Matuschek ist vierzig, als seine Mutter stirbt, mit der er das Haus teilte. Ohne ihre Fürsorge weiß er nicht, wie es weitergehen soll. Eine Frau hat er nicht und von dort, wo er wohnt, geht man weg, wenn man kann. Aber Matuschek ist einer, der bleibt, Bewohner des Hinterlands, einer längst von allen aufgegebenen Welt. Zum Glück gibt es Nachbarn. Igor, der Russe, wird zum Freund. Den alten Witt kennt er seit seiner Jugend. Und dann sind da die Tauben, die Matuschek als Junge bekam und seitdem züchtet. Brieftauben haben einen inneren Kompass und kehren stets nach Hause zurück. Das kann schon reichen fürs Leben. Als Matuschek Irina kennenlernt, winkt das Glück. Aber dann geht etwas schief und er beginnt von neuem. »Nach Onkalo« zeigt eine Welt am Rand, in der sich die großen Fragen nicht weniger deutlich stellen: was einen zusammenhält und wie man glücklich wird. Matuschek stellt sich diese Fragen nicht, er will nur seinen Alltag meistern. Doch vielleicht befähigt ihn genau das zur Erkenntnis »ob das Leben die Mühe lohnt«.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2017Es schlackert
der Norden
Kerstin Preiwuß’ feiner Roman
über ein Leben im Abseits
Wasser gibt es genug. Seen. Weite. Wetter, das man beobachten kann, reichlich. Und unheimlich viel Himmel. Öffnet man den Schlag, steigen die schnellen Tauben dorthin auf. Auch wenn nicht immer alle zurückkommen. An Frauen aber mangelt es im ostdeutschen Norden. Die holt zwar nicht der Habicht, die scheinen einfach so zu verschwinden. Nach Onkalo? Eher nicht. Eher nach Emsdetten oder Oberursel. Nur die Alten bleiben. Und dann holt sie doch der Habicht. Und plötzlich steht ein Matuschek ohne seine Mama da. Ein Haus hat er, einen Job als Wetterbeobachter auf dem nahen Flugplatz, aber keine Ahnung, was man tut, wenn die eigene Mutter stirbt. Der Nachbar Igor greift ihm unter die Arme. Regelt die Sache mit der Beerdigung und hilft dem vierzigjährigen Kind Matuschek über die Trauer hinweg. Geht mit ihm angeln und verschafft ihm einen Mutterersatz. Nein, besser als das. Er macht ihn mit Irina bekannt. Und bald schon bekocht sie Matuschek, ja teilt mit ihm, der nicht zu den attraktivsten seiner Art gehört, das Bett.
Glück ist also möglich, denkt man nach einem Viertel des zweiten Romans von Kerstin Preiwuß. Und weiß doch, dass es so nicht bleiben kann. Was „Nach Onkalo“ dabei so lesenswert macht (Onkalo ist übrigens ein finnisches Atommüllendlager), ist das Gespür der Autorin für die richtige Distanz, die man einnehmen muss, um ihren Figuren möglichst nahe zu sein. Einmal ruft sie ihrem Protagonisten, als er sich selbst zu entgleiten droht, direkt etwas zu: „Matuschek, du liegst ja im Fieber! Spürst Arme und Beine nicht mehr, was schlackert da an dir rum?“ Da ist es freilich schon weit gekommen mit diesem Antihelden. Da hat sich sein väterlicher Taubenzüchter-Freund Witt, einst Sicherheitschef im nahen, nie ans Netz gegangenen Atomkraftwerk, in seinem selbstgebauten Bunker das Leben genommen. Auch Igor ist nicht mehr, stattdessen zieht ein alerter junger Mann namens Lewandowski ins Nachbarhaus, schleppt Matuschek, der weder tanzen kann, noch eine Ahnung hat, wie man Frauen aufreißt, in die nächste Disco und erkundigt sich am Eingang, ob heute „Mutti- oder Fotzentag“ sei. Und obwohl „Nach Onkalo“ ein leiser Roman ist und seine Sprache ein feines Messinstrument für atmosphärische Veränderungen, wirken solche Grobheiten hier nicht schief.
Schief würde es wirken, verlöre man noch mehr Worte über diesen kurzen, dichten, durch und durch konzisen Roman.
