Baeck nach dem Holocaust
Texte der Ökumene
Leo Baeck hätte schweigen können. Stattdessen: Nach Theresienstadt und nach den Untaten an seinem Volk spricht er die Deutschen und das Christentum neu an. Die Texte des fünften Bandes der Leo Baeck-Werke dokumentieren diese kritische Begegnung. Zugleich zeigen sie, wie der große jüdische Denker Identität und Aufgabe des Judentums in einer Welt nach Holocaust und Krieg neu bestimmt.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Texte der Ökumene
Leo Baeck hätte schweigen können. Stattdessen: Nach Theresienstadt und nach den Untaten an seinem Volk spricht er die Deutschen und das Christentum neu an. Die Texte des fünften Bandes der Leo Baeck-Werke dokumentieren diese kritische Begegnung. Zugleich zeigen sie, wie der große jüdische Denker Identität und Aufgabe des Judentums in einer Welt nach Holocaust und Krieg neu bestimmt.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Leo Baeck war Rabbiner, Überlebender des Konzentrationslagers Theresienstadt - und Philosoph. Nur als letzterer präsentiert er sich in der Schrift "Der Sinn der Geschichte" von 1946, in seinem großen Vortrag "Individuum ineffabile" von 1947. Von seinem Schicksal, von seinem Judentum ist darin, wie Friedrich Niewöhner betont, mit keinem Wort die Rede, es zählt allein "die philosophische Argumentation". Deren Zentrum liegt in der Auffassung vom einzelnen als "unerklärlichen" Individuum, dies ist, so Baeck, die Voraussetzung der Menschlichkeit. Die Frage der "Wiedergeburt" wird strikt als die nach dem Verhältnis des Individuums zu seinem "Generationserbe" verhandelt - und in seinem Vortrag "Das Judentum auf alten und neuen Wegen" (1949) erscheint die Schoa keineswegs als Zäsur. Dem Denken der Zukunft, um das es Baeck ging, stand, so Niewöhner, die Beschäftigung mit der jüngsten Vergangenheit im Wege: "Er sah in der Schoa und im Reden über sie einfach keinen Sinn." Der Rezensent bedauert, dass in diesem Band der zweite Teil von "Der Sinn der Geschichte" fehlt, und zitiert die letzten Sätze, die einen "Weg der Genesung", einen Weg in die Zukunft beschreiben: "Auf ihm hat die Geschichte eines Volkes den neuen Weg, auf dem sie nicht trennt, sondern verbindet, diesen Weg durch Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Frieden."
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.05.2002Tigersprung ins Zukünftige
Warum die Schoa für ihn kein Thema war: Leo Baecks Geschichtsdeutung als Kunst des Ausweichens
Bei Carl Habel in Berlin erschien 1946 eine kleine Schrift mit dem Titel "Der Sinn der Geschichte". Der erste Teil dieser Broschüre - drei Jahre früher geschrieben als Karl Jaspers' Studie "Vom Ursprung und Ziel der Geschichte" - enthält drei Vorträge aus der Sendereihe "Lebendiges Abendland" des Deutschen Dienstes des Londoner Rundfunks vom Mai desselben Jahres. Als Autor zeichnet Leo Baeck. Er beruft sich bei diesem geschichtsphilosophischen Versuch auf Ranke und Spengler, auf Rousseau und Kant - nichts in dieser Schrift läßt erkennen, daß der Autor ein Jude ist, ein Rabbiner im Alter von dreiundsiebzig Jahren, daß er ein Überlebender des Konzentrationslagers Theresienstadt ist, daß er zehn Jahre lang (1933 bis 1943) Präsident der Reichsvertretung der deutschen Juden war, daß er 1941 von der SS gezwungen worden war, ein Manuskript über "Die Rechtsstellung der Juden in Europa" zu verfassen (F.A.Z. vom 25. Juli 2001).
