Zweimal mißlingt der Abschied vom Vater. So muß sie ihn sich schreibend erfinden, ihn im Roman seines Lebens Gestalt gewinnen lassen. Dagmar Leupolds Roman über ihren Vater Rudolf Leupold (1913-1986) geht, dicht, anschaulich, zugleich fragend und deutend, den Spuren eines Lebens nach, das sich, hinter einem Wall familiärer Legenden verborgen, erst nachträglich fassen läßt. Dabei wird die alles entscheidende Dynamik dieses Lebens erkenntlich, der geradezu verzweifelte Geltungsdrang, der sich mal im Deutschnationalismus, mal in der Mathematik den ersehnten Erfolg verspricht, zuletzt aber in dem - unerfüllten - Wunsch gipfelt: zu schreiben. Der Vater, in der deutschen Enklave Bielitz geboren, die 1918 polnisch wurde, spricht beide Sprachen fließend und ist mathematisch hochbegabt. Vom Gefühl nationaler Kränkung und der Hoffnung auf Karriere getragen, hat er sich im NS-System dabei mehr engagiert, als die Tochter zu seinen Lebzeiten ahnte. Der im Krieg versehrte, von Schlaflosigkeit gequälte, manchmal genialisch-charismatische, oft aber auch die Familie mit Tiraden und Wutausbrüchen strapazierende Vater ist nach dem Krieg eher ein Liberaler.
Dagmar Leupolds literarische Recherche bietet nicht den alle Lücken schließenden, alle Wunden heilenden Familienroman, sondern ist eine kluge, poetisch aufgeladene, tief in die Konkretion versenkte Erkundung einer Generation.
Dagmar Leupolds literarische Recherche bietet nicht den alle Lücken schließenden, alle Wunden heilenden Familienroman, sondern ist eine kluge, poetisch aufgeladene, tief in die Konkretion versenkte Erkundung einer Generation.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2005Nachdenken über Rudolf L.
Vater, philologisch betrachtet: Dagmar Leupolds Familiengeschichte
"Er hat alles, was Sie vom Rauchen haben können", erklärt die Krankenschwester der jungen Frau, die aus Amerika gekommen ist, um von ihrem sterbenden Vater Abschied zu nehmen. Beim Kauf ihres Tickets mußte sie sich auf ein festes Datum für den Rückflug festlegen, doch der Tod hält sich nicht an Termine. Nur wenige Tage nach ihrer Rückkehr bucht sie darum einen zweiten Flug nach Deutschland, zur Beerdigung. Später wird sie sich an die großen Erwartungen erinnern, die mit dieser Reise verbunden waren: "Ich hatte mir Klarheit vom Ende erhofft."
In ihrem autobiographisch gefärbten Roman "Nach den Kriegen" macht sich die Schriftstellerin Dagmar Leupold fast zwanzig Jahre nach dem Tod ihres Vaters auf die Suche nach seiner Vergangenheit. Rudolf Leupold, der 1986 als pensionierter Studienrat für Mathematik und Physik in Mainz verstarb, war 1913 im schlesischen Bielitz zur Welt gekommen, und sowohl sein Geburtsort als auch die "Narben der Einschüsse", die die Tochter im Krankenhaus zum letzten Mal betrachtet, führen zurück in die Nazi-Zeit. Ähnlich wie Wibke Bruhns' großer Erfolg "Meines Vaters Land" gehört also auch "Nach den Kriegen" zu den derzeit beliebten Familienrecherchen, die den Verstrickungen der Eltern und Großeltern gewidmet sind.
Zunächst geht es in diesem "Roman eines Lebens" allerdings um den Alltag der Familie in den fünfziger und sechziger Jahren. In knapper und angenehm distanzierter Prosa erinnert sich die 1955 geborene Dagmar Leupold an das "heikle Zusammenleben", das vor allem durch die Wutausbrüche des Vaters bestimmt ist. Während der gemeinsamen Mahlzeiten schimpft er auf unfähige Kollegen und Vorgesetzte, zieht sich am Nachmittag stundenlang zurück, um der Mutter durch einen dichten Schleier von Zigarettenrauch hindurch Briefe, Beschwerden und ganze Bücher zu diktieren, und verbringt seine schlaflosen Nächte damit, die knarrenden Treppen auf und ab zu laufen, bis er schließlich erschöpft am Küchentisch zusammenbricht: "Die Finger nikotingelb, vor ihm der volle Aschenbecher, die Schachtel HB, die Tasse Kaffee, Zuckerreste am Boden."
