Antonia, eine junge Fotografin, trifft auf Korsika eines Abends unerwartet auf den Soldner Dragan, den sie Jahre zuvor im Jugoslawienkrieg kennengelernt hat. Nach Stunden intensiver Unterhaltung entscheidet sich die junge Frau heim in die Berge zu fahren und verunglückt todlich.Die Totenmesse wird von ihrem Onkel, einem Priester abgehalten. Um seine unendliche Trauer über den Tod der innig geliebten Nichte im Zaum zu halten, entscheidet er sich für die strikte Einhaltung der Regeln der Liturgie. Im Glutofen der kleinen Kirche aber steigen Bilder der Erinnerung aus dem Leben der Verstorbenen auf ...Sie führen vom militanten Nationalismus auf Korsika über die verheerenden Kriege des 20. Jahrhunderts ins Herz der Frage nach der menschlichen Existenz, dem Glauben, der Macht von Politik und bringen unsere Vorstellung von Zeit, Wirklichkeit und Tod ins Wanken.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2019Im Zweifel für den Zweifel
Bilder von einem bösen Ende: In seinem Requiem einer jungen Fotografin meditiert Jérôme Ferrari über die Vergänglichkeit.
Schreiben Philosophen gute Romane? Ein zündender Einfall führt nicht zwangsläufig zu einer lesenswerten Geschichte, und systematische Untersuchungen eines Weltausschnitts werden erst dann zu Literatur, wenn sie mit greifbaren Figuren belebt werden. Dem französischen Philosophielehrer und Schriftsteller Jérôme Ferrari hat man gelegentlich vorgeworfen, seine Romane seien thematisch-didaktisch überfrachtet. In seiner "Predigt auf den Untergang Roms", für die er 2012 den Prix Goncourt erhielt, wechselten Betrachtungen über den Zerfall von Großreichen dabei mit lebensprallen Szenen des Untergangs einer Bar in einem korsischen Kaff, inklusive Saufgelagen, Eifersuchtsdramen und deftigen libidinösen Ausschweifungen. In "Ein Gott ein Tier" exemplifizierte Ferrari dann die Leiden der modernen Welt in einer Niedergangs-Prosa, indem er zwei müde Krieger aufeinanderprallen ließ - der eine ein traumatisierter Söldner, die andere eine erschöpfte Soldatin des Kapitalismus.
Ferraris Interesse für Vergänglichkeit und Untergang liegt auch seinem neuen Roman "Nach seinem Bilde" zugrunde. Die Hauptfigur Antonia, eine Fotografin auf Korsika, geht schon auf den ersten Seiten des Romans mit gerade einmal dreißig Jahren den Weg alles Irdischen, hält Ferraris Geschichte aber dennoch bis zu ihrem bösen Ende zusammen. Antonias Totenmesse, die der Priester - er ist zugleich der Onkel der Verstorbenen - in der Gluthitze einer korsischen Kapelle abhält, ist Ausgangspunkt einer liturgisch rhythmisierten Umkreisung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Tod und Fotografie: das Foto als flüchtiger Ausschnitt einer Wirklichkeit, die in dem Moment dem Tod geweiht ist, in dem der Auslöser gedrückt wird.
"Im Grunde genommen gab es nur zwei Kategorien professioneller Fotografien, solche, die nicht hätten existieren dürfen, und solche, die nichts anderes verdienten, als im Orkus zu verschwinden." Ferraris allwissender Erzähler bringt treffsicher Antonias Konflikt als Fotografin auf den Punkt. Sowohl die stilisierten Fotos von Jungvermählten, die Antonia mit "diabolischer Freude unter brennender Sonne hinreichend lang in ausgeklügelten Verrenkungen posieren lässt", als auch die Schreckensbilder, die sie als Reporterin im Jugoslawien-Krieg zu Gesicht bekommt, bringen sie zur nüchternen Erkenntnis, dass Fotografien der "Suche nach Tiefe die Undurchdringlichkeit ihrer Oberfläche entgegensetzten". Mit anderen Worten: Es braucht einen Erzähler, der das Foto in seinen Kontext bettet.