Mit der Berliner Schrift wendet sich Baeck ein Jahr nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager erstmals wieder an die Deutschen. Er reflektiert das Verhältnis von Macht und Recht, und er sieht den Weg der Geschichte als einen beständig fortlaufenden Weg des Rechts. Hiermit verbindet Baeck einen weiteren Gedanken: Jeder Mensch ist "ein unerklärliches Individuum" (ein individuum ineffabile) mit je eigenem Recht. "Die nüchterne, bestimmte Anerkennung dieser menschlichen Tatsache, das ist die Vorbedingung aller Menschlichkeit. Wo diese Tatsache und das aus ihr folgende Recht zur Unterscheidung verkannt, verworfen und verleugnet wird, ... dort setzt alsbald Schritt um Schritt die Unmenschlichkeit ein." Baecks eigene Erfahrung unter den Nationalsozialisten könnten hierfür Beispiele geben - doch Baeck sagt nichts davon, er klagt nicht an, er richtet nicht und er verwirft nicht. Für ihn, den Schüler Wilhelm Diltheys, zählt allein die philosophische Argumentation.
Das Recht des Individuums hat Baeck weiterhin beschäftigt. Im August 1947 hält er in Ascona bei der Eranos-Tagung einen großen deutschen Vortrag mit dem Titel "Individuum ineffabile". In diesem Vortrag zitiert er zwar einmal den Talmud, aber ansonsten spricht auch hier nur der Philosoph, nicht der Rabbiner und der Präsident des "Council for the Protection of the Rights and Interests of Jews from Germany". In äußerst dichter Sprache reflektiert Baeck die Möglichkeiten für individuelles Dasein; es ist eine Art Existenzphilosophie, die er hier vorträgt. Diese ist die einzige Philosophie, von der Baeck meint, sie sei mit dem Judentum kompatibel.
Doch vom Judentum spricht Baeck auch in Ascona nicht. Im ersten Teil seines Vortrags entfaltet er Gedanken, die er schon in seiner Geschichtsschrift angedeutet hatte, den zweiten Teil überschreibt er dann "Wiedergeburt". Nicht von Seelenwanderungsthesen handelt dieser Vortrag, sondern von der Frage, wie das Verhältnis eines Individuums zu seinem "Generationserbe" zu bestimmen sei. Die Zuhörer in Ascona 1947 müssen bei dieser Frage Baecks, gerade im Wissen um seine Vergangenheit, den Atem angehalten haben - doch Baeck verläßt die philosophisch-psychologische Argumentation auch nicht mit einem Nebensatz. Er spricht von der der Jugend wiedergeborenen Kraft zu "neuer sittlicher Entscheidung", von der "Kraft der Umkehr und des Anfangs", von der Möglichkeit eines "neuen Weges" der neuen Generation.
In der Literatur zu Baeck wird immer wieder auf ein Interview Baecks mit der deutsch-jüdischen Zeitung "Aufbau" in New York im Jahre 1945 verwiesen, in dem Baeck gesagt hat: "Die Geschichte des deutschen Judentums ist definitiv zu Ende. Und die Uhr kann nicht zurückgestellt werden." Hinweise auf die Schrift "Der Sinn der Geschichte" und den Eranos-Aufsatz findet man dagegen kaum, selbst in dem Band zur Frankfurter Ausstellung "Leo Baeck" (2001) steht kein Hinweis auf diese Schriften. Diese bilden jedoch den Hintergrund dessen, was Baeck später zum Verhältnis von Deutschtum und Judentum sagen wird.
Auch in seinem Darmstädter Vortrag von 1949 ("Das Judentum auf alten und neuen Wegen") thematisiert Baeck die Wiedergeburt, diesmal jedoch die jüdische, die sich nach Baeck gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu vollziehen begann. Daß diese Zeit auch die Zeit des sich formenden rassischen Antisemitismus war, sagt Baeck nicht, auch liest man nichts von dem Leid der Juden unter dem Nationalsozialismus. Es heißt schlicht, "in dieser unserer Zeit" habe eine neue Epoche jüdischen Lebens begonnen. Durch das "Zurückweichen der Großeltern" und die "Ferne der Eltern" seien die Kinder, die neu Geborenen, dazu fähig gewesen.