Die Jahre des Wirtschaftswunders vergehen in einer Mischung aus "Bausparen und schlechter Laune". Weder das Eigenheim noch die teuren, auf Raten gekauften Möbel können die Verletzungen aufwiegen, die der Vater als Invalide und Heimatvertriebener glaubt erfahren zu haben. "Angriffe, Lazarette, Schußwunden und Schlesien" stehen darum immer wieder im Mittelpunkt seiner endlosen, verbitterten Monologe, und dieses Übermaß der väterlichen Erinnerung läßt die Tochter Jahre später mißtrauisch werden: "Es gibt ein Erzählen, das darauf abzielt, den Zuhörer von der berichteten Erfahrung auszuschließen, statt ihn daran teilnehmen zu lassen." Mit diesem Satz leitet Dagmar Leupold den zweiten Teil ihres Romans ein, in dem sie sich nach der Beerdigung als "nachgelassene Tochter" den Tagebüchern des Vaters widmet: Klarheit, vom Ende her.
Es warten unangenehme Entdeckungen auf sie. Der Vater, der sich in den sechziger Jahren als notorischer Querulant mit seinen Sympathien für die studentische Linke brüstete und Willy Brandt wählte, war 1935 in seiner Heimatstadt Bielsko in die völkisch ausgerichtete "Jungdeutsche Partei für Polen" eingetreten. Nach dem Überfall auf Polen tritt er in den Dienst der Verwaltung und nimmt im Generalgouvernement die Stelle eines "kommissarischen Kreisschulrates" an. "Ich sehne mich nach der Führung über Menschen", vertraut er kurz vor seiner Einberufung in die Wehrmacht seinem Tagebuch an. "Wie kann ein kluger, gebildeter Mann so verblendet sein", fragt sich Dagmar Leupold bei der Lektüre, "daß er Krieg und Völkermord nicht mit einem einzigen kritischen Wort kommentiert, sondern diese als eine Wegbereitung wahrnimmt, die ihm das Erreichen seiner ehrgeizigen Ziele wesentlich erleichtert?"
Auf der Suche nach einer Antwort auf diese bereits etwas umständlich formulierte Frage verwandelt sich "Nach den Kriegen" von einem Roman mehr oder weniger in eine literaturwissenschaftliche Seminararbeit mit hohem Betroffenheitsfaktor. Die schockierende Erkenntnis, daß die endlosen Erzählungen am Eßtisch die Wirklichkeit nicht nur beschönigten, sondern "nahezu fiktiv" waren, hat die studierte Germanistin Dagmar Leupold dazu verführt, sich ihrem Vater mit den Mitteln der Textkritik und des historischen Kommentars zu nähern. So ist zwischen abstrakten akademischen Formulierungen und verschachtelten Sätzen schon bald nichts mehr von dem schlichten und schönen Tonfall zu hören, mit dem der Roman zunächst so vielversprechend begonnen hatte, und darüber hinaus finden sich nun auch so sonderbare Stilblüten wie die Bemerkung hinsichtlich der "Masterpoints", die der Vater während seines Fronteinsatzes im übertragenen Sinne gesammelt haben soll.
"Nach den Kriegen" scheitert jedoch nicht allein an den sprachlichen Ungeschicklichkeiten, sondern vor allem an seinen intellektuellen Anstrengungen. Akribisch spürt Dagmar Leupold in den Aufzeichnungen ihres Vaters unter anderem Zitate aus den Tagebüchern von Ernst Jünger und später auch aus Gottfried Benns Sammlung "Der Ptolemäer" auf und versucht nachzuweisen, daß auch "R. L.", wie sie ihn jetzt nur noch nennt, gegenüber dem "Dritten Reich" keine Stellung, sondern nur eine Pose eingenommen hat. Darüber hinaus hat sie die Forschungsliteratur gewälzt und führt unter anderem Christopher Brownings Wort vom "gedemütigten Nationalismus" an, um sich die "strukturell empfundene Zurücksetzung" der Deutschen zu erklären, für die der verlorene Krieg vor allem eine persönliche Niederlage war.
Nur ihren Vater, den sie in den ersten Kapiteln in so eindringlichen Bildern beschrieben hatte, verliert Dagmar Leupold bei diesen immer mehr ins Allgemeine gehenden Betrachtungen aus den Augen. Der verkrüppelte und vom Leben enttäuschte Rudolf Leupold, dem die Handgranate eines serbischen Partisanen nicht einmal genug Finger gelassen hatte, um seine Tochter bei einem Spaziergang an die Hand zu nehmen, wird von Seite zu Seite mehr zu einem blassen, körperlosen Diskurs: "radikal diskontinuierlich einerseits und erschreckend kontinuierlich andererseits". Mehr läßt sich über ihn zuletzt nicht sagen. Wenn das die Sprache der Erinnerung ist, wird noch vieles im verborgenen bleiben.
