Griechenland-Krise? Flüchtlingsdramen an Europas Südostküste? Gab es alles schon im Ersten Weltkrieg, und ein junger Mann aus Barcelona, der unter dem Pseudonym Gaziel zu einem der elegantesten und besten Journalisten Spaniens wurde, hat es aufgeschrieben. Mit dem Schiff fuhr er 1915 nach Griechenland, wo er statt klassisch humanistischer Szenerien ein in Auflösung begriffenes zerrissenes Staatswesen von Europas Gnaden vorfand. In Saloniki, von Engländern und Franzosen besetzt, unterhält er sich mit der in Angst und Schrecken versetzten jüdischen Bevölkerung, bevor er in Richtung Serbien fährt und vom Elend der von deutschen und bulgarischen Truppen vertriebenen Flüchtlinge erzählt. Es lohnt sich, diesen mit großer Verve geschriebenen Reisebericht in Zeiten des Krieges genau zu lesen. Ähnlichkeiten mit heutigen Begebenheiten sind ebenso zufällig wie wenig verwunderlich.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Stephan Wackwitz hält das nun auf Deutsch publizierte Buch des katalanischen Kriegsreporters Agusti Calvet Pascual alias Gaziel aus dem Jahr 1915 für zu Recht vergessen. Den vom Verlag veranschlagten aktuellen Bezug zur Flüchtlingskrise kann er in dem Reisebericht aus Italien, Griechenland und vom Balkan nicht erkennen. Gaziels rhetorisch aufgeregt pathetischer Stil sagt ihm nicht zu und bringt "wenig politischen Wissenszuwachs". Wie detailliert damals in Barcelona über weit entfernte Ereignisse berichtet wurde, erstaunt Wackwitz zwar, doch die politische Dynamik dieser Ereignisse kann der Text ihm nicht vermitteln, die Vorurteile des Autors schon eher.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2016Ein Philhellene kann den Balkan nicht schätzen
Aufgeregtheit von gestern: Was die Kriegsberichte des katalanischen Journalisten Gaziel heutigen Lesern sagen
Der Serbien-Feldzug der Mittelmächte und Bulgariens im Herbst 1915 war der Versuch der deutschen und österreichischen Heeresleitung, über den Balkan erstens eine strategische Verbindung zum Osmanischen Reich herzustellen und zweitens Serbien mit militärischer Vernichtung zu bestrafen. Das zweite Ziel wurde erreicht, das erste nicht. Alliierte Truppen und die Neutralität Griechenlands verhinderten die Landbrücke zum Bosporus, nicht aber das Leid der vertriebenen, von Freischärlern terrorisierten und in den mazedonischen Bergen zwischen den Fronten umherirrenden Zivilbevölkerung.
Gaziel ist der Nom de plume des katalanischen Journalisten Agustí Calvet Pascual (1887 bis 1964), ein Reporter mit Starqualitäten, der für "La Vanguardia" in Barcelona arbeitete, eine der ältesten und heute noch existierenden Zeitungen Spaniens. Seine Kriegskorrespondenzen waren so berühmt, dass sie zum Teil noch im Krieg als Bücher erschienen. Eines von diesen, der Reisebericht "Nach Saloniki und Serbien" erscheint nun erstmals auf Deutsch. Der Verlag bewirbt es mit dem Hinweis auf "Ähnlichkeiten mit heutigen Begebenheiten", die "ebenso zufällig wie wenig verwunderlich" seien.
Es gehört zu den Besonderheiten der Flüchtlingskrise des Jahres 2015, dass sie, schon während sie sich entfaltete, in historischen Dimensionen und mit Bezug auf historische Vergleichsfälle beschrieben wurde. Einer der aufgerufenen Parallelfälle war die Völkerwanderung, die seit dem Donau-Übertritt der Goten in der römischen Provinz Mösien im Jahr 376 genau ein Jahrhundert später zum Untergang des Weströmischen Reichs führte. Die zweite Parallelaktion waren die Vertreibungen, Genozide und Flüchtlingsströme, die der Erste Weltkrieg auslöste. Die Übersetzung und Publikation von Gaziels Kriegskorrespondenzen von 1915 aus Italien, Griechenland und vom Balkan gehört in diesen "historistischen" Argumentationszusammenhang in einer aktuellen politischen Situation.
