Peter Sloterdijk zieht in seinem neuen Buch alle Konsequenzen aus dem Satz »Gott ist tot«. Dabei kommen die Bereiche der aktuellen Theologie und Philosophie ebenso ins Spiel wie die mörderische Politik der Gegenwart oder die unmittelbaren kulturellen und wissenschaftlich-technischen Entwicklungen.
Peter Sloterdijk betrieb in seiner Kritik der zynischen Vernunft eine Aufklärung über die Aufklärung, in ihren Anfängen wie in der Gegenwart. Nach Gott widmet sich der theologischen Aufklärung über die Theologie, von der Zeit der Götterherrschaft über jene, in der der Welterschaffungsgott regierte, bis zu den Träumereien über das gottähnliche Vermögen der künstlichen Intelligenz.
Peter Sloterdijk betrieb in seiner Kritik der zynischen Vernunft eine Aufklärung über die Aufklärung, in ihren Anfängen wie in der Gegenwart. Nach Gott widmet sich der theologischen Aufklärung über die Theologie, von der Zeit der Götterherrschaft über jene, in der der Welterschaffungsgott regierte, bis zu den Träumereien über das gottähnliche Vermögen der künstlichen Intelligenz.
»Der bald 70-jährige ist ein Kraftwerk. Nichts in ihm scheint alt ... Bravo.« Ulf Poschardt DIE WELT 20170610
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2017Jetzt wird die Seele säkularisiert
Die Ordnungsmacht Gott ist tot, Computer steigern künftig die menschliche Selbstentfaltung: Peter Sloterdijk verhebt sich als theologischer Aufklärer.
Pünktlich zu seinem siebzigsten Geburtstag hat Peter Sloterdijk einige schon veröffentlichte Texte und zwei neuere Vorträge zu einem Buch über die Krise der Religion in der Moderne zusammengestellt. In großen Worten kündigt der Verlag eine "theologische Aufklärung über die Theologie" an, "von der Zeit der Götterherrschaft über jene, in der der Welterschaffungsgott regierte, bis zu den Träumereien über das gottähnliche Vermögen der künstlichen Intelligenz". Auch ist von einer "sich selbst aufklärenden Theologie" die Rede, "durchgeführt von einem Nichttheologen". Nicht nur soll "der Tod Gottes" auf Zeiten lange vor Nietzsche vordatiert werden. Vielmehr will Sloterdijk auch dringend gebotene "Korrekturen an allen Weltbildern" vornehmen. Ernsthaft bezeichnet er seine "theologische Aufklärung" als "eine schicksalhafte Aufgabe". Das weckt starke Erwartungen. Sie werden weithin enttäuscht.
"Gott" ist ein höchst gefährliches Wort. Es kann in allen möglichen Kontexten verwendet werden und ist gegen vielfältigen Missbrauch wie insbesondere politische Indienstnahme nicht geschützt. Theologische Aufklärung muss deshalb die vielen unterschiedlichen Arten des Redens von Gott analysieren. Sie muss zeigen, wie Menschen sich ihre Götter machen und welche Funktionen sie diesen "höheren Mächten" zuweisen. Oft ist "Gott" nur eine gigantische Projektionsfläche für egozentrische Wünsche oder diffuse Sehnsucht nach bergender Gewissheit.
Auch Sloterdijk sieht in "Gott" primär eine Ordnungsmacht. Mit großer Wortgewalt verweist er auf die hohe Ambivalenz der alten jüdischen wie christlichen Vorstellung der "Allmacht Gottes". Zu Recht kritisiert er überkommene metaphysische Konzepte der Eigenschaften des "Absoluten". Überhaupt habe die Vorstellung vom einen Gott nur viel Unglück in die Weltgeschichte gebracht. Doch mit den vielen Göttern der Griechen und der Germanen sei es uns Europäern nicht anders gegangen. Götter erzeugen einfach Transzendenzstress und nerven mit allen möglichen moralischen Forderungen. Wir sollen den Philosophen deshalb dafür dankbar sein, dass sie uns endlich die Einsicht in die "Verbrauchtheit der alten Götter-Garnitur" geschenkt haben.