Wie die Fotografie sind auch das Scheitern in den kleinen Geschichten der Menschen sowie die Brüche in der großen Geschichte Leitmotive in Ferraris Werk, denen er sich in seinem aktuellen Roman abermals widmet. Wo Antonia erkennt, dass sie selbst an der Kriegsfront mit ihrer Kamera nicht der "Wirklichkeit des Lebens den Schleier" wird heben können, müht sich ihr Onkel, der Priester, an Bibelexegese, Theodizee und Liturgie ab. Wieso trauern wir um Verstorbene, wenngleich ihnen das ewige Leben bevorsteht? Welchen Trost kann die Kirche spenden, wenn die Liturgie in Phrasen erstarrt ist? Und was bedeutet es, wenn der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen wurde? "Hätte es eine Fotografie Christi geben können, sie hätte nichts anderes gezeigt als einen zu Tode gefolterten und dem ewigen Tod ausgelieferten Körper", sinniert der Kirchenmann beim Requiem in der überfüllten Kapelle und fühlt sich einmal mehr schuldig. Schließlich war er es, der Antonia die erste Kamera schenkte, durch deren Linse sie das Unheil auf der Erde sehen und sich daraufhin vom Glauben abwenden würde.
Um dem Geheimnis der Fotografie auf die Spur zu kommen, begibt sich Ferrari auf eine literarische Zeitreise mit essayistischen Zwischenstopps. Er taucht ab in die Anfänge der professionellen Kriegsreportage im osmanisch-italienischen Krieg von 1911 mit ihrer verstörenden Faszination für Massaker und Hinrichtungen und untersucht daraufhin die Schlachten auf dem Balkan und im Irak 1991. Dann wieder führt der Erzählstrang zurück zu Antonias Anfängen als Lokalreporterin auf Korsika. Ihr Liebesverhältnis zu einem berüchtigten korsischen Separatisten beschert ihr nicht nur exklusive Bilder aus dem Kreis der Terroristen, sondern auch die Erkenntnis, dass der Befreiungskampf des FLNC nur eine "beschissene Mythologie" eitler junger Männer ist, die "das ganze Land inzwischen als Mörder verehrt". Jérôme Ferrari, der selbst einmal dem Front de libération nationale corse nahestand, entscheidet sich im Zweifel immer für den Zweifel an festen Überzeugungen und einfachen Lösungen. In jedem Absatz, so scheint es, schwingt eine wohlmeinende Erinnerung an die menschliche Unvollkommenheit mit, an die Irrwege, die man in Kauf nehmen muss, wenn man den Grund der Dinge ausloten will.
Sein deutscher Verleger und Übersetzer Christian Ruzicska hat Ferraris Ton, der weder das hohe Pathos scheut noch die schmucklose Unmittelbarkeit, stilsicher ins Deutsche übertragen. Das französische "il s'en allait" findet zwar mit "er ging weg" nicht gerade die eleganteste Entsprechung, und auch wird man in Frankreich keine "Bundesstraße" finden und in Serbien kein "Auswärtiges Amt". Diese kleinen Unebenheiten sind aber schnell zu verschmerzen angesichts der Sogwirkung, die Ferraris atmosphärisch dichte Kettensätze auch in der Übersetzung entfalten.
Die Dinge enden schlecht in Ferraris Universum, und das ist auch wörtlich in vielen seiner Romane genau so nachzulesen. "Nach seinem Bilde" liefert dazu literarische Fiktionen, die er mit konkreten Reflexionen systematisch untermauert. Es ist ein philosophischer Roman im besten Sinne, dessen Figuren man in all ihrer menschlichen Unvollkommenheit nicht so schnell vergisst - und das ist ein untrüglicher Beweis für eine gut erzählte Geschichte.
CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Jérôme Ferrari: "Nach
seinem Bilde". Roman.