Gaziels Buch ist aber auch ein schlagendes Beispiel für den begrenzten Erkenntniswert der historischen Betrachtungsweise dessen, was sich hundert Jahre nach dem Serbien-Feldzug auf der sogenannten Balkan-Route abgespielt hat. Geschichte wiederholt sich nicht, sosehr sich ihre menschlichen Katastrophen durch die Jahrhunderte gleichen. Gaziel war ein glühend frankophiler Parteigänger der alliierten Sache, ein liberaler Westeuropäer, der den deutschen "Ideen von 1914" in sympathischer Skepsis gegenüberstand. Sein Stil ist geprägt von einem rhetorisch aufgeregten Menschheitspathos, das schon 1917, im Erscheinungsjahr seines Buches, viel Zustimmung gehabt haben wird, aber wenig politischen Wissenszuwachs hervorbrachte: "Die Szenen, die wir erleben, rufen unsagbare Beklemmung hervor, grenzenloses Mitleid, tiefe Traurigkeit und unendlichen Verdruss über die Welt. Nichts, was ich bisher in diesem Krieg erlebt habe, hat mich so sehr erschüttert wie diese Schar von halbnackten, in Lumpen gekleideten Bauern, die aus ihrer Heimat gefegt werden wie menschlicher Abfall. (...) Was also bedeutet dann das Wort Serbe in diesem Fall? Es bedeutet lediglich, dass diese Menschen auf serbischem Territorium geboren wurden und die Sprache ihres Landes sprechen. Und das soll ein Verbrechen sein? Deswegen werden sie angegriffen und gehetzt wie wilde Tiere? Deswegen schlachtet man sie ab, vernichtet sie, vertreibt sie aus ihrer Heimat? Haben sie sich ihren Geburtsort etwa ausgesucht? Was hat ihnen diese Heimat eingebracht als unermessliches Elend?"
Es fällt schwer, angesichts eines solchen Sturzbachs von rhetorischen Fragen nicht an Max Webers Verdikt der "sterilen Aufgeregtheit" zu denken, deren sich die Gesinnungsethiker schuldig machen. Zumal dieser Ton in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem großbürgerlich-westlichen Überlegenheitsgefühl steht, das Gaziel in seiner Beschreibung griechischer Städte, makedonischer "Barbarei", balkanischer Straßenverhältnisse und neapolitanischer Buntheit in Anschlag bringt. Da erheben salonikische Juden "die Stimmen im Chor und recken die Arme in die Höhe, als wollten sie dem ausländischen Heere drohen, das die Ruhe ihrer Kaufmannsseelen stört. (...) Es ist eine Klageorgie aus tiefster jüdischer Brust, die ja zu den klagewütigsten überhaupt gehört."
Wie die gebildeten Philhellenen seit Friedrich Hölderlin formuliert Gaziel die Unterschiede zwischen den Griechen seiner Zeit und den Phantasmen seiner klassischen Erziehung bei jeder sich bietenden Gelegenheit. "Doch ahne ich, daß der Balkan in Wahrheit ein Gemisch aus Völkern birgt, die wenig empfänglich sind für das, was wir europäische Kultur nennen. Der Name Griechenland enthält die Bezeichnung eines Geschlechts voller Milde und Erhabenheit. (...) Die meisten Passagiere auf der Adriatikos sind Griechen. Ich sehe, wie sie träge herumlümmeln und - nach türkischer Sitte - mit Murmeln aus Glas, Bernstein, Perlmutt oder Sandelholz spielen, die sie, wie von einem eintönigen Impuls getrieben, durch ihre Finger wandern lassen. Würde man in ihren Gesichtern eine Spur der hellenischen Rasse entdecken wollen, man würde nichts finden."