Erstmals 1952 spricht Baeck auf deutsch und in Deutschland öffentlich über "Israel und das deutsche Volk" (in der Zeitschrift "Merkur"). Hatte er in New York gesagt, die Uhr könne nicht zurückgestellt werden, meint er jetzt, auch wenn die Zeit sich nicht umkehren lasse, so sinke "sie doch in ein Gestern hinab, sie wird zur Vergangenheit". Und dann fordert Baeck mit großer Entschiedenheit, daß "im Namen des Gottesgebotes und der Menschenzukunft" der Friede zwischen Israel und dem deutschen Volk geschlossen werden solle. Er kann diesen Frieden fordern, weil er in die Zukunft der Menschen blickt und nicht allein in die Vergangenheit.
Baeck, so scheint es, klammert das Eingedenken der Vergangenheit zwar nicht ganz aus, aber er macht es nicht zum Probierstein für die Zukunft: "Nur wer sich selber die Binde vor die Augen legt, kann das Gute, Reine und Edle übersehen oder verkennen, das neben manch anderem jetzt dort zu finden ist. Aber das bleibt der Fluch einer schwarzen Zeit, daß sie da, wo sie geherrscht hat, auch nachher die rechte Wirklichkeit einer Gegenwart nicht aufkommen läßt; daß so manches, was im Guten oder Unguten sich regt, bisweilen so unwirklich erscheint. So bleibt nur der Appell an die Zukunft." Gerade der Blick in die jüngste Vergangenheit verstellt nach Baeck die Sicht auf das Neue, das Wiedergeborene, den neuen Anfang - dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch die Schriften Leo Baecks nach 1945. Deshalb schreibt er so gut wie gar nicht über die Zeit zwischen 1933 und 1945, auch nicht über seine eigene jüngste Vergangenheit. Man hat den Eindruck, Baeck unterziehe sich bewußt einer Askese. In seinen Vorträgen über die "Epochen der jüdischen Geschichte" (1956) formuliert er, nur dann könne die Geschichte des Judentums erkannt und geschrieben werden, "wenn man diese Wiedergeburt, die immer sich erneuernden Epochen erkennt".
In den letzten Jahren ist viel über die sogenannte Schoa als eine Wendezeit für das Judentum geschrieben worden, und auch der Untertitel dieses fünften Bandes der Werke Baecks ("Nach der Schoa") sowie die einleitenden Texte der Herausgeber dieses Bandes legen eine solche Sicht nahe. Dennoch zeigt die Lektüre dieser späten Schriften, daß eine solche Einteilung - vor und nach der Schoa - Baeck nicht gerecht wird, denn er zieht ganz andere Grenzen. 1946 referiert Baeck in London über "Changes in Jewish Outlook"; hätte er die Schoa als Wende angesehen, so hätte er das hier sagen müssen. Doch er erwähnt sie nicht. Wenn er von "unseren Zeiten" oder der "new era in which we live" spricht, meint er damit Zeiten, die in der frühen Neuzeit und im neunzehnten Jahrhundert begonnen und die Schoa überdauert haben. Die Schoa ist für Baeck kein Thema, wie schon ein Schüler 1948 feststellen mußte: "Meiner vorsichtigen Frage über die Schoa-Zeit wich er genauso vorsichtig aus." Dieses Ausweichen ist kein Verheimlichen, sondern entspringt Baecks geschichtsphilosophischer Einsicht, die Zukunft denken zu müssen. Baecks Motto steht wie beiläufig in seiner Schrift "Der Sinn der Geschichte": "Dem Menschen sich zuzuwenden, das ist die Aufgabe, und das ist die Rettung, der Weg zur Zukunft."
Baecks im Auftrage der Gestapo 1941 bis 1943 verfaßtes Manuskript über die Rechtsstellung der Juden in Europa (F.A.Z. vom 12. September 2001) hält das Leo Baeck Institut unter Verschluß, als stünde in ihm etwas, was verheimlicht werden müßte, um Baecks Ruf nicht zu gefährden. Baeck selbst hat zwar nicht darüber geredet, aber verheimlichen wollte er wohl auch nichts. Er sah in der Schoa und im Reden über sie einfach keinen Sinn. Da im vorliegenden Buch der zweite Teil von Baecks Schrift vom "Sinn der Geschichte" leider nicht wieder abdruckt ist, folgen hier die abschließenden Sätze Baecks über das Altern von Völkern.
