Ein raffiniertes literarisches Spiel mit Fiktion, Wirklichkeit und IdentitätZwei Frauen lernen sich auf einer Party kennen. Die zurückhaltende Delphine, die sich mit fremden Menschen meist sehr schwer tut, ist sofort fasziniert von der klugen und eleganten L., die als Ghostwriter arbeitet. Aus gelegentlichenTreffen werden regelmäßige, man erzählt einander das eigene Leben, spricht über Familie und Freunde, vor allem über Freundinnen. Und natürlich über Bücher und Filme, die man liebt und bewundert. Delphine ist glücklich über die Gemeinsamkeiten und fühlt sich verstanden wie schon lange nicht mehr. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit gibt sie in einem Gespräch über das Schreiben die Idee für ihr nächstes Buch preis. L. reagiert enttäuscht: Wie nur könne Delphine ihre Zeit auf eine erfundene Geschichte verschwenden? Eine Autorin ihres Formats müsse sich der Wahrheit verschreiben. Delphine ist entsetzt. L.s leidenschaftlich vorgetragene Forderung löst eine tiefe Verunsicherung in ihr aus. Bald kann sie weder Papier noch Stift in die Hand nehmen. L. scheint völlig unglücklich über das zu sein, was sie in der Freundin ausgelöst hat. Selbstlos übernimmt sie die Beantwortung von E-Mails, das Absagen von Lesungen und Interviews, das Vertrösten des Verlags, der auf einen neuen Roman wartet. Und all das in Delphines Namen. Keiner weiß davon, keiner kennt L., und so ist Delphine allein, als sie feststellt, dass L. ihr immer ähnlicher wird ...Das Hörbuch ist zeitgleich bei Random House Audio erschienen, gelesen von Martina Gedeck.Verfilmt von Roman Polanski, mit Emmanuelle Seigner und Eva Green in den Hauptrollen
»Einen so klugen Roman über das Schriftstellersein muss man erst mal schreiben.« Claudia Voigt, LITERATUR SPIEGEL »Delphine de Vigan will nicht mehr brav sein, sie hat beschlossen, uns zu täuschen. Und das kann sie verdammt gut.« Annabelle Hirsch, F. A. S. »Spannender Roman über die Macht der Bücher« Tina Rausch, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Magazin Stil Leben »Es ist ein extrem spannendes Buch, [...] ein sehr, sehr kluges Buch.« Alain Claude Sulzer, SRF KULTUR »Das Buch ist ein grandioses Spiel mit der Autofiktion, aber vor allen Dingen ist es ein Buch, das man nicht weglegen will, ein Buch, zu dem man immer zurückmuss, und seien wir ehrlich: Solche Bücher gibt es eigentlich gar nicht.« Hannah Lühmann, LITERARISCHE WELT »Vigan spielt bis hin zum Titel mit Wahrheit und Schein [...]. Hier wird daraus ein Psychothriller nach dem Geschmack von Stephen King, fast ohne Gewalt, fesselnd erzählt und gelungen übersetzt.« Rudolf von Bitter, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG »Ein überraschender, spielerischer und raffinierter Roman.« Dina Netz, DEUTSCHLANDFUNK Büchermarkt »Sehr gescheiter, interessant zu lesender Roman« Elke Heidenreich, SRF KULTUR »Großartiges Vexierspiel [...] eine großartige Story übers Schreiben« Anne Haeming, SPIEGEL ONLINE »Es ist die Geschichte, die nach der wahren Geschichte kommt - und vielleicht auch wahr ist. De Vigan hat in diesem Buch das Spielen entdeckt.