Beeindruckend ist an Gaziels Reiseberichten vor allem ein pressegeschichtliches Datum: wie detailliert und umfangreich in Barcelona 1915 über weit entfernte zeitgenössische Ereignisse in der Tagespresse zu lesen war. Über die politische Dynamik dieser Ereignisse jedoch erfährt man aus dieser Kriegskorrespondenz weniger als über die Vorurteile des konventionell gebildeten linksbürgerlichen Westeuropäers, der 1915 auf dem Balkan Zeuge der Auflösung der von Stefan Zweig beschriebenen "Welt von Gestern" wurde.
Es gibt eine Form des Detailreichtums, die den Leser nicht klüger macht. Und auch die "Ähnlichkeiten mit heutigen Begebenheiten", die der Verlag für unvermeidlich hält, verflüchtigen sich bei näherem Hinsehen und genauerem Nachdenken. Manche Bücher sind zu Unrecht vergessen, das von Gaziel gehört zu den mit Recht vergessenen. STEPHAN WACKWITZ
Gaziel: "Nach Saloniki und Serbien". Eine Reise in den Ersten Weltkrieg.
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Berenberg Verlag, Berlin 2016. 272 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aufgeregtheit von gestern: Was die Kriegsberichte des katalanischen Journalisten Gaziel heutigen Lesern sagen
Der Serbien-Feldzug der Mittelmächte und Bulgariens im Herbst 1915 war der Versuch der deutschen und österreichischen Heeresleitung, über den Balkan erstens eine strategische Verbindung zum Osmanischen Reich herzustellen und zweitens Serbien mit militärischer Vernichtung zu bestrafen. Das zweite Ziel wurde erreicht, das erste nicht. Alliierte Truppen und die Neutralität Griechenlands verhinderten die Landbrücke zum Bosporus, nicht aber das Leid der vertriebenen, von Freischärlern terrorisierten und in den mazedonischen Bergen zwischen den Fronten umherirrenden Zivilbevölkerung.
Gaziel ist der Nom de plume des katalanischen Journalisten Agustí Calvet Pascual (1887 bis 1964), ein Reporter mit Starqualitäten, der für "La Vanguardia" in Barcelona arbeitete, eine der ältesten und heute noch existierenden Zeitungen Spaniens. Seine Kriegskorrespondenzen waren so berühmt, dass sie zum Teil noch im Krieg als Bücher erschienen. Eines von diesen, der Reisebericht "Nach Saloniki und Serbien" erscheint nun erstmals auf Deutsch. Der Verlag bewirbt es mit dem Hinweis auf "Ähnlichkeiten mit heutigen Begebenheiten", die "ebenso zufällig wie wenig verwunderlich" seien.
Es gehört zu den Besonderheiten der Flüchtlingskrise des Jahres 2015, dass sie, schon während sie sich entfaltete, in historischen Dimensionen und mit Bezug auf historische Vergleichsfälle beschrieben wurde. Einer der aufgerufenen Parallelfälle war die Völkerwanderung, die seit dem Donau-Übertritt der Goten in der römischen Provinz Mösien im Jahr 376 genau ein Jahrhundert später zum Untergang des Weströmischen Reichs führte. Die zweite Parallelaktion waren die Vertreibungen, Genozide und Flüchtlingsströme, die der Erste Weltkrieg auslöste. Die Übersetzung und Publikation von Gaziels Kriegskorrespondenzen von 1915 aus Italien, Griechenland und vom Balkan gehört in diesen "historistischen" Argumentationszusammenhang in einer aktuellen politischen Situation.