Aus dem Französischen
von Christian Ruzicska.
Secession Verlag für
Literatur, Zürich 2019.
207 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bilder von einem bösen Ende: In seinem Requiem einer jungen Fotografin meditiert Jérôme Ferrari über die Vergänglichkeit.
Schreiben Philosophen gute Romane? Ein zündender Einfall führt nicht zwangsläufig zu einer lesenswerten Geschichte, und systematische Untersuchungen eines Weltausschnitts werden erst dann zu Literatur, wenn sie mit greifbaren Figuren belebt werden. Dem französischen Philosophielehrer und Schriftsteller Jérôme Ferrari hat man gelegentlich vorgeworfen, seine Romane seien thematisch-didaktisch überfrachtet. In seiner "Predigt auf den Untergang Roms", für die er 2012 den Prix Goncourt erhielt, wechselten Betrachtungen über den Zerfall von Großreichen dabei mit lebensprallen Szenen des Untergangs einer Bar in einem korsischen Kaff, inklusive Saufgelagen, Eifersuchtsdramen und deftigen libidinösen Ausschweifungen. In "Ein Gott ein Tier" exemplifizierte Ferrari dann die Leiden der modernen Welt in einer Niedergangs-Prosa, indem er zwei müde Krieger aufeinanderprallen ließ - der eine ein traumatisierter Söldner, die andere eine erschöpfte Soldatin des Kapitalismus.
Ferraris Interesse für Vergänglichkeit und Untergang liegt auch seinem neuen Roman "Nach seinem Bilde" zugrunde. Die Hauptfigur Antonia, eine Fotografin auf Korsika, geht schon auf den ersten Seiten des Romans mit gerade einmal dreißig Jahren den Weg alles Irdischen, hält Ferraris Geschichte aber dennoch bis zu ihrem bösen Ende zusammen. Antonias Totenmesse, die der Priester - er ist zugleich der Onkel der Verstorbenen - in der Gluthitze einer korsischen Kapelle abhält, ist Ausgangspunkt einer liturgisch rhythmisierten Umkreisung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Tod und Fotografie: das Foto als flüchtiger Ausschnitt einer Wirklichkeit, die in dem Moment dem Tod geweiht ist, in dem der Auslöser gedrückt wird.
"Im Grunde genommen gab es nur zwei Kategorien professioneller Fotografien, solche, die nicht hätten existieren dürfen, und solche, die nichts anderes verdienten, als im Orkus zu verschwinden." Ferraris allwissender Erzähler bringt treffsicher Antonias Konflikt als Fotografin auf den Punkt. Sowohl die stilisierten Fotos von Jungvermählten, die Antonia mit "diabolischer Freude unter brennender Sonne hinreichend lang in ausgeklügelten Verrenkungen posieren lässt", als auch die Schreckensbilder, die sie als Reporterin im Jugoslawien-Krieg zu Gesicht bekommt, bringen sie zur nüchternen Erkenntnis, dass Fotografien der "Suche nach Tiefe die Undurchdringlichkeit ihrer Oberfläche entgegensetzten". Mit anderen Worten: Es braucht einen Erzähler, der das Foto in seinen Kontext bettet.
Wie die Fotografie sind auch das Scheitern in den kleinen Geschichten der Menschen sowie die Brüche in der großen Geschichte Leitmotive in Ferraris Werk, denen er sich in seinem aktuellen Roman abermals widmet. Wo Antonia erkennt, dass sie selbst an der Kriegsfront mit ihrer Kamera nicht der "Wirklichkeit des Lebens den Schleier" wird heben können, müht sich ihr Onkel, der Priester, an Bibelexegese, Theodizee und Liturgie ab. Wieso trauern wir um Verstorbene, wenngleich ihnen das ewige Leben bevorsteht? Welchen Trost kann die Kirche spenden, wenn die Liturgie in Phrasen erstarrt ist? Und was bedeutet es, wenn der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen wurde? "Hätte es eine Fotografie Christi geben können, sie hätte nichts anderes gezeigt als einen zu Tode gefolterten und dem ewigen Tod ausgelieferten Körper", sinniert der Kirchenmann beim Requiem in der überfüllten Kapelle und fühlt sich einmal mehr schuldig. Schließlich war er es, der Antonia die erste Kamera schenkte, durch deren Linse sie das Unheil auf der Erde sehen und sich daraufhin vom Glauben abwenden würde.