« Hannah Lühmann, DIE DAME »Ganz große Erzählkunst!« Astrid Mayerle, BR DIWAN »Das Spiel der Autorin mit den komplexen Identitäten ihrer Protagonistin, deren Antagonistin und ihrer eigenen Person verwirrt, fasziniert und betört.« Jeanette Villachica, NEUE ZÜRCHER ZEITUNG »Dies ist ein verdammt gutes Buch.« Anne-Dore Krohn, RBB KULTURRADIO »Kluges und geheimnisvolles Spiel um Literatur und Wahrheit, Identität und Künstlertum. Ein wunderbarer Text.« MARTINA GEDECK »Frankreichs neue Starautorin Delphine de Vigan hat ein fesselndes Buch über eine zerstörerische Frauenfreundschaft geschrieben.« Martina Meister, DIE WELT »Ein überaus spannender Literaturkrimi und ein fulminanter Roman über das Thema Freundschaft. [...] Die Autorin spielt virtuos mit dem Doppelgängermotiv.« Jochen Kürten, DEUTSCHE WELLE »Zum Schluss hat man ein kluges Buch mit vielen wundervoll formulierten Sätzen über das Leben, das Schreiben, den Ruhm und seine Schattenseiten gelesen.« Annemarie Stoltenberg, NDR KULTUR »Täuschung ist schließlich eines der großen Motive in Delphine de Vigans subtilem Psychothriller 'Nach einer wahren Geschichte', bei dem man herrlich mitpsychologisieren kann.« Judith Liere, STERN »Ein Gefühl von Angst überkommt den Leser, atemlos blättert man um, fürchtet ums Wohl der Icherzählerin - oder doch um das der Autorin? Hoch spannend und hochvergnüglich, sich so in die Irre führen zu lassen.« Janis Voss, EMOTION »Ein fesselnder Versuch über das Autobiografische.« Hannah Lühmann, DIE WELT »Dieses als Reißer maskierte Literaturexperiment fesselt in seinen emotionalen Abgründen ebenso wie in seinen intellektuellen.« Ralf Stiftel, FREITAG »Ein beängstigendes Verwirrspiel mit Wirklichkeit und Fiktion.« Katja Engler, HAMBURGER ABENDBLATT »Auf hohem Niveau erzählt, [...] mit großer Eleganz geschrieben.« Annemarie Stoltenberg, NDR KULTUR GEMISCHTES DOPPEL »Der Bestseller aus Frankreich erzählt eine Story, in der sich Realität und Fantasie genial vermischen.« Sonja Baulig, MAXI »Raffiniert, beklemmend und unterhaltsam.« Hendrik Werner, WESER-KURIER »Ich glaube, das könnte ein echt großer Bestseller werden.« Petra Hartlieb, ORF HEUTE LEBEN »Eine eindrucksvolle Verteidigung der literarischen Imagination.« Oliver Pfohlmann, TAGESSPIEGEL »Die französische Bestsellerautorin schreibt sensationell gut und betreibt ein raffiniertes literarisches Spiel.« JOURNAL FRANKFURT »Ein toller Thriller.« Tina Uhlmann, BERNER ZEITUNG »Eine atmosphärisch dichte Geschichte um Wirklichkeit und Illusion, Gewissheit und Zweifel.« Rainer Schaper, SRF »Eine Hommage an die Literatur und daran, was sie uns schenken kann, wenn wir uns auf sie einlassen.« Anne Burgmer, KÖLNER STADT-ANZEIGER »Ein gelungener Zwitter: gleichermaßen ein raffiniertes metareflexives Spiel um Wahrheit, Erfindung und Identität wie ein packender Psychothriller.« Oliver Pfohlmann, DER STANDARD »Wieder ein Roman der französischen Autorin, der den Leser gefangen nimmt.« ECHO »Raffiniert, klug und atemberaubend.« Sarah-Maria Deckert, MYSELF
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2016Täuschen Sie sich da mal nicht!