Gaziels Buch ist aber auch ein schlagendes Beispiel für den begrenzten Erkenntniswert der historischen Betrachtungsweise dessen, was sich hundert Jahre nach dem Serbien-Feldzug auf der sogenannten Balkan-Route abgespielt hat. Geschichte wiederholt sich nicht, sosehr sich ihre menschlichen Katastrophen durch die Jahrhunderte gleichen. Gaziel war ein glühend frankophiler Parteigänger der alliierten Sache, ein liberaler Westeuropäer, der den deutschen "Ideen von 1914" in sympathischer Skepsis gegenüberstand. Sein Stil ist geprägt von einem rhetorisch aufgeregten Menschheitspathos, das schon 1917, im Erscheinungsjahr seines Buches, viel Zustimmung gehabt haben wird, aber wenig politischen Wissenszuwachs hervorbrachte: "Die Szenen, die wir erleben, rufen unsagbare Beklemmung hervor, grenzenloses Mitleid, tiefe Traurigkeit und unendlichen Verdruss über die Welt. Nichts, was ich bisher in diesem Krieg erlebt habe, hat mich so sehr erschüttert wie diese Schar von halbnackten, in Lumpen gekleideten Bauern, die aus ihrer Heimat gefegt werden wie menschlicher Abfall. (...) Was also bedeutet dann das Wort Serbe in diesem Fall? Es bedeutet lediglich, dass diese Menschen auf serbischem Territorium geboren wurden und die Sprache ihres Landes sprechen. Und das soll ein Verbrechen sein? Deswegen werden sie angegriffen und gehetzt wie wilde Tiere? Deswegen schlachtet man sie ab, vernichtet sie, vertreibt sie aus ihrer Heimat? Haben sie sich ihren Geburtsort etwa ausgesucht? Was hat ihnen diese Heimat eingebracht als unermessliches Elend?"
Es fällt schwer, angesichts eines solchen Sturzbachs von rhetorischen Fragen nicht an Max Webers Verdikt der "sterilen Aufgeregtheit" zu denken, deren sich die Gesinnungsethiker schuldig machen. Zumal dieser Ton in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem großbürgerlich-westlichen Überlegenheitsgefühl steht, das Gaziel in seiner Beschreibung griechischer Städte, makedonischer "Barbarei", balkanischer Straßenverhältnisse und neapolitanischer Buntheit in Anschlag bringt. Da erheben salonikische Juden "die Stimmen im Chor und recken die Arme in die Höhe, als wollten sie dem ausländischen Heere drohen, das die Ruhe ihrer Kaufmannsseelen stört. (...) Es ist eine Klageorgie aus tiefster jüdischer Brust, die ja zu den klagewütigsten überhaupt gehört."
Wie die gebildeten Philhellenen seit Friedrich Hölderlin formuliert Gaziel die Unterschiede zwischen den Griechen seiner Zeit und den Phantasmen seiner klassischen Erziehung bei jeder sich bietenden Gelegenheit. "Doch ahne ich, daß der Balkan in Wahrheit ein Gemisch aus Völkern birgt, die wenig empfänglich sind für das, was wir europäische Kultur nennen. Der Name Griechenland enthält die Bezeichnung eines Geschlechts voller Milde und Erhabenheit. (...) Die meisten Passagiere auf der Adriatikos sind Griechen. Ich sehe, wie sie träge herumlümmeln und - nach türkischer Sitte - mit Murmeln aus Glas, Bernstein, Perlmutt oder Sandelholz spielen, die sie, wie von einem eintönigen Impuls getrieben, durch ihre Finger wandern lassen. Würde man in ihren Gesichtern eine Spur der hellenischen Rasse entdecken wollen, man würde nichts finden."
Beeindruckend ist an Gaziels Reiseberichten vor allem ein pressegeschichtliches Datum: wie detailliert und umfangreich in Barcelona 1915 über weit entfernte zeitgenössische Ereignisse in der Tagespresse zu lesen war. Über die politische Dynamik dieser Ereignisse jedoch erfährt man aus dieser Kriegskorrespondenz weniger als über die Vorurteile des konventionell gebildeten linksbürgerlichen Westeuropäers, der 1915 auf dem Balkan Zeuge der Auflösung der von Stefan Zweig beschriebenen "Welt von Gestern" wurde.
Es gibt eine Form des Detailreichtums, die den Leser nicht klüger macht. Und auch die "Ähnlichkeiten mit heutigen Begebenheiten", die der Verlag für unvermeidlich hält, verflüchtigen sich bei näherem Hinsehen und genauerem Nachdenken. Manche Bücher sind zu Unrecht vergessen, das von Gaziel gehört zu den mit Recht vergessenen. STEPHAN WACKWITZ
Gaziel: "Nach Saloniki und Serbien". Eine Reise in den Ersten Weltkrieg.
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Berenberg Verlag, Berlin 2016. 272 S., geb., 25,- [Euro].
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