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Produktdetails
  • Verlag: Lithos Verlag
  • Seitenzahl: 150
  • Deutsch
  • Abmessung: 195mm
  • Gewicht: 240g
  • ISBN-13: 9783884800294
  • ISBN-10: 3884800299
  • Artikelnr.: 10162076
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2001

Die Fragen der Fliege
Zeitzeugnis: Wilhelm Hoffmann sucht im Mai 1945 nach Gründen

"Fünfeinhalb, nein zwölf Jahre immer wieder die Frage: Wann kommt das Ende?" So beginnt ein Text, den Wilhelm Hoffmann, später Direktor der Württembergischen Landesbibliothek, Präsident der Schillergesellschaft und Mitbegründer des Hölderlin-Archivs, Ende April 1945 begonnen hat. 1946 in zehntausend Exemplaren veröffentlicht, war der Band nach einem Jahr vergriffen. Unlängst hat ihn der derzeitige Direktor der Württembergischen Landesbibliothek, Hannsjörg Kowark, neu herausgegeben. Mit Recht. Das Buch ist ein politisch-historisches Ereignis.

Nicht auf den ersten flüchtigen Blick. Hoffmann fragt nach den Gründen für die deutsche Katastrophe. Darüber gibt es inzwischen Bibliotheken. Ein großer Schriftsteller ist er auch nicht, wenn auch auf klassische Art sehr gebildet. Man erfährt nicht einmal, was Hoffmann zwischen 1933 und 1945 getan hat. Diese Rücknahme der eigenen Person hat den Vorteil, daß Hoffmann sich nicht zu rechtfertigen und niemanden anzuklagen braucht. Trotzdem wird seine Zeitgenossenschaft an der Patina des Textes sichtbar. Man sieht Schlapphüte, hört, wie sich Stimmen überschlagen, spürt leeres Pathos. Wer sich auf das Buch einläßt, begibt sich auf eine Zeitreise in den Sommer 1945 und muß einsehen: So war es! Der Text unterläuft das Eltern-Argument "Wer es nicht erlebt hat, kann es nicht verstehen": Das macht ihn zum Ereignis.

Wie schlimm es war, zeigt schon der erste Satz. Fünfeinhalb, nein zwölf Jahre Warten auf das Ende. Also nicht nur: Was war scheußlicher, das NS-Regime oder der Krieg? Sondern: Beides ist nach der Katastrophe nicht zu unterscheiden, ebensowenig Individuum und Gesellschaft. Damit erledigt sich die Kollektivschuldfrage. Alle haben mitgemacht, und alle müssen die Folgen tragen. Ob es Alternativen gab, ist gleichgültig. Die wichtigste Alternative, die Öffentlichkeit, hatten die Nazis ohnehin zerstört. Die Urteile von Emigranten - damals ein aufwühlendes Thema - hält Hoffmann deshalb notwendig für schief. Wer nur beobachtet, erlebt persönliche Freiheitsberaubung anders als der Eingesperrte. Damit ist weder das Eltern-Argument noch das Mitleiden, noch die Größe des Schmerzes gemeint, sondern die existentielle Betroffenheit. Und dann eine Frage, die man heute nicht mehr sinnvoll stellen kann, die aber damals zur Vernunft gehörte: War der Mai 1945 wirklich das Ende? Wir wußten doch nicht, wie arm wir geworden waren. Was würden wir vermissen müssen?

Das Verzweifelte dieser Fragen macht verständlich, daß für Hoffmann der Grund für die Katastrophe nur in einer Krankheit bestanden haben kann, deren Ursache sich in der Entwicklung des "Gesellschaftskörpers" finden lassen müsse. Heute wissen wir, daß man die Entwicklung der Gesamtgesellschaft praktisch nicht beobachten kann. Die Beobachtung würde die Entwicklung stören. Es gibt auch keinen Standpunkt außerhalb der Gesellschaft. Gerät der Betrachter zu dicht an sie heran, verhält sie sich wie ein Pferd, auf dessen Kruppe sich eine Fliege niederläßt. Hoffmann ist nun ein viel zu genauer Analytiker, als daß er die Fragwürdigkeit seiner Bemühungen nicht ahnte. Ihm "wird immer ein furchtbarer Stachel bleiben, daß die Menschen des 20. Jahrhunderts, die den Anspruch erheben, zivilisiert und kultiviert zu sein, einander eben die Mittel und Güter der Zivilisation und Kultur vernichtet haben".

Wenn Hoffmanns Analyse auch viele bedenkenswerte Einsichten enthält - die Ausschaltung der Öffentlichkeit als Instrument der Macht, der Selbstaufbau einer Überlebensstimmung, die Moralisierung der politischen Diskussion schon in der Weimarer Zeit -, im ganzen erinnert sie an die Gesellschaftskritik der zwanziger Jahre. Selbstsucht, Vermassung, Spezialisierung, darin sieht er die Gründe für das Aufkommen des Nationalsozialismus. Leider könnten ihm Nationalsozialisten entgegnen: Richtig, das wollten wir bekämpfen. Aber wenn man heute etwa die Pläne der Attentäter vom 20. Juli 1944 für die Zeit danach liest, neigt man ja auch dazu, im Scheitern des Attentats eine gewisse Weisheit der Geschichte zu sehen. Prinzipiell kann eben niemand klüger sein als seine Zeit. Aber noch Hoffmanns Irrtümer lehren uns, seine Zeit besser zu verstehen. Unbewegt wird niemand sein Buch aus der Hand legen. Für Zeithistoriker ist es ein Zeugnis ersten Ranges. Soziologen und Psychologen könnten daran die deutsche "Unfähigkeit zu trauern" überprüfen. Und der Bürger erkennt den Mitbürger.

GERD ROELLECKE.

Wilhelm Hoffmann: "Nach der Katastrophe". Neu hrsg. zum 100. Geburtstag des Autors von Hannsjörg Kowark. Lithos Verlag, Stuttgart 2001. 152 S., geb., 24,- DM.

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