Delphine de Vigan wurde mit "Das Lächeln meiner Mutter" berühmt. Ihr neuer Roman kommt wie eine Autobiographie daher. Aber sollte man ihr glauben? Eine Begegnung in Paris
Der Erfolg eines Buchs ist ein Unfall, aus dem man nicht unversehrt hervorgeht. Er ist, sagt Delphine eines nachts, ganz beiläufig, zwischen zwei Gläsern Wodka und einer Runde auf der Tanzfläche, ein heftiges, brutales Ereignis, wie ein Zusammenprall, der noch lange nachhallt. Sie schiebt sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht: Der Erfolg eines Buchs ist eine unsichtbare Wunde, die sich langsam durch den Körper frisst, bis sie ihn schließlich lahmlegt. Delphine, die Protagonistin und Erzählerin in Delphine de Vigans neuem Roman "Nach einer wahren Geschichte", weiß, wovon sie spricht. Sie selbst hat gerade "aus Versehen" einen Bestseller geschrieben. Sie hat den Unfall er- und überlebt und versucht jetzt, die aufgesprengten Teile ihres selbst wieder zusammenzukleben, nur gelingt ihr das nicht so richtig. Sie fühlt sich bedrängt, beobachtet, überfordert, sie fühlt sich schuldig: War es richtig, die Geschichte ihrer Familie aufzuschreiben? Hatte sie das Recht dazu? Oder ist sie vielleicht doch die Betrügerin, als die sie die anonymen Briefe, die sie seit der Veröffentlichung erhält, bezeichnen?
Auf die wiederkehrende Frage nach dem "Danach", "Was schreibt man nach so einem Buch? Schreibt man überhaupt noch etwas?", findet die Schriftstellerin keine Antwort.
Delphine steckt fest. Delphine ist schutzlos. Delphine weiß nicht, wohin mit sich und ihren Zweifeln. Und dann lernt Delphine an jenem Abend, an dem viel Wodka getrunken wird, eine gewisse L. kennen. L. oder phonetisch "elle", sie, also die Andere, ist eine Frau, wie Delphine sie gerne wäre: selbstbewusst, beherrscht, stark, immer perfekt - perfekt geschminkt, perfekt gekleidet, perfekt frisiert. Sie ist faszinierend, sie versteht sie, sie ist für sie da. Dass L. auch manipulativ und vollkommen wahnsinnig ist, fällt Delphine erst auf, als die mysteriöse Unbekannte längst das Steuer ihres Lebens übernommen hat. L. ist eine ripleysche Figur, ein böswilliger Doppelgänger.
Ohne zu viel verraten zu wollen: Es wird bedrückend. Sogar sehr. Nicht nur weil es immer bedrückend ist, dabei zuzusehen, wie eine Person Macht über eine andere gewinnt, sondern weil man als Leser irgendwann das Gefühl hat, nicht mehr zu wissen, was real ist und was erfunden, wer hier eigentlich wer ist und was das alles soll.
Mit ihrem neuen Roman wagt die französische Bestsellerautorin Delphine de Vigan, die man in Frankreich bis zum Erfolg von "Das Lächeln meiner Mutter" eher für freundliche Sozialgeschichten kannte, zum ersten Mal, wirklich mit ihren Lesern zu spielen. Es ist, als habe sie endlich den Rat befolgt, den eine Figur in ihrem allerersten, 2001 unter Pseudonym geschriebenen autobiographischen Roman "Jours sans faim" (es geht um Anorexie, leider nicht übersetzt), gibt: "Hör doch endlich einmal auf, das gute Mädchen sein zu wollen!" Delphine de Vigan, so scheint es, will nicht mehr brav sein, sie hat beschlossen, uns zu täuschen. Und sie kann das verdammt gut.