Um dem Geheimnis der Fotografie auf die Spur zu kommen, begibt sich Ferrari auf eine literarische Zeitreise mit essayistischen Zwischenstopps. Er taucht ab in die Anfänge der professionellen Kriegsreportage im osmanisch-italienischen Krieg von 1911 mit ihrer verstörenden Faszination für Massaker und Hinrichtungen und untersucht daraufhin die Schlachten auf dem Balkan und im Irak 1991. Dann wieder führt der Erzählstrang zurück zu Antonias Anfängen als Lokalreporterin auf Korsika. Ihr Liebesverhältnis zu einem berüchtigten korsischen Separatisten beschert ihr nicht nur exklusive Bilder aus dem Kreis der Terroristen, sondern auch die Erkenntnis, dass der Befreiungskampf des FLNC nur eine "beschissene Mythologie" eitler junger Männer ist, die "das ganze Land inzwischen als Mörder verehrt". Jérôme Ferrari, der selbst einmal dem Front de libération nationale corse nahestand, entscheidet sich im Zweifel immer für den Zweifel an festen Überzeugungen und einfachen Lösungen. In jedem Absatz, so scheint es, schwingt eine wohlmeinende Erinnerung an die menschliche Unvollkommenheit mit, an die Irrwege, die man in Kauf nehmen muss, wenn man den Grund der Dinge ausloten will.
Sein deutscher Verleger und Übersetzer Christian Ruzicska hat Ferraris Ton, der weder das hohe Pathos scheut noch die schmucklose Unmittelbarkeit, stilsicher ins Deutsche übertragen. Das französische "il s'en allait" findet zwar mit "er ging weg" nicht gerade die eleganteste Entsprechung, und auch wird man in Frankreich keine "Bundesstraße" finden und in Serbien kein "Auswärtiges Amt". Diese kleinen Unebenheiten sind aber schnell zu verschmerzen angesichts der Sogwirkung, die Ferraris atmosphärisch dichte Kettensätze auch in der Übersetzung entfalten.
Die Dinge enden schlecht in Ferraris Universum, und das ist auch wörtlich in vielen seiner Romane genau so nachzulesen. "Nach seinem Bilde" liefert dazu literarische Fiktionen, die er mit konkreten Reflexionen systematisch untermauert. Es ist ein philosophischer Roman im besten Sinne, dessen Figuren man in all ihrer menschlichen Unvollkommenheit nicht so schnell vergisst - und das ist ein untrüglicher Beweis für eine gut erzählte Geschichte.
CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Jérôme Ferrari: "Nach
seinem Bilde". Roman.
Aus dem Französischen
von Christian Ruzicska.
Secession Verlag für
Literatur, Zürich 2019.
207 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.01.2020Der Moment vor dem Schlag
Eine Fotografin ist umgekommen: In „Nach seinem Bilde“ fragt Jérôme
Ferrari, was in ihren Aufnahmen vom Leben bleibt
VON JOSEPH HANIMANN
Für den Roman „Predigt auf den Untergang Roms“ bekam Jérôme Ferrari 2012 den Goncourt-Preis, darin entwickelte sich die Handlung in einer langen Satzfolge zu Beginn aus der Betrachtung eines alten Familienfotos wie aus einem Säurebad der Erinnerung. Die Fotografie spielt bei diesem Autor eine wichtige Rolle. In seinem neuen Roman steht sie im Mittelpunkt: Antonia, die Hauptfigur, ist Fotografin. Sie kommt aber schon auf den ersten Seiten um.