KOLJA MENSING
Dagmar Leupold "Nach den Kriegen. Roman eines Lebens". Verlag C. H. Beck, München 2004. 220 S. , geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vater, philologisch betrachtet: Dagmar Leupolds Familiengeschichte
"Er hat alles, was Sie vom Rauchen haben können", erklärt die Krankenschwester der jungen Frau, die aus Amerika gekommen ist, um von ihrem sterbenden Vater Abschied zu nehmen. Beim Kauf ihres Tickets mußte sie sich auf ein festes Datum für den Rückflug festlegen, doch der Tod hält sich nicht an Termine. Nur wenige Tage nach ihrer Rückkehr bucht sie darum einen zweiten Flug nach Deutschland, zur Beerdigung. Später wird sie sich an die großen Erwartungen erinnern, die mit dieser Reise verbunden waren: "Ich hatte mir Klarheit vom Ende erhofft."
In ihrem autobiographisch gefärbten Roman "Nach den Kriegen" macht sich die Schriftstellerin Dagmar Leupold fast zwanzig Jahre nach dem Tod ihres Vaters auf die Suche nach seiner Vergangenheit. Rudolf Leupold, der 1986 als pensionierter Studienrat für Mathematik und Physik in Mainz verstarb, war 1913 im schlesischen Bielitz zur Welt gekommen, und sowohl sein Geburtsort als auch die "Narben der Einschüsse", die die Tochter im Krankenhaus zum letzten Mal betrachtet, führen zurück in die Nazi-Zeit. Ähnlich wie Wibke Bruhns' großer Erfolg "Meines Vaters Land" gehört also auch "Nach den Kriegen" zu den derzeit beliebten Familienrecherchen, die den Verstrickungen der Eltern und Großeltern gewidmet sind.
Zunächst geht es in diesem "Roman eines Lebens" allerdings um den Alltag der Familie in den fünfziger und sechziger Jahren. In knapper und angenehm distanzierter Prosa erinnert sich die 1955 geborene Dagmar Leupold an das "heikle Zusammenleben", das vor allem durch die Wutausbrüche des Vaters bestimmt ist. Während der gemeinsamen Mahlzeiten schimpft er auf unfähige Kollegen und Vorgesetzte, zieht sich am Nachmittag stundenlang zurück, um der Mutter durch einen dichten Schleier von Zigarettenrauch hindurch Briefe, Beschwerden und ganze Bücher zu diktieren, und verbringt seine schlaflosen Nächte damit, die knarrenden Treppen auf und ab zu laufen, bis er schließlich erschöpft am Küchentisch zusammenbricht: "Die Finger nikotingelb, vor ihm der volle Aschenbecher, die Schachtel HB, die Tasse Kaffee, Zuckerreste am Boden."
Die Jahre des Wirtschaftswunders vergehen in einer Mischung aus "Bausparen und schlechter Laune". Weder das Eigenheim noch die teuren, auf Raten gekauften Möbel können die Verletzungen aufwiegen, die der Vater als Invalide und Heimatvertriebener glaubt erfahren zu haben. "Angriffe, Lazarette, Schußwunden und Schlesien" stehen darum immer wieder im Mittelpunkt seiner endlosen, verbitterten Monologe, und dieses Übermaß der väterlichen Erinnerung läßt die Tochter Jahre später mißtrauisch werden: "Es gibt ein Erzählen, das darauf abzielt, den Zuhörer von der berichteten Erfahrung auszuschließen, statt ihn daran teilnehmen zu lassen." Mit diesem Satz leitet Dagmar Leupold den zweiten Teil ihres Romans ein, in dem sie sich nach der Beerdigung als "nachgelassene Tochter" den Tagebüchern des Vaters widmet: Klarheit, vom Ende her.
Es warten unangenehme Entdeckungen auf sie. Der Vater, der sich in den sechziger Jahren als notorischer Querulant mit seinen Sympathien für die studentische Linke brüstete und Willy Brandt wählte, war 1935 in seiner Heimatstadt Bielsko in die völkisch ausgerichtete "Jungdeutsche Partei für Polen" eingetreten. Nach dem Überfall auf Polen tritt er in den Dienst der Verwaltung und nimmt im Generalgouvernement die Stelle eines "kommissarischen Kreisschulrates" an. "Ich sehne mich nach der Führung über Menschen", vertraut er kurz vor seiner Einberufung in die Wehrmacht seinem Tagebuch an. "Wie kann ein kluger, gebildeter Mann so verblendet sein", fragt sich Dagmar Leupold bei der Lektüre, "daß er Krieg und Völkermord nicht mit einem einzigen kritischen Wort kommentiert, sondern diese als eine Wegbereitung wahrnimmt, die ihm das Erreichen seiner ehrgeizigen Ziele wesentlich erleichtert?"
