Zu Beginn der sechziger Jahre hat Pasolini in Rom Fuß gefasst, er hat zwei gefeierte Romane veröffentlicht und sich eine neue, flammende Leidenschaft erschlossen, das Kino. Doch der Ort, an dem sich seine Passion, die sozialen und politischen Verhältnisse der Welt festzuhalten, am dringlichsten äußert, ist seine Lyrik. Kompromisslos wirft Pasolini den eigenen Körper in den Kampf, prangert die verlogenen Ideologien der Machthaber an und protestiert gegen die Seelenlosigkeit des Kapitalismus. Zugleich sind seine Gedichte eine Liebeserklärung an den Menschen, an das römische Subproletariat, es sind Verse voller Nostalgie, Zärtlichkeit und Solidarität.
Nach meinem Tod zu veröffentlichen versammelt erstmals unübersetzte und aus dem Nachlass erschlossene späte Gedichte Pasolinis - Gedichte von äußerster politischer Luzidität und belebendem Pathos. Es ist das Protokoll einer Krise linken Denkens, das rund sechzig Jahre nach seinem Entstehen an Dringlichkeit und Anmut nichts eingebüßt hat.
Nach meinem Tod zu veröffentlichen versammelt erstmals unübersetzte und aus dem Nachlass erschlossene späte Gedichte Pasolinis - Gedichte von äußerster politischer Luzidität und belebendem Pathos. Es ist das Protokoll einer Krise linken Denkens, das rund sechzig Jahre nach seinem Entstehen an Dringlichkeit und Anmut nichts eingebüßt hat.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Michael Braun entdeckt mit Theresia Prammers Band Pasolini als Dichter wieder. Der Band mit "etwas verwirrendem" Titel, so Braun, versammelt auf über 600 Seiten übersetzte Auszüge aus drei Gedichtbänden des Schriftstellers, der zunächst in friulanischem Dialekt dichtete, um sich damit gegen seinen faschistischen Vater aufzulehnen, und später zu einer "Lichtgestalt der politischen und ästhetischen Dissidenz" avancierte, wie Braun resümiert. Als Hauptthemen seiner Dichtung macht der Kritiker die Abweisung des verzweifelt Liebenden und den "Weltanschauungskampf" mit der Kommunistischen Partei und der katholischen Kirche aus. Auch das Gewaltvolle vieler seiner Filme findet Braun hier wieder. Eine "sorgsam kommentierte" Ausgabe und ein wichtiger Beitrag zur Wiederentdeckung des Lyrikers, lobt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2021In dieser allerschuldigsten Welt
Eine zweisprachige Ausgabe seiner „Späten Gedichte“ macht Pier Paolo Pasolini zum Klassiker
Im Jahr 1975 verwandelte der italienische Künstler und Publizist Fabio Mauri in einer Galerie der Stadt Bologna seinen Kollegen und Freund Pier Paolo Pasolini in ein Kunstwerk. Pasolini hatte gut ein Jahrzehnt zuvor mit großem Erfolg das Evangelium nach Matthäus verfilmt, roh, wortgetreu, mit Laienschauspielern, in Schwarz-Weiß und vor dem Hintergrund der Höhlenstadt Matera in der Basilikata. Fabio Mauri nun zeigte diesen Film: projiziert auf das weiße Hemd des Regisseurs, der als lebende Leinwand vor dem Publikum saß.
Die Darbietung war eine Allegorie auf das Werk Pasolinis, nicht zuletzt im Hinblick auf dessen Selbstbezüglichkeit. Sie erinnerte an dessen gebrochenes Verhältnis zur katholischen Kirche, in deren Trümmern er noch einen Rest von Widerstand gegen die Weltherrschaft der Ware erkennen wollte. Sie erinnerte darüber hinaus an Pasolinis Glauben an den menschlichen Körper, an den eigenen Körper insbesondere, den er für einen Garanten und ein Medium der Wahrheitsfindung hielt. Und schließlich ließ die Performance sichtbar werden, in welchem Maße Pasolini, zumindest im eigenen Land der bekannteste Intellektuelle jener Zeit, selbst zu einer Projektionsfläche geworden war. Der Mensch auf dem Stuhl war nur noch als Schatten zu erkennen. Ein paar Monate später, im November 1975, wurde Pasolini ermordet, unter immer noch nicht geklärten Umständen.