Am Anfang scheint noch alles klar: Diese leicht verwirrte Frau, diese Delphine, ist natürlich Delphine de Vigan selbst. Sie trägt ihren Namen, ist in ihrem Alter (Ende vierzig), hat zwei Kinder, lebt im 11. Arrondissement von Paris und sieht aus wie sie (blond, strubbelig, groß, immer in Jeans, Pulli und Stiefeletten). So wie die reale Schriftstellerin ist auch die Delphine des Buchs mit einem gewissen "François" liiert (de Vigan ist seit Jahren mit dem Literaturkritiker und Fernsehmoderator François Busnel zusammen) und hat mit ihrem siebten Buch, dem zweiten autobiographischen, einen phänomenalen Erfolg erlebt. Es passt alles herrlich zusammen, man geht davon aus, de Vigan sei eben endgültig auf den Geschmack des Über-sich-selbst-Schreibens gekommen und erzähle uns jetzt die Zeit nach dem Bestseller, die inneren Kämpfe, die Einsamkeit, den Erwartungsdruck, die Angst, den drohenden Fall und so weiter. Man stellt das erst mal gar nicht in Frage.
Man will mehr hören von dieser Frau, die die Geschichte ihrer bipolaren Mutter vor vier Jahren in "Das Lächeln meiner Mutter" so liebevoll und schonungslos erzählte, dass ihr fast eine Millionen Leser weltweit folgten. Man will ihr einfach glauben, will wissen, wie sie mit den Wunden, nicht des Erfolgs, sondern ihrer Lebensgeschichte, weiterlebt, und ignoriert deshalb die eigenen Zweifel. Denn die gibt es von Anfang an: Warum lässt eine Frau wie Delphine eine Frau wie L. so einfach und so total in ihr Leben eindringen? Warum geht ihr dieses Ich-verstehe-dich-ich-will-deine-Freundin-sein-Getue nicht auf die Nerven? Wie kann sie es zulassen, dass eine Wildfremde ihr erklärt, was sie nun zu schreiben habe, nämlich auf jeden Fall etwas "Wahres"? Weshalb haben die Ghostwriterin L. und sie keine gemeinsamen Bekannten, wo das Pariser Literaturmilieu doch so klein ist wie eine Walnussschale? Wie kann es sein, dass nie jemand L. begegnet? Kann die Angst vor dem Schreiben wirklich so groß sein, dass man sich nicht einmal mehr in der Nähe seines Computers aufhalten kann, ohne sich zu übergeben? All das macht im Laufe des Buchs immer weniger Sinn, bis es zum Schluss wirkt, als würde de Vigan für die ganz Hartnäckigen mit einem "Achtung! Fiktion!"-Schild über die Seiten laufen.
"Täuschen Sie sich da mal nicht", sagt sie, als sie mir an einem verregneten Nachmittag in einem Café am Square Gardette in Paris gegenübersitzt. "Ich habe mehrmals Leser getroffen, die davon überzeugt waren, das sei alles von Anfang bis Ende wahr, alles genau so passiert. Eine Frau meinte: Ein bisschen übertrieben haben Sie aber schon, oder? Sie wollte lieber glauben, ich sei Mythomanin als Romancière."
Delphine de Vigan ist groß, hat blondes, leicht krauses Haar, trägt ein kariertes Hemd, Jeans und Stiefeletten. Sie sieht genauso aus wie die Figur ihres Romans und wirkt ebenso, wenn auch beherrschter, fragil. Selbst jetzt, wo klar ist, dieses Buch ist ein Roman im klassischen Sinn, bleibt ein winziger Zweifel. Was davon ist wirklich passiert? Schulterzucken, Lächeln. Konnte sie wirklich nicht mehr schreiben? "Sagen wir so: Ich denke bei jedem Buch: Vielleicht ist dieses das letzte." Und gibt es diese L. wirklich? "Ja, natürlich . . . In der ein oder anderen Form." Also ist sie ihr selbstzerstörerisches Alter Ego, der böse Geist, der ihr zuflüstert, sie sei ein lächerliches Nichts? "Hm, vielleicht. Wie Sie wissen, heißt meine Figur, also das magersüchtige Mädchen in ,Jours sans faim', Laura. L. / Laura . . . Wer weiß?" Mehr wird de Vigan dazu nicht sagen. Sie freut sich zu sehr darüber, die Leute dermaßen zu verwirren, die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion so gekonnt zu verwischen. Es macht ihr eindeutig Spaß.