"Wenn wir zurückblicken auf die hundert Jahre, die hinter uns liegen, dann sehen wir, wie es das Schicksal manch eines Volkes geworden ist, daß es zu rasch groß werden wollte und darüber zu rasch alt geworden ist, und wie es dann oft in der Abwendung von Moral und Gottesgebot krampfhaft eine Jugend beweisen wollte, um darüber nur noch älter zu werden. Der Weg zum rechten Frieden ist ein Weg der Genesung, der Genesung auch von den Übertreibungen. Auf ihm erwacht und wächst die gesunde Kraft wieder, in der ein Leben sich erneut. Auf ihm hat die Geschichte eines Volkes den neuen Weg, auf dem sie nicht trennt, sondern verbindet, diesen Weg durch Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Frieden."
FRIEDRICH NIEWÖHNER
Leo Baeck: "Werke". Band 5: "Nach der Schoa - Warum sind Juden in der Welt? Schriften aus der Nachkriegszeit. Herausgegeben von Albert H. Friedlander und Bertold Klappert. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2002. 558 S., geb., 115,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum die Schoa für ihn kein Thema war: Leo Baecks Geschichtsdeutung als Kunst des Ausweichens
Bei Carl Habel in Berlin erschien 1946 eine kleine Schrift mit dem Titel "Der Sinn der Geschichte". Der erste Teil dieser Broschüre - drei Jahre früher geschrieben als Karl Jaspers' Studie "Vom Ursprung und Ziel der Geschichte" - enthält drei Vorträge aus der Sendereihe "Lebendiges Abendland" des Deutschen Dienstes des Londoner Rundfunks vom Mai desselben Jahres. Als Autor zeichnet Leo Baeck. Er beruft sich bei diesem geschichtsphilosophischen Versuch auf Ranke und Spengler, auf Rousseau und Kant - nichts in dieser Schrift läßt erkennen, daß der Autor ein Jude ist, ein Rabbiner im Alter von dreiundsiebzig Jahren, daß er ein Überlebender des Konzentrationslagers Theresienstadt ist, daß er zehn Jahre lang (1933 bis 1943) Präsident der Reichsvertretung der deutschen Juden war, daß er 1941 von der SS gezwungen worden war, ein Manuskript über "Die Rechtsstellung der Juden in Europa" zu verfassen (F.A.Z. vom 25. Juli 2001).
Mit der Berliner Schrift wendet sich Baeck ein Jahr nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager erstmals wieder an die Deutschen. Er reflektiert das Verhältnis von Macht und Recht, und er sieht den Weg der Geschichte als einen beständig fortlaufenden Weg des Rechts. Hiermit verbindet Baeck einen weiteren Gedanken: Jeder Mensch ist "ein unerklärliches Individuum" (ein individuum ineffabile) mit je eigenem Recht. "Die nüchterne, bestimmte Anerkennung dieser menschlichen Tatsache, das ist die Vorbedingung aller Menschlichkeit. Wo diese Tatsache und das aus ihr folgende Recht zur Unterscheidung verkannt, verworfen und verleugnet wird, ... dort setzt alsbald Schritt um Schritt die Unmenschlichkeit ein." Baecks eigene Erfahrung unter den Nationalsozialisten könnten hierfür Beispiele geben - doch Baeck sagt nichts davon, er klagt nicht an, er richtet nicht und er verwirft nicht. Für ihn, den Schüler Wilhelm Diltheys, zählt allein die philosophische Argumentation.
Das Recht des Individuums hat Baeck weiterhin beschäftigt. Im August 1947 hält er in Ascona bei der Eranos-Tagung einen großen deutschen Vortrag mit dem Titel "Individuum ineffabile". In diesem Vortrag zitiert er zwar einmal den Talmud, aber ansonsten spricht auch hier nur der Philosoph, nicht der Rabbiner und der Präsident des "Council for the Protection of the Rights and Interests of Jews from Germany". In äußerst dichter Sprache reflektiert Baeck die Möglichkeiten für individuelles Dasein; es ist eine Art Existenzphilosophie, die er hier vorträgt. Diese ist die einzige Philosophie, von der Baeck meint, sie sei mit dem Judentum kompatibel.