In Italien gehört Pasolini, gelesen oder nicht, mittlerweile in die lange Reihe der kanonischen Autoren, die er selbst immer wieder zitierte, von Dante bis Carlo Levi oder Italo Calvino. Einen „Padre Pio der Linken“ nannte ihn vor Kurzem der Schriftsteller Marco Belpoliti, auch wenn es „die Linke“ in Italien schon lange nicht mehr gibt und Pasolinis öffentliche Geltung die einschlägigen Kreise weit hinter sich lässt. Außerhalb des eigenen Landes, auch in Deutschland, ist es anders: Sicherlich hat Pasolini noch Leser. Aber es sind nicht viele, und es werden weniger. Die Filme sind selten zu sehen, die kritischen Schriften nur in Ausgaben aus den Siebzigern zu erhalten. Die Theaterstücke werden nicht gespielt. Den Romanen war ein längeres, doch mittlerweile auch verklungenes Leben beschieden: Die deutsche Fassung des postum veröffentlichten Fragments „Petrolio“ erschien im Jahr 1996, in der Übersetzung von Moshe Kahn. Mit den Gedichten war es am schlechtesten bestellt: Ein großer Teil der Poesie fand, obwohl oder weil es so viel davon gibt, nie den Weg zu den deutschen Lesern, was vor allem für die ab den Sechzigern entstandenen Werke gilt, mit Ausnahme des autobiografischen Langgedichts „Who is me?“ (1966), das im Jahr 2009 in der Übertragung von Peter Kammerer erschien.
„Nach meinem Tod zu veröffentlichen“ lautet nun der ein wenig reißerische Titel einer monumentalen Ausgabe, in dem die „späten Gedichte“ Pasolinis in einer, wie man sagen muss: repräsentativen Auswahl versammelt sind, von den Poemen aus dem Band „Die Religion meiner Zeit“ (1961) bis zu „Trasumanar e organizzar“ (1971). Etliche verstreut veröffentlichte oder aus dem Nachlass übernommene kleine Werke kommen hinzu. Erschienen ist der prächtige Band weder im Wagenbach-Verlag, in dem bislang der größte Teil des Œuvres versammelt war, noch in einem der kleineren Häuser, die sich zuletzt um die Verbreitung der Arbeiten Pasolinis kümmerten. Veröffentlicht wird er vielmehr im Suhrkamp-Verlag, in einer zweisprachigen Ausgabe, wie sie eines Klassikers würdig wäre.
„Diese Sammlung“, erklärt die Übersetzerin Theresia Prammer in ihrem Nachwort, sei „der Versuch einer Bändigung“. Der Satz ist richtig, in einem doppelten Sinn: Denn zum einen diente die Poesie dem Schriftsteller als Organ einer nicht aufzuhaltenden Selbstreflexion, sodass die Verse über die Ufer zu treten scheinen wie ein Gebirgsfluss im Friaul während der Schneeschmelze. Zum anderen bedeutet „Bändigung“ auch Führung oder Lenkung. Auch dafür sorgt Theresia Prammer, und so tritt der Klassiker, der sich im Vielzuviel dieses Schriftstellers verbirgt, tatsächlich hervor.
Hätte man vor sechzig Jahren, auf dem Höhepunkt einer Reformbewegung, die in Italien noch radikalere Gestalt annahm als in Deutschland und die mit einer Revolution zumindest sympathisierte, öffentlich behauptet, Pasolini sei in Wirklichkeit ein Konservativer, seinen Bekenntnissen zum Marxismus zum Trotz: Unverständnis wäre noch die mildeste Reaktion gewesen. Längst hatte er eine lange Reihe von Skandalen hinter sich, deren gemeinsames Motiv eine radikale Ablehnung der herrschenden sexuellen, sozialen und politischen Moral zu sein schien. Für seinen ersten Roman, „Ragazzi di vita“ (1955), eine Erzählung aus dem römischen Lumpenproletariat, war er wegen Obszönität angeklagt worden. Das Gedicht „A un papa“ (1958), gegen Papst Pius XII. gerichtet, schließt mit dem Satz: „Es hat keinen größeren Sünder gegeben als dich.“ Und den Film „12. Dezember“ (1972), der von einem Bombenanschlag in Mailand handelt, dem ersten großen rechtsterroristischen Attentat nach dem Zweiten Weltkrieg, drehte er mit Unterstützung der „Lotta Continua“, einer radikalen linken Gruppe.
