes ist nur Schein. Mira arbeitet im Museum der kleinen Stadt und will die Dinge umkrempeln. Um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass der Osten nicht Peripherie ist, sondern „Europas Nabel, sein Sonnengeflecht, das Reich der Mitte“, müsse die historische Ausstellung neu gestaltet werden. „Was sollen all diese Gipsköpfe, Gewehre, Töpfe, die nichts erzählen“, fragt sie einmal. Nellja Veremej hat sich diesen Ausspruch zu Herzen genommen. Das trockene Ausstellen von Archivalien ist ihre Sache nicht. Stattdessen setzt sie auf das Erzählen, auf ein mäanderndes, ausuferndes Erzählen, das die Lebensstränge der Figuren ebenso in seinen Rhythmus holt wie Anlehnungen an Gemälde oder erzählerische Vorbilder. Als habe sie eigens Tunnelgänge in die Innenwelten der Figuren gegraben, schmiegt sich die Erzählerin an deren Sichtweise an.
Und so, wie in diesem Buch die Perspektiven übereinander gelegt sind, ist in die Jetztzeit eine historische Schicht eingelassen. Im Jahr 1715 wird die Stadt mehrere Monate lang durch die Osmanen belagert, eine Bedrohung, die nur durch das Wunder eines sommerlichen Schneefalls abgewendet wird. Veremej beschreibt dieses Ereignis anhand der Lebensgeschichte von Damir, einem Jungen mit borstigem Haar und großen Füßen, „der mit seinen scharfen Rückgratspitzen einem eingeigelten Tierchen ähnelte“. Doch man ginge der Erzählerin Nellja Veremej auf den Leim, wollte man ihren Roman eingleisig oder gar realistisch lesen. In gleichem Maße, wie Figuren aus der historischen Geschichte unversehens in der Jetztzeit auftauchen können, ist auch die Stadt Gradow noch um eine Schicht fiktiver, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn Gradow verdankt sich den Ideen des russischen Schriftstellers Andrej Platonow: 1926 erschien seine Novelle „Die Stadt Gradow“.
Platonows Erzählungen schwappen in den Roman herüber, wie die Atmosphären aus Gemälden von Hieronymus Bosch oder Albrecht Dürer. Die vielleicht schönste Anverwandlung ist aber eine Überschreibung der Texte von Bruno Schulz. Wenn Veremej Mira durch das Labyrinth verlassener Werkstätten von Schneidern, Schustern und Uhrmachern streifen lässt, erwachen in Zitaten die „Zimtläden“ des großen polnischen Autors für Momente zum Leben: „Du konntest dort bengalisches Feuer finden, Zauberkistchen, Briefmarken, chinesische Abziehbilder, Indigo, Kolophonium aus Malabar, Eier exotischer Insekten, Papageien, Tukane oder lebende Salamander und Basilisken“.
Allerdings findet Veremej nicht für alle Teile ihres Romans solche Zauberkistchen. Immer wieder verliert sie sich in Formulierungen, die eher Abziehbildern gleichen, als dass sie etwas von den Figuren und Orten zeigen würden. Eine „steile Karriere“ etwa oder ein „schwunghafter Aufstieg“ stören nicht weniger den sprachlichen Lauf als Adjektivpaare wie „gelb und öde“ (für einen Platz) oder „fade und matt“ (für Farben). Vor allem aber gelingt es ihr nicht vollends, die historische Ebene mit der Gegenwart zu verbinden. Erst recht nicht in dem Versuch, die damaligen Fluchtbewegungen („ein kleiner Junge, ein Flüchtling“, heißt es über Damir) mit den vielen Flüchtenden unserer Tage kurzzuschließen. Am Ende erscheinen die „Flüchtlingszelte in Olivenhainen“, die ab und an im Text aufblitzen, oder die „verstörenden Bilder im Fernsehen“ wie bloße Staffage.
Das ist schade, denn Nellja Veremej hat ein großes Gespür für die Ideen und Sehnsüchte, die in Lebensgeschichten eingelagert sind. Für die Antriebe und Notwendigkeiten, die Menschen dazu zwingen können, ihre Heimatländer zu verlassen. Das hat sie schon in ihrem Debütroman „Berlin liegt im Osten“ gezeigt. Und es prägt auch das zweite Buch an seinen besten Stellen.
Wenn Nellja Veremej die Lebenssituation einer Figur in Bilder fasst, ist sie ganz bei sich. So wie Ivo, als er in seinem Restaurant eine Fledermaus entdeckt, ein „kleines Teufelchen“, das sich im Kreis dreht: „In der Dunkelheit hallt das Geräusch herabfallender Tropfen, eine unsichtbare Wasseruhr, kleine kurzlebige Kometen, die in der ewigen Dunkelheit verschwinden, einer nach dem anderen.“
Nellja Veremej: Nach dem Sturm. Roman. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2016. 240 Seiten, 21 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Eingelagert in die Gespräche
der Figuren sind Reflexionen über
die postsozialistische Realität
Veremej hat viel Gespür für
die Antriebe, die Menschen dazu
bringen, ihre Heimat zu verlassen
Nellja Veremej, geboren 1963 in der Sowjetunion, hat in ihren zweiten Roman Versatzstücke eigener Erfahrungen einfließen lassen.
Foto: Tobias Bohm
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