Sloterdijks Aufklärung will Licht ins mittelalterlich Dunkle bringen, betrügerische Priester entlarven, papale Despoten ihrer Klerikalmacht berauben und überhaupt das Christentum als die vom neurotischen Konvertiten Paulus gestiftete "Weltreligion des schlechten Gewissens" erweisen, die den "Export von Schuld und den Großhandel mit ihrer Verzeihung" zum erfolgreichsten Sinnprodukt auf dem spätantiken Glaubensmarkt gemacht habe.
Zur "Summe der Unwahrscheinlichkeiten, die sich Christentum nennen", fällt Sloterdijk allerdings nichts wirklich Originelles ein. In Sachen Christentumskritik argumentierten die theologischen Aufklärer des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts ungleich prägnanter, begriffsschärfer als der Karlsruher Zeitgeistdeuter, der im Wust seiner unterhaltsamen Assoziationen oft den roten Faden zu verlieren droht. Dass das Neue Testament über Jesus von Nazareth nur viele "Konfabulationen" bietet, ist keine neue Erkenntnis. Doch gerade Jesu "Hass" auf seine leibliche Mutter und seine Brüder als "Realitätsrest im Strom der evangelischen Fiktionsarbeit" anzusehen ist blanke Behauptung. Man sehnt sich nach der Klarheit eines David Friedrich Strauß, der den mythischen Charakter der Evangelien schon 1835 deutlich radikaler und quellenkundiger gezeigt hatte als Sloterdijk in seinem Geraune über die Kreuzigung auf Golgatha als "Mutter aller Umdeutungen".
Kluge Religionskritik hat ein Problem: Sie muss erklären können, weshalb es trotz aller wissenschaftlichen Rationalität und aufgeklärten Skepsis noch immer sehr viele gottgläubige Menschen gibt. Religion in der Moderne deutet Sloterdijk als ein zunehmend marginales gesellschaftliches Subsystem, in dem sich vor allem ewiggestrige Modernisierungsopfer und sonstige Verlierer eingerichtet haben. Die Kirchen seien heute zu "Unternehmen zur Selbstverwaltung der Melancholie über die Unmöglichkeit von Kirche" geworden und betreuten mehr oder minder gekonnt "informelle und private Manifestationen von Restreligiosität". Aber nimmt man die "neuen Entschiedenen" des zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts ernst genug, wenn man ihnen viel Lust an "ekklesiopathischen Verschrobenheiten" attestiert?
Sloterdijk betont, dass der experimentelle und konstruktivistische Geist der Moderne auch Religiosität tiefgreifend verwandelt habe. Mit William James und Martin Buber sieht er in der "Mystik" die modernitätsspezifische Form religiösen Glaubens. Hier werde der menschliche Innenraum wie ein Bildschirm für variable Projektionen des Jenseitigen offengehalten und gegen die Welt kalter Funktionalität das Ich in ein kosmisches Ganzes einzuschmelzen versucht. Die Seltenheit "mystischer Zustände", die jede "normale Welterfahrung" transzendierten, sucht Sloterdijk auch in neurobiologischen Konzepten zu erklären.
Mehr Klarheit wird dadurch nicht erreicht. "Der mystische Zustand erweist sich als die Erinnerung des Gehirns an seinen Zustand vor seinem Kampf um die Identifizierung des Etwas, in dem es zum Aufenthalt bestimmt ist. Das schwebende In-etwas-Sein des kampflosen Gehirns erinnert gleichsam sich selbst an den flüssigen Anfang seiner Geschichte. Wer es erlebt, kennt sich im Nu im anderen Zustand aus, mag er auch erschüttert sein von der Evidenz, dass es ,trotz allem' möglich ist."
Dies ist weniger Analyse von Mystik als einer Sozialgestalt moderner Religion als vielmehr nur mystische Regression in die "intrauterine Höhle" mit ihrem "enstatischen Lauschen auf den ,Klang der Welt' und Wachsen in der Flut des Doppelblutkreislaufs von Kind und Mutter". Dass mystisches Einsseinwollen mit Gott auch zur Selbstverabsolutierung des endlichen Ich, also zu Realitätsverlust, führen kann, sieht Sloterdijk nicht. Ihn fasziniert die Selbstentgrenzung "des modernen Menschen" - wer immer dies sein mag - so sehr, dass er die Überwindung elementarer Grenzen immer nur als Steigerung von Ichgenuss und Selbstverwirklichung zu deuten vermag.