Pasolini hatte aber mit politischen Organisationen wenig im Sinn, wie mit Institutionen überhaupt. An Antonio Gramsci, dem Theoretiker der Kommunistischen Partei Italiens, interessierte ihn weniger die Lehre von der kulturellen Hegemonie, mit deren Hilfe der Staat über seine Bürger herrschen sollte, als die Lage eines Kindes armer Leute aus Sardinien, das sich durch ein Leben als Berufsrevolutionär geschlagen hatte.
Der Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“ war keine Huldigung an den christlichen Glauben, sondern ein Bekenntnis zu einer „Volkskultur“, die mit einem modernen, längst zu einer Form von weicher, integrierender Herrschaft verkommenen Katholizismus nichts zu tun haben konnte. Im selben Sinn wehrte er sich gegen eine vermeintlich linke Bewegung, die mit dem Kapitalismus und der entfalteten Warenwirtschaft längst ihren Frieden geschlossen hatte und auf deren Überwindung durch Erneuerung sann. Zugleich weiß er, dass er der Kraft des Kapitals und der dazugehörigen Weltanschauung nicht entrinnen kann: „In dieser allerschuldigsten Welt, die nur kauft oder schmäht, / bin ich der Allerschuldigste, von Bitterkeit gequält“, lautet ein kurzes Gedicht aus dem Band „Die Religion meiner Zeit“, dem er den Titel „An mich selbst“ gab. In solchen Reflexionen, die moralisch sind, aber das Moralische auch transzendieren, offenbart sich ein Konservativismus, der weniger rückständig ist, als dass er hinter alles Politische und damit auch hinter alle Strategien des Selbst zurückgehen will.
In solchen Widersprüchen treibt sich Pasolini herum, ein literarhistorisch geschulter Theoretiker, der in jeder programmatischen Äußerung die Vereinnahmung erkennt, ein Apologet der Sinnlichkeit, der genau weiß, dass alles Sinnliche in dem Augenblick, da es ausgesprochen wird, verschwunden ist. „Ich gehe bis / ans Ende und kehre wieder um“, heißt es in einem „Anhang“ zum „Gedicht in Form einer Rose“ (1964). Die Zeilen gelten einem Spaziergang auf der Mole von Fiumicino, an Fischbuden und ihren Kunden vorbei, tragen aber deutlich programmatische Züge. Ins Poetologische getrieben, lautet der Gedanke dann so: „Diese verfluchten Metaphern, / wann werde ich sie abschaffen? War doch / meine Existenz als Dichter / selbst eine einzige lange, verfluchte Metapher“ (aus den „Marxistischen Gedichten“, 1964/65). Letztlich sind es immer wieder Kapitalismus und Warenästhetik, die ihm für das grundsätzlich Verfehlte allen Lebens stehen. Auch der Faschismus, so gewalttätig er auftrat, vermochte gegen die Verwandlung der Welt in eine trostlose Ansammlung von Waren nichts auszurichten: „Und alles war wahr, / und die Fahnen flatterten weiterhin / im Wind, der sie nicht erkannte“ („Das faschistische Italien“, 1972–1974).