Doch vom Judentum spricht Baeck auch in Ascona nicht. Im ersten Teil seines Vortrags entfaltet er Gedanken, die er schon in seiner Geschichtsschrift angedeutet hatte, den zweiten Teil überschreibt er dann "Wiedergeburt". Nicht von Seelenwanderungsthesen handelt dieser Vortrag, sondern von der Frage, wie das Verhältnis eines Individuums zu seinem "Generationserbe" zu bestimmen sei. Die Zuhörer in Ascona 1947 müssen bei dieser Frage Baecks, gerade im Wissen um seine Vergangenheit, den Atem angehalten haben - doch Baeck verläßt die philosophisch-psychologische Argumentation auch nicht mit einem Nebensatz. Er spricht von der der Jugend wiedergeborenen Kraft zu "neuer sittlicher Entscheidung", von der "Kraft der Umkehr und des Anfangs", von der Möglichkeit eines "neuen Weges" der neuen Generation.
In der Literatur zu Baeck wird immer wieder auf ein Interview Baecks mit der deutsch-jüdischen Zeitung "Aufbau" in New York im Jahre 1945 verwiesen, in dem Baeck gesagt hat: "Die Geschichte des deutschen Judentums ist definitiv zu Ende. Und die Uhr kann nicht zurückgestellt werden." Hinweise auf die Schrift "Der Sinn der Geschichte" und den Eranos-Aufsatz findet man dagegen kaum, selbst in dem Band zur Frankfurter Ausstellung "Leo Baeck" (2001) steht kein Hinweis auf diese Schriften. Diese bilden jedoch den Hintergrund dessen, was Baeck später zum Verhältnis von Deutschtum und Judentum sagen wird.
Auch in seinem Darmstädter Vortrag von 1949 ("Das Judentum auf alten und neuen Wegen") thematisiert Baeck die Wiedergeburt, diesmal jedoch die jüdische, die sich nach Baeck gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu vollziehen begann. Daß diese Zeit auch die Zeit des sich formenden rassischen Antisemitismus war, sagt Baeck nicht, auch liest man nichts von dem Leid der Juden unter dem Nationalsozialismus. Es heißt schlicht, "in dieser unserer Zeit" habe eine neue Epoche jüdischen Lebens begonnen. Durch das "Zurückweichen der Großeltern" und die "Ferne der Eltern" seien die Kinder, die neu Geborenen, dazu fähig gewesen.
Erstmals 1952 spricht Baeck auf deutsch und in Deutschland öffentlich über "Israel und das deutsche Volk" (in der Zeitschrift "Merkur"). Hatte er in New York gesagt, die Uhr könne nicht zurückgestellt werden, meint er jetzt, auch wenn die Zeit sich nicht umkehren lasse, so sinke "sie doch in ein Gestern hinab, sie wird zur Vergangenheit". Und dann fordert Baeck mit großer Entschiedenheit, daß "im Namen des Gottesgebotes und der Menschenzukunft" der Friede zwischen Israel und dem deutschen Volk geschlossen werden solle. Er kann diesen Frieden fordern, weil er in die Zukunft der Menschen blickt und nicht allein in die Vergangenheit.