Selbst "Evolutionsbeschleunigung" hebt die Notwendigkeit jedoch nicht auf, sich möglichst denkend zur eigenen Endlichkeit zu verhalten. Eine Religionskritik, die nichts, aber auch wirklich gar nichts zu möglichen Zusammenhängen zwischen menschlichem Todesbewusstsein und religiösem Glauben zu sagen hat, wirkt eigentümlich schal.
Sloterdijks Bild der kulturellen Moderne bleibt irritierend widersprüchlich. Einerseits feiert er assoziationsstark die schöpferische Kraft des autonomen Menschen, der mit seiner tendenziell unbegrenzten Produktivkraft eine sich fortwährend beschleunigende Dynamik in die Welt gebracht habe. In der Gegenwart werde menschliche Kreativität nun zunehmend auf "die zweite Maschine" übertragen und so "die Seele" konsequent säkularisiert.
Sloterdijk weigert sich jedoch, dieses "immer raschere Abfließen von Menschenreflexionen in Maschinenreflexionen" kulturkritisch als Verlust an Humanität oder "Überwältigung der Menschen durch ihre digitalen Golems" zu deuten. Mit Gotthard Günther, dem wichtigsten philosophischen Vordenker der "künstlichen Intelligenz", sieht er in den neuen Geistmaschinen eine grandiose erneute Steigerung der Selbstentfaltung des Menschen in den Künsten, den Wissenschaften und der Technik.
Sloterdijk wird hier ganz affirmativ und feiert in hymnischen Tönen den Selbstgenuss des sich an der eigenen Schöpferkraft berauschenden Menschen. Andererseits aber neigt er sehr deutsch zu konventioneller Modernitätskritik und spricht von unserer "immer mehr verwahrlosenden Gesellschaft", in der die Teilsysteme nur einen Krieg aller mit allen führten: "Jedes Teilsystem sucht seinen Vorteil, das Ganze aber bleibt ungeschützt den Plünderungen der Kombattanten ausgesetzt." Doch was ist "das Ganze", wenn Gott tot und jedes Weltbild immer schon falsch ist? Mit Blick auf die Klimakatastrophe klagt Slotderdijk ein "Ethos der globalen Protektion" ein. Dazu sollen auch "jene symbolischen oder rituellen Immunsysteme" beitragen, die "man in Europa konventionell als die ,Religionen' bezeichnet"; allein sie könnten "die Überlieferung der gemeinsamen Normen in der Generationenfolge" sicherstellen.
Der Religionskritiker Sloterdijk, der "nach Gott" denken wollte, beschwört nun plötzlich den "tiefen Zusammenhang von Kommunität und Immunität", setzt also auf religiöse Vergemeinschaftung als Kraft globaler Rettung. Das ist dann wirklich originell. Nur hat es nichts mit theologischer Aufklärung zu tun.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
Peter Sloterdijk:
"Nach Gott".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 364 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Ordnungsmacht Gott ist tot, Computer steigern künftig die menschliche Selbstentfaltung: Peter Sloterdijk verhebt sich als theologischer Aufklärer.
Pünktlich zu seinem siebzigsten Geburtstag hat Peter Sloterdijk einige schon veröffentlichte Texte und zwei neuere Vorträge zu einem Buch über die Krise der Religion in der Moderne zusammengestellt. In großen Worten kündigt der Verlag eine "theologische Aufklärung über die Theologie" an, "von der Zeit der Götterherrschaft über jene, in der der Welterschaffungsgott regierte, bis zu den Träumereien über das gottähnliche Vermögen der künstlichen Intelligenz". Auch ist von einer "sich selbst aufklärenden Theologie" die Rede, "durchgeführt von einem Nichttheologen". Nicht nur soll "der Tod Gottes" auf Zeiten lange vor Nietzsche vordatiert werden. Vielmehr will Sloterdijk auch dringend gebotene "Korrekturen an allen Weltbildern" vornehmen. Ernsthaft bezeichnet er seine "theologische Aufklärung" als "eine schicksalhafte Aufgabe". Das weckt starke Erwartungen. Sie werden weithin enttäuscht.