Auf der Suche nach einer Antwort auf diese bereits etwas umständlich formulierte Frage verwandelt sich "Nach den Kriegen" von einem Roman mehr oder weniger in eine literaturwissenschaftliche Seminararbeit mit hohem Betroffenheitsfaktor. Die schockierende Erkenntnis, daß die endlosen Erzählungen am Eßtisch die Wirklichkeit nicht nur beschönigten, sondern "nahezu fiktiv" waren, hat die studierte Germanistin Dagmar Leupold dazu verführt, sich ihrem Vater mit den Mitteln der Textkritik und des historischen Kommentars zu nähern. So ist zwischen abstrakten akademischen Formulierungen und verschachtelten Sätzen schon bald nichts mehr von dem schlichten und schönen Tonfall zu hören, mit dem der Roman zunächst so vielversprechend begonnen hatte, und darüber hinaus finden sich nun auch so sonderbare Stilblüten wie die Bemerkung hinsichtlich der "Masterpoints", die der Vater während seines Fronteinsatzes im übertragenen Sinne gesammelt haben soll.
"Nach den Kriegen" scheitert jedoch nicht allein an den sprachlichen Ungeschicklichkeiten, sondern vor allem an seinen intellektuellen Anstrengungen. Akribisch spürt Dagmar Leupold in den Aufzeichnungen ihres Vaters unter anderem Zitate aus den Tagebüchern von Ernst Jünger und später auch aus Gottfried Benns Sammlung "Der Ptolemäer" auf und versucht nachzuweisen, daß auch "R. L.", wie sie ihn jetzt nur noch nennt, gegenüber dem "Dritten Reich" keine Stellung, sondern nur eine Pose eingenommen hat. Darüber hinaus hat sie die Forschungsliteratur gewälzt und führt unter anderem Christopher Brownings Wort vom "gedemütigten Nationalismus" an, um sich die "strukturell empfundene Zurücksetzung" der Deutschen zu erklären, für die der verlorene Krieg vor allem eine persönliche Niederlage war.
Nur ihren Vater, den sie in den ersten Kapiteln in so eindringlichen Bildern beschrieben hatte, verliert Dagmar Leupold bei diesen immer mehr ins Allgemeine gehenden Betrachtungen aus den Augen. Der verkrüppelte und vom Leben enttäuschte Rudolf Leupold, dem die Handgranate eines serbischen Partisanen nicht einmal genug Finger gelassen hatte, um seine Tochter bei einem Spaziergang an die Hand zu nehmen, wird von Seite zu Seite mehr zu einem blassen, körperlosen Diskurs: "radikal diskontinuierlich einerseits und erschreckend kontinuierlich andererseits". Mehr läßt sich über ihn zuletzt nicht sagen. Wenn das die Sprache der Erinnerung ist, wird noch vieles im verborgenen bleiben.
KOLJA MENSING
Dagmar Leupold "Nach den Kriegen. Roman eines Lebens". Verlag C. H. Beck, München 2004. 220 S. , geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Die Lektüre eines Buches beginnt mit dem Umschlag, der im Fall des neuen Romans von Damar Leupold schön und treffend zugleich ausgefallen ist, schwärmt Angelika Overath. Eine Collage, welche die Beziehung einer jüngeren Frau zu einem älteren Mann ins Bild setzt, der wie in einer anderen Zeit zu verschwinden droht, so Overath, womit die Rezensentin die Geschichte des Buches schon umrissen hätte: die Erzählerin Dagmar Leupold erstellt ein Suchbild ihres Vaters Rudolf Leupold, der stärker in den Nationalsozialismus verwickelt war, als die Tochter ahnte. Zugleich unternimmt sie es, seinen großen Traum eines autobiografischen "Roman eines Lebens" zu Ende zu führen. Als die literarisch eindrücklichsten Passagen sind bei Overath diejenigen aus Dagmar Leupolds Kindheit haften geblieben; später wird das Buch immer intellektueller, meint die Rezensentin keineswegs abfällig, da konzentriere sich Leupold auf ihre Rolle als Historikerin, die Wehrmachtsmaterialien auswertet, oder als Literaturkritikerin, die in den begonnenen Texten des Vaters Verwandtschaften zu Jünger, Benn und Thomas Mann aufspürt. Die Suche scheitere in allen Ehren, fasst Overath zusammen, statt der Wahrheit über den Vater zeige sich ein "mentalitätsgeschichtlicher Dunstkreis", den Dagmar Leupold möglichst akribisch und unsentimental erforsche.
© Perlentaucher Medien GmbH
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