TOBIAS LEHMKUHL
Kerstin Preiwuß: Nach Onkalo. Roman. Berlin Verlag, München 2017. 240 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Norden
Kerstin Preiwuß’ feiner Roman
über ein Leben im Abseits
Wasser gibt es genug. Seen. Weite. Wetter, das man beobachten kann, reichlich. Und unheimlich viel Himmel. Öffnet man den Schlag, steigen die schnellen Tauben dorthin auf. Auch wenn nicht immer alle zurückkommen. An Frauen aber mangelt es im ostdeutschen Norden. Die holt zwar nicht der Habicht, die scheinen einfach so zu verschwinden. Nach Onkalo? Eher nicht. Eher nach Emsdetten oder Oberursel. Nur die Alten bleiben. Und dann holt sie doch der Habicht. Und plötzlich steht ein Matuschek ohne seine Mama da. Ein Haus hat er, einen Job als Wetterbeobachter auf dem nahen Flugplatz, aber keine Ahnung, was man tut, wenn die eigene Mutter stirbt. Der Nachbar Igor greift ihm unter die Arme. Regelt die Sache mit der Beerdigung und hilft dem vierzigjährigen Kind Matuschek über die Trauer hinweg. Geht mit ihm angeln und verschafft ihm einen Mutterersatz. Nein, besser als das. Er macht ihn mit Irina bekannt. Und bald schon bekocht sie Matuschek, ja teilt mit ihm, der nicht zu den attraktivsten seiner Art gehört, das Bett.
Glück ist also möglich, denkt man nach einem Viertel des zweiten Romans von Kerstin Preiwuß. Und weiß doch, dass es so nicht bleiben kann. Was „Nach Onkalo“ dabei so lesenswert macht (Onkalo ist übrigens ein finnisches Atommüllendlager), ist das Gespür der Autorin für die richtige Distanz, die man einnehmen muss, um ihren Figuren möglichst nahe zu sein. Einmal ruft sie ihrem Protagonisten, als er sich selbst zu entgleiten droht, direkt etwas zu: „Matuschek, du liegst ja im Fieber! Spürst Arme und Beine nicht mehr, was schlackert da an dir rum?“ Da ist es freilich schon weit gekommen mit diesem Antihelden. Da hat sich sein väterlicher Taubenzüchter-Freund Witt, einst Sicherheitschef im nahen, nie ans Netz gegangenen Atomkraftwerk, in seinem selbstgebauten Bunker das Leben genommen. Auch Igor ist nicht mehr, stattdessen zieht ein alerter junger Mann namens Lewandowski ins Nachbarhaus, schleppt Matuschek, der weder tanzen kann, noch eine Ahnung hat, wie man Frauen aufreißt, in die nächste Disco und erkundigt sich am Eingang, ob heute „Mutti- oder Fotzentag“ sei. Und obwohl „Nach Onkalo“ ein leiser Roman ist und seine Sprache ein feines Messinstrument für atmosphärische Veränderungen, wirken solche Grobheiten hier nicht schief.
Schief würde es wirken, verlöre man noch mehr Worte über diesen kurzen, dichten, durch und durch konzisen Roman.
TOBIAS LEHMKUHL
Kerstin Preiwuß: Nach Onkalo. Roman. Berlin Verlag, München 2017. 240 Seiten, 22 Euro. E-Book 17,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Tobias Lehmkuhl verliert nicht viele Worte über den kleinen, wie er findet, feinen Roman von Kerstin Preiwuß. So leise der Text und die Geschichte über ein vierzigjähriges Kind, das plötzlich ohne Mutter dasteht, daherkommt, so feinsinnig ist seine Sprache, meint Lehmkuhl. Atmosphärische Veränderungen nimmt sie wahr und bedeutet dem Rezensenten, dass Glück möglich ist. Lesenswert scheint Lehmkuhl der Text nicht zuletzt wegen der richtigen Distanz, die Preiwuß zu ihren Figuren einnimmt - um ihnen recht nahe zu kommen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Dass der schräge Sonderling letztendlich doch noch die Kurve kriegt, gehört zu den versöhnlichen Wendungen dieses versteckten Entwicklungsromans, den Kerstin Preiwuß still und ruhig inszeniert, mit dem trügerisch poetischen Unterton einer Lyrikerin.« TITEL Kulturmagazin 20171225