Während der Totenmesse, die im Buch die Erzählzeit ausmacht, schweben im Kopf der anwesenden Trauergäste Erinnerungsbilder der Verstorbenen herum. Und mit ihnen kommen Betrachtungen über den Wahrheitsgehalt der im Bild fixierten Momente, über die Fragwürdigkeit des Kamerablicks zwischen Objektivität und voyeuristischer Obszönität, über den Zusammenhang zwischen der Fotografie und dem Tod. Bekanntlich gehörten zu den ersten Menschendarstellungen in der Geschichte der Fotografie, bedingt durch die lange Belichtungszeit, vor allem Leichen.
Nach dem Körper der jungen Frau, die in diesem Roman an einem heißen Sommertag in einer korsischen Dorfkirche im Sarg liegt, hatte erst lange gesucht werden müssen. Sie war bei einem Autounfall umgekommen, auf der Heimfahrt nach einem banalen Fototermin auf einer Hochzeit. Am Tag davor hatte Antonia im Hafen der korsischen Stadt Calvi zufällig einen Mann wiedergetroffen, den sie zehn Jahre früher in Belgrad als Mitglied der Jugoslawischen Volksarmee kennengelernt hatte, und der nun bei der französischen Fremdenlegion war. Die Müdigkeit nach der durchdiskutierten Nacht dürfte beim Unfall mitgespielt haben.
Was ist erstrebenswerter, ein langweiliges Leben oder eine jähe Beschleunigung mit dramatischem Ausgang? Antonia, die in ihrem Fotografinnenalltag am laufenden Meter Hochzeits- und Porträtaufnahmen knipste, hatte sich mit ihrer Kamera immer von Kriegsschauplätzen angezogen gefühlt. Schon als junges Mädchen war sie in einen jungen Kämpfer der Korsischen Befreiungsfront verknallt gewesen, den sie heiratete, durch wiederholte Gefängnisaufenthalte aber auch bald wieder verlor. Früh war ihr indessen klar geworden, wie schäbig die Wirklichkeit hinter dem aufregenden Schein oft ist. Als Fotografin zu einer nächtlichen Pressekonferenz an einem geheimen Ort des korsischen Maquis geladen, hatte sie in den vermummten Gestalten ihren Verlobten und dessen Freunde erkannt. Das Schäbige an dieser Farce konnte ihre Kamera nicht zeigen.
Im Lauf ihrer Berufserfahrung lernte Antonia, was die Fotografie dennoch alles vermag. Das erste eigene Bild, auf das sie stolz war, zeigte eine Szene mit ihren Jugendfreunden an einem korsischen Strand, bei welcher ihr künftiger Verlobter grundlos einen fremden Touristen verprügelte. Antonias Aufnahme zeigt aber nicht den Moment, in dem die Schläge auf das Opfer einprasseln, sondern jenen unmittelbar davor, den feindseligen Blick der Jugendlichen und den vergnügt ins Bild spazierenden Sommerfrischler.
Der jungen Fotografin war also damals schon klar, dass Gewalt sich eher in ihrem Schwelen als im Ausbruch offenbart. Auch hatte Antonia zuvor „den Gorgonen noch nicht ins Auge geblickt, sie hatte nur zum ersten Mal deren Anwesenheit verspürt“. Das Schielen durchs Auge der Kamera hin zur Medusa erfolgt in diesem Roman durch eine Reihe von Rückblenden nicht nur in Antonias kurzes Leben, sondern weit darüber hinaus. Erfundenes vermischt sich mit realen Ereignissen, vom Ersten Weltkrieg, dessen Gräuel der serbische Fotograf Rista Marjanović auf dem Balkan festgehalten hat, bis zum Jugoslawienkrieg der Neunzigerjahre, den Antonia fotografierte.
Den Rhythmus der zwölf Episoden geben die gesprochenen und gesungenen Teile der Totenmesse vor: „Kyrie eleison“, „Dies irae“, Evangelium, „Agnus Dei“, „Libera me, Domine“. Das Hochamt wird zelebriert von Antonias Patenonkel, der ihr als junger Seminarist ihren ersten Fotoapparat geschenkt und sie dann als einfühlsamer Mentor durchs Leben begleitet hat.