Mit solchen Gedanken entfernte sich Pasolini von der intellektuellen Umgebung, in der und mit der er nicht nur zum Künstler, sondern auch berühmt geworden war, und das heißt vor allem: von den am Kommunismus orientierten Dichtern und Denkern, die nach dem Zweiten Weltkrieg beinahe eine kulturelle Hegemonie über Land und Leute beanspruchen konnten. Sogar das Friulanische, die Sprache seiner Jugend, die er über Jahrzehnte hinweg für einen Ausdruck des Urtümlichen und Unverfälschten hatte halten wollen, wurde ihm zu einem Gegenstand des Misstrauens, vor allem sich selbst gegenüber: In seinen letzten Gedichten, die den Titel „La nuova gioventù“ („Die neue Jugend“, 1975) tragen und die in der nun vorliegenden Ausgabe des lyrischen Werks nicht enthalten sind, kehrte er das sentimentale Bekenntnis zur Heimat schlicht um, indem er seine frühen Gedichte, Vers für Vers, negierte: Aus dem „Brunnen eines Landes, das meines ist“ wurde der „Brunnen eines Landes, das nicht meines ist“. Und der Mensch, der solche Zeilen schrieb, war nur noch als Schatten zu erkennen.
THOMAS STEINFELD
„War doch / meine Existenz als
Dichter / selbst eine einzige
lange, verfluchte Metapher“
Pier Paolo Pasolini:
Nach meinem Tod zu
veröffentlichen.
Späte Gedichte.
Herausgegeben, aus dem Italienischen und mit
einem Nachwort von
Theresia Prammer.
Suhrkamp, Berlin 2021.
640 Seiten, 42 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Eine zweisprachige Ausgabe seiner „Späten Gedichte“ macht Pier Paolo Pasolini zum Klassiker
Im Jahr 1975 verwandelte der italienische Künstler und Publizist Fabio Mauri in einer Galerie der Stadt Bologna seinen Kollegen und Freund Pier Paolo Pasolini in ein Kunstwerk. Pasolini hatte gut ein Jahrzehnt zuvor mit großem Erfolg das Evangelium nach Matthäus verfilmt, roh, wortgetreu, mit Laienschauspielern, in Schwarz-Weiß und vor dem Hintergrund der Höhlenstadt Matera in der Basilikata. Fabio Mauri nun zeigte diesen Film: projiziert auf das weiße Hemd des Regisseurs, der als lebende Leinwand vor dem Publikum saß.
Die Darbietung war eine Allegorie auf das Werk Pasolinis, nicht zuletzt im Hinblick auf dessen Selbstbezüglichkeit. Sie erinnerte an dessen gebrochenes Verhältnis zur katholischen Kirche, in deren Trümmern er noch einen Rest von Widerstand gegen die Weltherrschaft der Ware erkennen wollte. Sie erinnerte darüber hinaus an Pasolinis Glauben an den menschlichen Körper, an den eigenen Körper insbesondere, den er für einen Garanten und ein Medium der Wahrheitsfindung hielt. Und schließlich ließ die Performance sichtbar werden, in welchem Maße Pasolini, zumindest im eigenen Land der bekannteste Intellektuelle jener Zeit, selbst zu einer Projektionsfläche geworden war. Der Mensch auf dem Stuhl war nur noch als Schatten zu erkennen. Ein paar Monate später, im November 1975, wurde Pasolini ermordet, unter immer noch nicht geklärten Umständen.
In Italien gehört Pasolini, gelesen oder nicht, mittlerweile in die lange Reihe der kanonischen Autoren, die er selbst immer wieder zitierte, von Dante bis Carlo Levi oder Italo Calvino. Einen „Padre Pio der Linken“ nannte ihn vor Kurzem der Schriftsteller Marco Belpoliti, auch wenn es „die Linke“ in Italien schon lange nicht mehr gibt und Pasolinis öffentliche Geltung die einschlägigen Kreise weit hinter sich lässt. Außerhalb des eigenen Landes, auch in Deutschland, ist es anders: Sicherlich hat Pasolini noch Leser. Aber es sind nicht viele, und es werden weniger. Die Filme sind selten zu sehen, die kritischen Schriften nur in Ausgaben aus den Siebzigern zu erhalten. Die Theaterstücke werden nicht gespielt. Den Romanen war ein längeres, doch mittlerweile auch verklungenes Leben beschieden: Die deutsche Fassung des postum veröffentlichten Fragments „Petrolio“ erschien im Jahr 1996, in der Übersetzung von Moshe Kahn. Mit den Gedichten war es am schlechtesten bestellt: Ein großer Teil der Poesie fand, obwohl oder weil es so viel davon gibt, nie den Weg zu den deutschen Lesern, was vor allem für die ab den Sechzigern entstandenen Werke gilt, mit Ausnahme des autobiografischen Langgedichts „Who is me?“ (1966), das im Jahr 2009 in der Übertragung von Peter Kammerer erschien.