Die Frage nach der Wahrheit ist natürlich das zentrale Thema des Buchs und wird permanent besprochen: L. und Delphine diskutieren beziehungsweise streiten seitenweise über die Wahrheit in der Literatur, die neue Lust der Leser an "wahren Geschichten" und den Einfluss von Social Media und Reality TV. L. meint, das Wahre sei das einzig Wahre, Delphine glaubt an die Fiktion. De Vigan offensichtlich auch, wobei die starke Präsenz des vorherigen Buchs in diesem keine reine Erfindung ist.
Nach dem für sie überraschenden Erfolg von "Das Lächeln meiner Mutter" hat sich die Frage nach der Wahrheit zwangsläufig gestellt - schon allein, weil sie tatsächlich Drohbriefe erhalten hat: Ein sich aus der Geschichte ausgeschlossen fühlendes Familienmitglied fand, sie würde lügen, alles falsch darstellen. "Natürlich ist es nur meine Wahrheit. Hätte sie ein anderer meiner Familie aufgeschrieben wäre es eine andere Geschichte geworden. Das ist ja klar. Ich glaube, jede Erzählung, selbst wenn sie autobiographisch ist, bleibt eine Form von Fiktion und umgekehrt. Das gilt auch für das Buch über meine Mutter."
Was beide Romane (auch "Das Lächeln meiner Mutter" ist als Roman gekennzeichnet), abgesehen von der potentiell gleichen Erzählerin, verbindet, ist das gebrochene Verhältnis zur Realität. Die Delphine des aktuellen Buchs scheint den Zugang dazu immer mehr zu verlieren, sie entgleitet ihr, so wie sie Lucile, de Vigans manisch-depressiver Mutter, mehrmals entglitten ist. Der Autorin selbst geht es da nicht viel anders: "Ich habe selbst ein sehr komplexes Verhältnis zur Wirklichkeit. Die Krankheit meiner Mutter war ein solcher Bruch, ein solcher Einschnitt in unser bisheriges Leben, eine 360-Grad-Drehung, dass danach nichts mehr ganz eindeutig war. Ich denke, ich habe deshalb angefangen zu schreiben, um meine Wirklichkeit festzuhalten."
Mittlerweile fühlt sie sich in der Lage, damit zu spielen, und wird dafür belohnt: Mit "Nach einer wahren Geschichte", ihrem achten Roman, hatte die ehemalige Meinungsforscherin als Schriftstellerin ihren endgültigen Durchbruch. Im vergangenen Herbst war sie in der ersten Runde des Prix Goncourt nominiert und wurde mit dem prestigereichen Prix Renaudot und dem Goncourt des Lycéens ausgezeichnet. Für die Verfilmung haben sich Roman Polanski und Olivier Assayas schon im Frühling gemeldet, Ende des Jahres sollen die Dreharbeiten beendet sein. Es läuft also weiterhin sehr gut für Delphine de Vigan. Wie übersteht sie diesen erneuten Unfall?
Ganz okay, sie schaut dem nächsten schon lächelnd entgegen.