Ferrari beweist aufs Neue seine Kunst der thematischen Verdichtung. Beiläufiges und historisch Schwerwiegendes kontaminieren einander immerfort. Das Plaudern und Lachen der eben noch rührseligen Trauergäste draußen beim Rauchen vor der korsischen Dorfkirche ruft die Erinnerung ans hämische Lachen einiger junger Leute auf einer Donaubrücke in Belgrad über einen Soldaten der Volksarmee wach, das tiefe Wunden schlug. Der Autor macht es einem nicht leicht mit dem Hin und Her der Episoden. Lange kreisen die Bilder erhängter Araber 1911 in Tripolis, eines ausgehungerten Mannes im Feldlazarett 1915 auf Korfu, einer Verschwörungszelle des korsischen Widerstands 1984 in Ajaccio oder eines umkippenden Mauerteils 1989 in Berlin beziehungslos umeinander, bis ein Zusammenhang sichtbar wird. Sie sind in den Köpfen der Trauergäste zu wenig solide verankert.
Diese Trauernden wirken, abgesehen vom Priester, seltsam abstrakt. Und der über allem stehende Erzähler bleibt uns in diesem Buch fern. Erzählzeit und erzählte Zeit kommen zunächst in kein Verhältnis zueinander, als wäre der Zoom unscharf eingestellt. Nur zögerlich entfaltet der Roman seine ganze thematische Breite.
Dass Gott den Menschen „nach seinem Bilde“ geschaffen haben soll, wie der aus der Bibel entlehnte Romantitel in Erinnerung ruft, will der wenig religiös veranlagten Antonia nach ihrer Welterfahrung nicht in den Kopf. Nein, schön sei es nicht, dieses Ebenbild Gottes, findet sie, „und das Vorbild dürfte noch schlimmer sein“.
Dennoch legt sie die Kamera nicht aus der Hand. Zwar bleibt der Fotografie jener Hoffnungsschimmer von Wunder und Auferstehung verschlossen, den die Malerei selbst hinter den schmerzlichsten Kreuzigungsszenen anzuzeigen vermag. Und wäre Christus am Kreuz fotografiert worden, hätte sich daraus kaum eine Religion ergeben. Doch besteht die Größe der Fotografie in ihrer objektivierenden Diesseitigkeit.
In der Verbindung solcher Betrachtungen mit Episoden der Zeitgeschichte und mit dem anrührenden Porträt einer lebens- und weltsüchtigen jungen Frau verdichtet der Roman sich schließlich zu jener Intensität, die das Werk Jérôme Ferraris auszeichnet. Und der Übersetzer fängt mit seinem breiten Satzrhythmus, der die Partizipialkonstruktionen des Präsens aus dem Original nachklingen lässt, ohne emphatisch zu werden, den zugleich üppigen und trockenen Erzählstil des Autors auch auf Deutsch wunderbar ein.
Jérôme Ferrari: Nach seinem Bilde. Roman. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secession Verlag, Zürich, 2019. 208 Seiten. 20 Euro.
Was ist erstrebenswerter,
ein langweiliges Leben oder
eine jähe Beschleunigung?
Den zugleich üppigen und
trockenen Erzählstil fängt der
Übersetzer wunderbar ein
Jérôme Ferrari, geboren 1968, unterrichtete Philosophie in Korsika, Algier und Abu Dhabi.
Foto: Joel Saget / AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Eine Fotografin ist umgekommen: In „Nach seinem Bilde“ fragt Jérôme
Ferrari, was in ihren Aufnahmen vom Leben bleibt
VON JOSEPH HANIMANN
Für den Roman „Predigt auf den Untergang Roms“ bekam Jérôme Ferrari 2012 den Goncourt-Preis, darin entwickelte sich die Handlung in einer langen Satzfolge zu Beginn aus der Betrachtung eines alten Familienfotos wie aus einem Säurebad der Erinnerung. Die Fotografie spielt bei diesem Autor eine wichtige Rolle. In seinem neuen Roman steht sie im Mittelpunkt: Antonia, die Hauptfigur, ist Fotografin. Sie kommt aber schon auf den ersten Seiten um.