„Nach meinem Tod zu veröffentlichen“ lautet nun der ein wenig reißerische Titel einer monumentalen Ausgabe, in dem die „späten Gedichte“ Pasolinis in einer, wie man sagen muss: repräsentativen Auswahl versammelt sind, von den Poemen aus dem Band „Die Religion meiner Zeit“ (1961) bis zu „Trasumanar e organizzar“ (1971). Etliche verstreut veröffentlichte oder aus dem Nachlass übernommene kleine Werke kommen hinzu. Erschienen ist der prächtige Band weder im Wagenbach-Verlag, in dem bislang der größte Teil des Œuvres versammelt war, noch in einem der kleineren Häuser, die sich zuletzt um die Verbreitung der Arbeiten Pasolinis kümmerten. Veröffentlicht wird er vielmehr im Suhrkamp-Verlag, in einer zweisprachigen Ausgabe, wie sie eines Klassikers würdig wäre.
„Diese Sammlung“, erklärt die Übersetzerin Theresia Prammer in ihrem Nachwort, sei „der Versuch einer Bändigung“. Der Satz ist richtig, in einem doppelten Sinn: Denn zum einen diente die Poesie dem Schriftsteller als Organ einer nicht aufzuhaltenden Selbstreflexion, sodass die Verse über die Ufer zu treten scheinen wie ein Gebirgsfluss im Friaul während der Schneeschmelze. Zum anderen bedeutet „Bändigung“ auch Führung oder Lenkung. Auch dafür sorgt Theresia Prammer, und so tritt der Klassiker, der sich im Vielzuviel dieses Schriftstellers verbirgt, tatsächlich hervor.
Hätte man vor sechzig Jahren, auf dem Höhepunkt einer Reformbewegung, die in Italien noch radikalere Gestalt annahm als in Deutschland und die mit einer Revolution zumindest sympathisierte, öffentlich behauptet, Pasolini sei in Wirklichkeit ein Konservativer, seinen Bekenntnissen zum Marxismus zum Trotz: Unverständnis wäre noch die mildeste Reaktion gewesen. Längst hatte er eine lange Reihe von Skandalen hinter sich, deren gemeinsames Motiv eine radikale Ablehnung der herrschenden sexuellen, sozialen und politischen Moral zu sein schien. Für seinen ersten Roman, „Ragazzi di vita“ (1955), eine Erzählung aus dem römischen Lumpenproletariat, war er wegen Obszönität angeklagt worden. Das Gedicht „A un papa“ (1958), gegen Papst Pius XII. gerichtet, schließt mit dem Satz: „Es hat keinen größeren Sünder gegeben als dich.“ Und den Film „12. Dezember“ (1972), der von einem Bombenanschlag in Mailand handelt, dem ersten großen rechtsterroristischen Attentat nach dem Zweiten Weltkrieg, drehte er mit Unterstützung der „Lotta Continua“, einer radikalen linken Gruppe.
Pasolini hatte aber mit politischen Organisationen wenig im Sinn, wie mit Institutionen überhaupt. An Antonio Gramsci, dem Theoretiker der Kommunistischen Partei Italiens, interessierte ihn weniger die Lehre von der kulturellen Hegemonie, mit deren Hilfe der Staat über seine Bürger herrschen sollte, als die Lage eines Kindes armer Leute aus Sardinien, das sich durch ein Leben als Berufsrevolutionär geschlagen hatte.