ANNABELLE HIRSCH
Delphine de Vigan: "Nach einer wahren Geschichte". Roman. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. Dumont-Verlag, 350 Seiten, 23 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Delphine de Vigan wurde mit "Das Lächeln meiner Mutter" berühmt. Ihr neuer Roman kommt wie eine Autobiographie daher. Aber sollte man ihr glauben? Eine Begegnung in Paris
Der Erfolg eines Buchs ist ein Unfall, aus dem man nicht unversehrt hervorgeht. Er ist, sagt Delphine eines nachts, ganz beiläufig, zwischen zwei Gläsern Wodka und einer Runde auf der Tanzfläche, ein heftiges, brutales Ereignis, wie ein Zusammenprall, der noch lange nachhallt. Sie schiebt sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht: Der Erfolg eines Buchs ist eine unsichtbare Wunde, die sich langsam durch den Körper frisst, bis sie ihn schließlich lahmlegt. Delphine, die Protagonistin und Erzählerin in Delphine de Vigans neuem Roman "Nach einer wahren Geschichte", weiß, wovon sie spricht. Sie selbst hat gerade "aus Versehen" einen Bestseller geschrieben. Sie hat den Unfall er- und überlebt und versucht jetzt, die aufgesprengten Teile ihres selbst wieder zusammenzukleben, nur gelingt ihr das nicht so richtig. Sie fühlt sich bedrängt, beobachtet, überfordert, sie fühlt sich schuldig: War es richtig, die Geschichte ihrer Familie aufzuschreiben? Hatte sie das Recht dazu? Oder ist sie vielleicht doch die Betrügerin, als die sie die anonymen Briefe, die sie seit der Veröffentlichung erhält, bezeichnen?
Auf die wiederkehrende Frage nach dem "Danach", "Was schreibt man nach so einem Buch? Schreibt man überhaupt noch etwas?", findet die Schriftstellerin keine Antwort.
Delphine steckt fest. Delphine ist schutzlos. Delphine weiß nicht, wohin mit sich und ihren Zweifeln. Und dann lernt Delphine an jenem Abend, an dem viel Wodka getrunken wird, eine gewisse L. kennen. L. oder phonetisch "elle", sie, also die Andere, ist eine Frau, wie Delphine sie gerne wäre: selbstbewusst, beherrscht, stark, immer perfekt - perfekt geschminkt, perfekt gekleidet, perfekt frisiert. Sie ist faszinierend, sie versteht sie, sie ist für sie da. Dass L. auch manipulativ und vollkommen wahnsinnig ist, fällt Delphine erst auf, als die mysteriöse Unbekannte längst das Steuer ihres Lebens übernommen hat. L. ist eine ripleysche Figur, ein böswilliger Doppelgänger.
Ohne zu viel verraten zu wollen: Es wird bedrückend. Sogar sehr. Nicht nur weil es immer bedrückend ist, dabei zuzusehen, wie eine Person Macht über eine andere gewinnt, sondern weil man als Leser irgendwann das Gefühl hat, nicht mehr zu wissen, was real ist und was erfunden, wer hier eigentlich wer ist und was das alles soll.
Mit ihrem neuen Roman wagt die französische Bestsellerautorin Delphine de Vigan, die man in Frankreich bis zum Erfolg von "Das Lächeln meiner Mutter" eher für freundliche Sozialgeschichten kannte, zum ersten Mal, wirklich mit ihren Lesern zu spielen. Es ist, als habe sie endlich den Rat befolgt, den eine Figur in ihrem allerersten, 2001 unter Pseudonym geschriebenen autobiographischen Roman "Jours sans faim" (es geht um Anorexie, leider nicht übersetzt), gibt: "Hör doch endlich einmal auf, das gute Mädchen sein zu wollen!" Delphine de Vigan, so scheint es, will nicht mehr brav sein, sie hat beschlossen, uns zu täuschen. Und sie kann das verdammt gut.
Am Anfang scheint noch alles klar: Diese leicht verwirrte Frau, diese Delphine, ist natürlich Delphine de Vigan selbst. Sie trägt ihren Namen, ist in ihrem Alter (Ende vierzig), hat zwei Kinder, lebt im 11. Arrondissement von Paris und sieht aus wie sie (blond, strubbelig, groß, immer in Jeans, Pulli und Stiefeletten). So wie die reale Schriftstellerin ist auch die Delphine des Buchs mit einem gewissen "François" liiert (de Vigan ist seit Jahren mit dem Literaturkritiker und Fernsehmoderator François Busnel zusammen) und hat mit ihrem siebten Buch, dem zweiten autobiographischen, einen phänomenalen Erfolg erlebt. Es passt alles herrlich zusammen, man geht davon aus, de Vigan sei eben endgültig auf den Geschmack des Über-sich-selbst-Schreibens gekommen und erzähle uns jetzt die Zeit nach dem Bestseller, die inneren Kämpfe, die Einsamkeit, den Erwartungsdruck, die Angst, den drohenden Fall und so weiter. Man stellt das erst mal gar nicht in Frage.