Während der Totenmesse, die im Buch die Erzählzeit ausmacht, schweben im Kopf der anwesenden Trauergäste Erinnerungsbilder der Verstorbenen herum. Und mit ihnen kommen Betrachtungen über den Wahrheitsgehalt der im Bild fixierten Momente, über die Fragwürdigkeit des Kamerablicks zwischen Objektivität und voyeuristischer Obszönität, über den Zusammenhang zwischen der Fotografie und dem Tod. Bekanntlich gehörten zu den ersten Menschendarstellungen in der Geschichte der Fotografie, bedingt durch die lange Belichtungszeit, vor allem Leichen.
Nach dem Körper der jungen Frau, die in diesem Roman an einem heißen Sommertag in einer korsischen Dorfkirche im Sarg liegt, hatte erst lange gesucht werden müssen. Sie war bei einem Autounfall umgekommen, auf der Heimfahrt nach einem banalen Fototermin auf einer Hochzeit. Am Tag davor hatte Antonia im Hafen der korsischen Stadt Calvi zufällig einen Mann wiedergetroffen, den sie zehn Jahre früher in Belgrad als Mitglied der Jugoslawischen Volksarmee kennengelernt hatte, und der nun bei der französischen Fremdenlegion war. Die Müdigkeit nach der durchdiskutierten Nacht dürfte beim Unfall mitgespielt haben.
Was ist erstrebenswerter, ein langweiliges Leben oder eine jähe Beschleunigung mit dramatischem Ausgang? Antonia, die in ihrem Fotografinnenalltag am laufenden Meter Hochzeits- und Porträtaufnahmen knipste, hatte sich mit ihrer Kamera immer von Kriegsschauplätzen angezogen gefühlt. Schon als junges Mädchen war sie in einen jungen Kämpfer der Korsischen Befreiungsfront verknallt gewesen, den sie heiratete, durch wiederholte Gefängnisaufenthalte aber auch bald wieder verlor. Früh war ihr indessen klar geworden, wie schäbig die Wirklichkeit hinter dem aufregenden Schein oft ist. Als Fotografin zu einer nächtlichen Pressekonferenz an einem geheimen Ort des korsischen Maquis geladen, hatte sie in den vermummten Gestalten ihren Verlobten und dessen Freunde erkannt. Das Schäbige an dieser Farce konnte ihre Kamera nicht zeigen.
Im Lauf ihrer Berufserfahrung lernte Antonia, was die Fotografie dennoch alles vermag. Das erste eigene Bild, auf das sie stolz war, zeigte eine Szene mit ihren Jugendfreunden an einem korsischen Strand, bei welcher ihr künftiger Verlobter grundlos einen fremden Touristen verprügelte. Antonias Aufnahme zeigt aber nicht den Moment, in dem die Schläge auf das Opfer einprasseln, sondern jenen unmittelbar davor, den feindseligen Blick der Jugendlichen und den vergnügt ins Bild spazierenden Sommerfrischler.
Der jungen Fotografin war also damals schon klar, dass Gewalt sich eher in ihrem Schwelen als im Ausbruch offenbart. Auch hatte Antonia zuvor „den Gorgonen noch nicht ins Auge geblickt, sie hatte nur zum ersten Mal deren Anwesenheit verspürt“. Das Schielen durchs Auge der Kamera hin zur Medusa erfolgt in diesem Roman durch eine Reihe von Rückblenden nicht nur in Antonias kurzes Leben, sondern weit darüber hinaus. Erfundenes vermischt sich mit realen Ereignissen, vom Ersten Weltkrieg, dessen Gräuel der serbische Fotograf Rista Marjanović auf dem Balkan festgehalten hat, bis zum Jugoslawienkrieg der Neunzigerjahre, den Antonia fotografierte.