Der Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“ war keine Huldigung an den christlichen Glauben, sondern ein Bekenntnis zu einer „Volkskultur“, die mit einem modernen, längst zu einer Form von weicher, integrierender Herrschaft verkommenen Katholizismus nichts zu tun haben konnte. Im selben Sinn wehrte er sich gegen eine vermeintlich linke Bewegung, die mit dem Kapitalismus und der entfalteten Warenwirtschaft längst ihren Frieden geschlossen hatte und auf deren Überwindung durch Erneuerung sann. Zugleich weiß er, dass er der Kraft des Kapitals und der dazugehörigen Weltanschauung nicht entrinnen kann: „In dieser allerschuldigsten Welt, die nur kauft oder schmäht, / bin ich der Allerschuldigste, von Bitterkeit gequält“, lautet ein kurzes Gedicht aus dem Band „Die Religion meiner Zeit“, dem er den Titel „An mich selbst“ gab. In solchen Reflexionen, die moralisch sind, aber das Moralische auch transzendieren, offenbart sich ein Konservativismus, der weniger rückständig ist, als dass er hinter alles Politische und damit auch hinter alle Strategien des Selbst zurückgehen will.
In solchen Widersprüchen treibt sich Pasolini herum, ein literarhistorisch geschulter Theoretiker, der in jeder programmatischen Äußerung die Vereinnahmung erkennt, ein Apologet der Sinnlichkeit, der genau weiß, dass alles Sinnliche in dem Augenblick, da es ausgesprochen wird, verschwunden ist. „Ich gehe bis / ans Ende und kehre wieder um“, heißt es in einem „Anhang“ zum „Gedicht in Form einer Rose“ (1964). Die Zeilen gelten einem Spaziergang auf der Mole von Fiumicino, an Fischbuden und ihren Kunden vorbei, tragen aber deutlich programmatische Züge. Ins Poetologische getrieben, lautet der Gedanke dann so: „Diese verfluchten Metaphern, / wann werde ich sie abschaffen? War doch / meine Existenz als Dichter / selbst eine einzige lange, verfluchte Metapher“ (aus den „Marxistischen Gedichten“, 1964/65). Letztlich sind es immer wieder Kapitalismus und Warenästhetik, die ihm für das grundsätzlich Verfehlte allen Lebens stehen. Auch der Faschismus, so gewalttätig er auftrat, vermochte gegen die Verwandlung der Welt in eine trostlose Ansammlung von Waren nichts auszurichten: „Und alles war wahr, / und die Fahnen flatterten weiterhin / im Wind, der sie nicht erkannte“ („Das faschistische Italien“, 1972–1974).
Mit solchen Gedanken entfernte sich Pasolini von der intellektuellen Umgebung, in der und mit der er nicht nur zum Künstler, sondern auch berühmt geworden war, und das heißt vor allem: von den am Kommunismus orientierten Dichtern und Denkern, die nach dem Zweiten Weltkrieg beinahe eine kulturelle Hegemonie über Land und Leute beanspruchen konnten. Sogar das Friulanische, die Sprache seiner Jugend, die er über Jahrzehnte hinweg für einen Ausdruck des Urtümlichen und Unverfälschten hatte halten wollen, wurde ihm zu einem Gegenstand des Misstrauens, vor allem sich selbst gegenüber: In seinen letzten Gedichten, die den Titel „La nuova gioventù“ („Die neue Jugend“, 1975) tragen und die in der nun vorliegenden Ausgabe des lyrischen Werks nicht enthalten sind, kehrte er das sentimentale Bekenntnis zur Heimat schlicht um, indem er seine frühen Gedichte, Vers für Vers, negierte: Aus dem „Brunnen eines Landes, das meines ist“ wurde der „Brunnen eines Landes, das nicht meines ist“. Und der Mensch, der solche Zeilen schrieb, war nur noch als Schatten zu erkennen.
THOMAS STEINFELD
„War doch / meine Existenz als
Dichter / selbst eine einzige
lange, verfluchte Metapher“
Pier Paolo Pasolini:
Nach meinem Tod zu
veröffentlichen.
Späte Gedichte.
Herausgegeben, aus dem Italienischen und mit
einem Nachwort von
Theresia Prammer.
Suhrkamp, Berlin 2021.
640 Seiten, 42 Euro.
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»[Eine] sorgfältig herausgegebene Sammlung später Gedichte.« Thomas Schmid DIE WELT 20220307