Man will mehr hören von dieser Frau, die die Geschichte ihrer bipolaren Mutter vor vier Jahren in "Das Lächeln meiner Mutter" so liebevoll und schonungslos erzählte, dass ihr fast eine Millionen Leser weltweit folgten. Man will ihr einfach glauben, will wissen, wie sie mit den Wunden, nicht des Erfolgs, sondern ihrer Lebensgeschichte, weiterlebt, und ignoriert deshalb die eigenen Zweifel. Denn die gibt es von Anfang an: Warum lässt eine Frau wie Delphine eine Frau wie L. so einfach und so total in ihr Leben eindringen? Warum geht ihr dieses Ich-verstehe-dich-ich-will-deine-Freundin-sein-Getue nicht auf die Nerven? Wie kann sie es zulassen, dass eine Wildfremde ihr erklärt, was sie nun zu schreiben habe, nämlich auf jeden Fall etwas "Wahres"? Weshalb haben die Ghostwriterin L. und sie keine gemeinsamen Bekannten, wo das Pariser Literaturmilieu doch so klein ist wie eine Walnussschale? Wie kann es sein, dass nie jemand L. begegnet? Kann die Angst vor dem Schreiben wirklich so groß sein, dass man sich nicht einmal mehr in der Nähe seines Computers aufhalten kann, ohne sich zu übergeben? All das macht im Laufe des Buchs immer weniger Sinn, bis es zum Schluss wirkt, als würde de Vigan für die ganz Hartnäckigen mit einem "Achtung! Fiktion!"-Schild über die Seiten laufen.
"Täuschen Sie sich da mal nicht", sagt sie, als sie mir an einem verregneten Nachmittag in einem Café am Square Gardette in Paris gegenübersitzt. "Ich habe mehrmals Leser getroffen, die davon überzeugt waren, das sei alles von Anfang bis Ende wahr, alles genau so passiert. Eine Frau meinte: Ein bisschen übertrieben haben Sie aber schon, oder? Sie wollte lieber glauben, ich sei Mythomanin als Romancière."
Delphine de Vigan ist groß, hat blondes, leicht krauses Haar, trägt ein kariertes Hemd, Jeans und Stiefeletten. Sie sieht genauso aus wie die Figur ihres Romans und wirkt ebenso, wenn auch beherrschter, fragil. Selbst jetzt, wo klar ist, dieses Buch ist ein Roman im klassischen Sinn, bleibt ein winziger Zweifel. Was davon ist wirklich passiert? Schulterzucken, Lächeln. Konnte sie wirklich nicht mehr schreiben? "Sagen wir so: Ich denke bei jedem Buch: Vielleicht ist dieses das letzte." Und gibt es diese L. wirklich? "Ja, natürlich . . . In der ein oder anderen Form." Also ist sie ihr selbstzerstörerisches Alter Ego, der böse Geist, der ihr zuflüstert, sie sei ein lächerliches Nichts? "Hm, vielleicht. Wie Sie wissen, heißt meine Figur, also das magersüchtige Mädchen in ,Jours sans faim', Laura. L. / Laura . . . Wer weiß?" Mehr wird de Vigan dazu nicht sagen. Sie freut sich zu sehr darüber, die Leute dermaßen zu verwirren, die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion so gekonnt zu verwischen. Es macht ihr eindeutig Spaß.