"Gott" ist ein höchst gefährliches Wort. Es kann in allen möglichen Kontexten verwendet werden und ist gegen vielfältigen Missbrauch wie insbesondere politische Indienstnahme nicht geschützt. Theologische Aufklärung muss deshalb die vielen unterschiedlichen Arten des Redens von Gott analysieren. Sie muss zeigen, wie Menschen sich ihre Götter machen und welche Funktionen sie diesen "höheren Mächten" zuweisen. Oft ist "Gott" nur eine gigantische Projektionsfläche für egozentrische Wünsche oder diffuse Sehnsucht nach bergender Gewissheit.
Auch Sloterdijk sieht in "Gott" primär eine Ordnungsmacht. Mit großer Wortgewalt verweist er auf die hohe Ambivalenz der alten jüdischen wie christlichen Vorstellung der "Allmacht Gottes". Zu Recht kritisiert er überkommene metaphysische Konzepte der Eigenschaften des "Absoluten". Überhaupt habe die Vorstellung vom einen Gott nur viel Unglück in die Weltgeschichte gebracht. Doch mit den vielen Göttern der Griechen und der Germanen sei es uns Europäern nicht anders gegangen. Götter erzeugen einfach Transzendenzstress und nerven mit allen möglichen moralischen Forderungen. Wir sollen den Philosophen deshalb dafür dankbar sein, dass sie uns endlich die Einsicht in die "Verbrauchtheit der alten Götter-Garnitur" geschenkt haben.
Sloterdijks Aufklärung will Licht ins mittelalterlich Dunkle bringen, betrügerische Priester entlarven, papale Despoten ihrer Klerikalmacht berauben und überhaupt das Christentum als die vom neurotischen Konvertiten Paulus gestiftete "Weltreligion des schlechten Gewissens" erweisen, die den "Export von Schuld und den Großhandel mit ihrer Verzeihung" zum erfolgreichsten Sinnprodukt auf dem spätantiken Glaubensmarkt gemacht habe.
Zur "Summe der Unwahrscheinlichkeiten, die sich Christentum nennen", fällt Sloterdijk allerdings nichts wirklich Originelles ein. In Sachen Christentumskritik argumentierten die theologischen Aufklärer des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts ungleich prägnanter, begriffsschärfer als der Karlsruher Zeitgeistdeuter, der im Wust seiner unterhaltsamen Assoziationen oft den roten Faden zu verlieren droht. Dass das Neue Testament über Jesus von Nazareth nur viele "Konfabulationen" bietet, ist keine neue Erkenntnis. Doch gerade Jesu "Hass" auf seine leibliche Mutter und seine Brüder als "Realitätsrest im Strom der evangelischen Fiktionsarbeit" anzusehen ist blanke Behauptung. Man sehnt sich nach der Klarheit eines David Friedrich Strauß, der den mythischen Charakter der Evangelien schon 1835 deutlich radikaler und quellenkundiger gezeigt hatte als Sloterdijk in seinem Geraune über die Kreuzigung auf Golgatha als "Mutter aller Umdeutungen".
Kluge Religionskritik hat ein Problem: Sie muss erklären können, weshalb es trotz aller wissenschaftlichen Rationalität und aufgeklärten Skepsis noch immer sehr viele gottgläubige Menschen gibt. Religion in der Moderne deutet Sloterdijk als ein zunehmend marginales gesellschaftliches Subsystem, in dem sich vor allem ewiggestrige Modernisierungsopfer und sonstige Verlierer eingerichtet haben. Die Kirchen seien heute zu "Unternehmen zur Selbstverwaltung der Melancholie über die Unmöglichkeit von Kirche" geworden und betreuten mehr oder minder gekonnt "informelle und private Manifestationen von Restreligiosität". Aber nimmt man die "neuen Entschiedenen" des zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts ernst genug, wenn man ihnen viel Lust an "ekklesiopathischen Verschrobenheiten" attestiert?
Sloterdijk betont, dass der experimentelle und konstruktivistische Geist der Moderne auch Religiosität tiefgreifend verwandelt habe. Mit William James und Martin Buber sieht er in der "Mystik" die modernitätsspezifische Form religiösen Glaubens. Hier werde der menschliche Innenraum wie ein Bildschirm für variable Projektionen des Jenseitigen offengehalten und gegen die Welt kalter Funktionalität das Ich in ein kosmisches Ganzes einzuschmelzen versucht. Die Seltenheit "mystischer Zustände", die jede "normale Welterfahrung" transzendierten, sucht Sloterdijk auch in neurobiologischen Konzepten zu erklären.