Den Rhythmus der zwölf Episoden geben die gesprochenen und gesungenen Teile der Totenmesse vor: „Kyrie eleison“, „Dies irae“, Evangelium, „Agnus Dei“, „Libera me, Domine“. Das Hochamt wird zelebriert von Antonias Patenonkel, der ihr als junger Seminarist ihren ersten Fotoapparat geschenkt und sie dann als einfühlsamer Mentor durchs Leben begleitet hat.
Ferrari beweist aufs Neue seine Kunst der thematischen Verdichtung. Beiläufiges und historisch Schwerwiegendes kontaminieren einander immerfort. Das Plaudern und Lachen der eben noch rührseligen Trauergäste draußen beim Rauchen vor der korsischen Dorfkirche ruft die Erinnerung ans hämische Lachen einiger junger Leute auf einer Donaubrücke in Belgrad über einen Soldaten der Volksarmee wach, das tiefe Wunden schlug. Der Autor macht es einem nicht leicht mit dem Hin und Her der Episoden. Lange kreisen die Bilder erhängter Araber 1911 in Tripolis, eines ausgehungerten Mannes im Feldlazarett 1915 auf Korfu, einer Verschwörungszelle des korsischen Widerstands 1984 in Ajaccio oder eines umkippenden Mauerteils 1989 in Berlin beziehungslos umeinander, bis ein Zusammenhang sichtbar wird. Sie sind in den Köpfen der Trauergäste zu wenig solide verankert.
Diese Trauernden wirken, abgesehen vom Priester, seltsam abstrakt. Und der über allem stehende Erzähler bleibt uns in diesem Buch fern. Erzählzeit und erzählte Zeit kommen zunächst in kein Verhältnis zueinander, als wäre der Zoom unscharf eingestellt. Nur zögerlich entfaltet der Roman seine ganze thematische Breite.
Dass Gott den Menschen „nach seinem Bilde“ geschaffen haben soll, wie der aus der Bibel entlehnte Romantitel in Erinnerung ruft, will der wenig religiös veranlagten Antonia nach ihrer Welterfahrung nicht in den Kopf. Nein, schön sei es nicht, dieses Ebenbild Gottes, findet sie, „und das Vorbild dürfte noch schlimmer sein“.
Dennoch legt sie die Kamera nicht aus der Hand. Zwar bleibt der Fotografie jener Hoffnungsschimmer von Wunder und Auferstehung verschlossen, den die Malerei selbst hinter den schmerzlichsten Kreuzigungsszenen anzuzeigen vermag. Und wäre Christus am Kreuz fotografiert worden, hätte sich daraus kaum eine Religion ergeben. Doch besteht die Größe der Fotografie in ihrer objektivierenden Diesseitigkeit.
In der Verbindung solcher Betrachtungen mit Episoden der Zeitgeschichte und mit dem anrührenden Porträt einer lebens- und weltsüchtigen jungen Frau verdichtet der Roman sich schließlich zu jener Intensität, die das Werk Jérôme Ferraris auszeichnet. Und der Übersetzer fängt mit seinem breiten Satzrhythmus, der die Partizipialkonstruktionen des Präsens aus dem Original nachklingen lässt, ohne emphatisch zu werden, den zugleich üppigen und trockenen Erzählstil des Autors auch auf Deutsch wunderbar ein.
Jérôme Ferrari: Nach seinem Bilde. Roman. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secession Verlag, Zürich, 2019. 208 Seiten. 20 Euro.
Was ist erstrebenswerter,
ein langweiliges Leben oder
eine jähe Beschleunigung?
Den zugleich üppigen und
trockenen Erzählstil fängt der
Übersetzer wunderbar ein
Jérôme Ferrari, geboren 1968, unterrichtete Philosophie in Korsika, Algier und Abu Dhabi.
Foto: Joel Saget / AFP
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