Baeck, so scheint es, klammert das Eingedenken der Vergangenheit zwar nicht ganz aus, aber er macht es nicht zum Probierstein für die Zukunft: "Nur wer sich selber die Binde vor die Augen legt, kann das Gute, Reine und Edle übersehen oder verkennen, das neben manch anderem jetzt dort zu finden ist. Aber das bleibt der Fluch einer schwarzen Zeit, daß sie da, wo sie geherrscht hat, auch nachher die rechte Wirklichkeit einer Gegenwart nicht aufkommen läßt; daß so manches, was im Guten oder Unguten sich regt, bisweilen so unwirklich erscheint. So bleibt nur der Appell an die Zukunft." Gerade der Blick in die jüngste Vergangenheit verstellt nach Baeck die Sicht auf das Neue, das Wiedergeborene, den neuen Anfang - dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch die Schriften Leo Baecks nach 1945. Deshalb schreibt er so gut wie gar nicht über die Zeit zwischen 1933 und 1945, auch nicht über seine eigene jüngste Vergangenheit. Man hat den Eindruck, Baeck unterziehe sich bewußt einer Askese. In seinen Vorträgen über die "Epochen der jüdischen Geschichte" (1956) formuliert er, nur dann könne die Geschichte des Judentums erkannt und geschrieben werden, "wenn man diese Wiedergeburt, die immer sich erneuernden Epochen erkennt".
In den letzten Jahren ist viel über die sogenannte Schoa als eine Wendezeit für das Judentum geschrieben worden, und auch der Untertitel dieses fünften Bandes der Werke Baecks ("Nach der Schoa") sowie die einleitenden Texte der Herausgeber dieses Bandes legen eine solche Sicht nahe. Dennoch zeigt die Lektüre dieser späten Schriften, daß eine solche Einteilung - vor und nach der Schoa - Baeck nicht gerecht wird, denn er zieht ganz andere Grenzen. 1946 referiert Baeck in London über "Changes in Jewish Outlook"; hätte er die Schoa als Wende angesehen, so hätte er das hier sagen müssen. Doch er erwähnt sie nicht. Wenn er von "unseren Zeiten" oder der "new era in which we live" spricht, meint er damit Zeiten, die in der frühen Neuzeit und im neunzehnten Jahrhundert begonnen und die Schoa überdauert haben. Die Schoa ist für Baeck kein Thema, wie schon ein Schüler 1948 feststellen mußte: "Meiner vorsichtigen Frage über die Schoa-Zeit wich er genauso vorsichtig aus." Dieses Ausweichen ist kein Verheimlichen, sondern entspringt Baecks geschichtsphilosophischer Einsicht, die Zukunft denken zu müssen. Baecks Motto steht wie beiläufig in seiner Schrift "Der Sinn der Geschichte": "Dem Menschen sich zuzuwenden, das ist die Aufgabe, und das ist die Rettung, der Weg zur Zukunft."
Baecks im Auftrage der Gestapo 1941 bis 1943 verfaßtes Manuskript über die Rechtsstellung der Juden in Europa (F.A.Z. vom 12. September 2001) hält das Leo Baeck Institut unter Verschluß, als stünde in ihm etwas, was verheimlicht werden müßte, um Baecks Ruf nicht zu gefährden. Baeck selbst hat zwar nicht darüber geredet, aber verheimlichen wollte er wohl auch nichts. Er sah in der Schoa und im Reden über sie einfach keinen Sinn. Da im vorliegenden Buch der zweite Teil von Baecks Schrift vom "Sinn der Geschichte" leider nicht wieder abdruckt ist, folgen hier die abschließenden Sätze Baecks über das Altern von Völkern.
"Wenn wir zurückblicken auf die hundert Jahre, die hinter uns liegen, dann sehen wir, wie es das Schicksal manch eines Volkes geworden ist, daß es zu rasch groß werden wollte und darüber zu rasch alt geworden ist, und wie es dann oft in der Abwendung von Moral und Gottesgebot krampfhaft eine Jugend beweisen wollte, um darüber nur noch älter zu werden. Der Weg zum rechten Frieden ist ein Weg der Genesung, der Genesung auch von den Übertreibungen. Auf ihm erwacht und wächst die gesunde Kraft wieder, in der ein Leben sich erneut. Auf ihm hat die Geschichte eines Volkes den neuen Weg, auf dem sie nicht trennt, sondern verbindet, diesen Weg durch Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Frieden."
FRIEDRICH NIEWÖHNER
Leo Baeck: "Werke". Band 5: "Nach der Schoa - Warum sind Juden in der Welt? Schriften aus der Nachkriegszeit. Herausgegeben von Albert H. Friedlander und Bertold Klappert. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2002. 558 S., geb., 115,- [Euro].
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