Mehr Klarheit wird dadurch nicht erreicht. "Der mystische Zustand erweist sich als die Erinnerung des Gehirns an seinen Zustand vor seinem Kampf um die Identifizierung des Etwas, in dem es zum Aufenthalt bestimmt ist. Das schwebende In-etwas-Sein des kampflosen Gehirns erinnert gleichsam sich selbst an den flüssigen Anfang seiner Geschichte. Wer es erlebt, kennt sich im Nu im anderen Zustand aus, mag er auch erschüttert sein von der Evidenz, dass es ,trotz allem' möglich ist."
Dies ist weniger Analyse von Mystik als einer Sozialgestalt moderner Religion als vielmehr nur mystische Regression in die "intrauterine Höhle" mit ihrem "enstatischen Lauschen auf den ,Klang der Welt' und Wachsen in der Flut des Doppelblutkreislaufs von Kind und Mutter". Dass mystisches Einsseinwollen mit Gott auch zur Selbstverabsolutierung des endlichen Ich, also zu Realitätsverlust, führen kann, sieht Sloterdijk nicht. Ihn fasziniert die Selbstentgrenzung "des modernen Menschen" - wer immer dies sein mag - so sehr, dass er die Überwindung elementarer Grenzen immer nur als Steigerung von Ichgenuss und Selbstverwirklichung zu deuten vermag.
Selbst "Evolutionsbeschleunigung" hebt die Notwendigkeit jedoch nicht auf, sich möglichst denkend zur eigenen Endlichkeit zu verhalten. Eine Religionskritik, die nichts, aber auch wirklich gar nichts zu möglichen Zusammenhängen zwischen menschlichem Todesbewusstsein und religiösem Glauben zu sagen hat, wirkt eigentümlich schal.
Sloterdijks Bild der kulturellen Moderne bleibt irritierend widersprüchlich. Einerseits feiert er assoziationsstark die schöpferische Kraft des autonomen Menschen, der mit seiner tendenziell unbegrenzten Produktivkraft eine sich fortwährend beschleunigende Dynamik in die Welt gebracht habe. In der Gegenwart werde menschliche Kreativität nun zunehmend auf "die zweite Maschine" übertragen und so "die Seele" konsequent säkularisiert.
Sloterdijk weigert sich jedoch, dieses "immer raschere Abfließen von Menschenreflexionen in Maschinenreflexionen" kulturkritisch als Verlust an Humanität oder "Überwältigung der Menschen durch ihre digitalen Golems" zu deuten. Mit Gotthard Günther, dem wichtigsten philosophischen Vordenker der "künstlichen Intelligenz", sieht er in den neuen Geistmaschinen eine grandiose erneute Steigerung der Selbstentfaltung des Menschen in den Künsten, den Wissenschaften und der Technik.
Sloterdijk wird hier ganz affirmativ und feiert in hymnischen Tönen den Selbstgenuss des sich an der eigenen Schöpferkraft berauschenden Menschen. Andererseits aber neigt er sehr deutsch zu konventioneller Modernitätskritik und spricht von unserer "immer mehr verwahrlosenden Gesellschaft", in der die Teilsysteme nur einen Krieg aller mit allen führten: "Jedes Teilsystem sucht seinen Vorteil, das Ganze aber bleibt ungeschützt den Plünderungen der Kombattanten ausgesetzt." Doch was ist "das Ganze", wenn Gott tot und jedes Weltbild immer schon falsch ist? Mit Blick auf die Klimakatastrophe klagt Slotderdijk ein "Ethos der globalen Protektion" ein. Dazu sollen auch "jene symbolischen oder rituellen Immunsysteme" beitragen, die "man in Europa konventionell als die ,Religionen' bezeichnet"; allein sie könnten "die Überlieferung der gemeinsamen Normen in der Generationenfolge" sicherstellen.
Der Religionskritiker Sloterdijk, der "nach Gott" denken wollte, beschwört nun plötzlich den "tiefen Zusammenhang von Kommunität und Immunität", setzt also auf religiöse Vergemeinschaftung als Kraft globaler Rettung. Das ist dann wirklich originell. Nur hat es nichts mit theologischer Aufklärung zu tun.
FRIEDRICH WILHELM GRAF
Peter Sloterdijk:
"Nach Gott".
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 364 S., geb., 28,- [Euro].
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