Die Frage nach der Wahrheit ist natürlich das zentrale Thema des Buchs und wird permanent besprochen: L. und Delphine diskutieren beziehungsweise streiten seitenweise über die Wahrheit in der Literatur, die neue Lust der Leser an "wahren Geschichten" und den Einfluss von Social Media und Reality TV. L. meint, das Wahre sei das einzig Wahre, Delphine glaubt an die Fiktion. De Vigan offensichtlich auch, wobei die starke Präsenz des vorherigen Buchs in diesem keine reine Erfindung ist.
Nach dem für sie überraschenden Erfolg von "Das Lächeln meiner Mutter" hat sich die Frage nach der Wahrheit zwangsläufig gestellt - schon allein, weil sie tatsächlich Drohbriefe erhalten hat: Ein sich aus der Geschichte ausgeschlossen fühlendes Familienmitglied fand, sie würde lügen, alles falsch darstellen. "Natürlich ist es nur meine Wahrheit. Hätte sie ein anderer meiner Familie aufgeschrieben wäre es eine andere Geschichte geworden. Das ist ja klar. Ich glaube, jede Erzählung, selbst wenn sie autobiographisch ist, bleibt eine Form von Fiktion und umgekehrt. Das gilt auch für das Buch über meine Mutter."
Was beide Romane (auch "Das Lächeln meiner Mutter" ist als Roman gekennzeichnet), abgesehen von der potentiell gleichen Erzählerin, verbindet, ist das gebrochene Verhältnis zur Realität. Die Delphine des aktuellen Buchs scheint den Zugang dazu immer mehr zu verlieren, sie entgleitet ihr, so wie sie Lucile, de Vigans manisch-depressiver Mutter, mehrmals entglitten ist. Der Autorin selbst geht es da nicht viel anders: "Ich habe selbst ein sehr komplexes Verhältnis zur Wirklichkeit. Die Krankheit meiner Mutter war ein solcher Bruch, ein solcher Einschnitt in unser bisheriges Leben, eine 360-Grad-Drehung, dass danach nichts mehr ganz eindeutig war. Ich denke, ich habe deshalb angefangen zu schreiben, um meine Wirklichkeit festzuhalten."
Mittlerweile fühlt sie sich in der Lage, damit zu spielen, und wird dafür belohnt: Mit "Nach einer wahren Geschichte", ihrem achten Roman, hatte die ehemalige Meinungsforscherin als Schriftstellerin ihren endgültigen Durchbruch. Im vergangenen Herbst war sie in der ersten Runde des Prix Goncourt nominiert und wurde mit dem prestigereichen Prix Renaudot und dem Goncourt des Lycéens ausgezeichnet. Für die Verfilmung haben sich Roman Polanski und Olivier Assayas schon im Frühling gemeldet, Ende des Jahres sollen die Dreharbeiten beendet sein. Es läuft also weiterhin sehr gut für Delphine de Vigan. Wie übersteht sie diesen erneuten Unfall?
Ganz okay, sie schaut dem nächsten schon lächelnd entgegen.
ANNABELLE HIRSCH
Delphine de Vigan: "Nach einer wahren Geschichte". Roman. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. Dumont-Verlag, 350 Seiten, 23 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Eine schillernde, mal jugendlich aufgelöste, mal lebenserfahrene und ernste Person stellt uns Rezensentin Jeannette Villachica in ihrer Rezension zu "Nach einer wahren Geschichte" vor. Mit Adjektiven wie "faszinierend", "hinreißend", "verwirrend" und "betörend" beschreibt sie sowohl die Protagonistin des Romans, als auch die gleichnamige Autorin Delphine de Vigan und scheint sich damit auf de Vigans raffiniertes Spiel mit den Lesern nicht nur einzulassen sondern es selbst aufzugreifen. Wer ist wer, wer ist Antagonist und wer Protagonist oder sind beide die selbe Person? Die Rezensentin weiß es nicht und ist entzückt darüber, wie de Vigan ihre Leser täuscht, verwirrt und am Ende aus einem "Wechselbad der Gefühle" entlässt, wenn es einen denn loslässt...
© Perlentaucher Medien GmbH
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