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Autorenporträt
Philippe Jaccottet, 1925 in Moudon/Waadtland geboren, lebt seit 1953 im südfranzösischen Grignan/Drôme. Für sein umfangreiches Werk wurde er u.a. mit dem Petrarca-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. 2014 wurde sein Gesamtwerk in die Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen. Auf Deutsch erschienen zuletzt Der Unwissende (Gedichte und Prosa, 2003), Truinas, 21. April 2001 (2005), die Anthologie Die Lyrik der Romandie (2008), Notizen aus der Tiefe (2009), Sonnenflecken, Schattenflecken (2015) und Gedanken unter den Wolken (2018).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998

Gefangen im Licht
Philippe Jaccottet träumt weiter Von Thomas Poiss

Am Anfang sieht man nichts. Ein Berg über Nebeln, Pfingstrosen, Flüsse zur Schneeschmelze, ein Todesfall, ein verlassener Weiler, zwei antike Stücke in einer Vitrine, ein Gebirgsbach auf einer Nachtwanderung - kurze Prosapassagen und einzelne Gedichte versuchen die von diesen Motiven ausgehenden Bewegungen aufzunehmen und umzuwandeln. "Eine leichte Veränderung des Blickpunktes genügt zuweilen, um wiederzuentdecken, was die Gewohnheit getrübt oder verschleiert hat." Der flüchtige Betrachter wird diese Übung in behutsamer Genauigkeit schätzen, der Bösmeinende mag die Unfähigkeit zum Roman bemängeln. Der Leser hingegen, der durch Sprache klarer sehen will, kann in diesem Buch die schönsten Entdeckungen und die unheimlichste machen. Es sind sprachliche Übergänge ins nahe Jenseits, lichte Passagen in den Tod.

Wer als Leser mit Philippe Jaccottet länger vertraut ist, wird diese Wendung nicht so überraschend finden. Dennoch bestürzt ihre Intensität und Konsequenz. Jaccottet, 1925 in Moudon in der Westschweiz geboren, lebt nach Jahren in Paris seit 1953 in Grignan in Südfrankreich. Der Übersetzer Musils und Hölderlins hat dort ein OEuvre von Gedichten, lyrischer Prosa, Journalen und kritischen Essays geschaffen, das die großen Themen der Literatur in die Landschaft und Natur einbettet. Geheimes Zentrum des Werks sind die "Elemente eines Traumes" (1961), in denen Jaccottet Musil nach- und weiterdenkt. Dessen Begriff des "anderen Zustands", der alle Formen "tagheller Mystik" von der motorischen Ekstase bis zu den Atemzügen eines Sommertages umfaßt, wird ausgedehnt auf die Erfahrungen eines lange schon verbundenen Paares und auf den poetischen Prozeß. Jaccottets Dichtung gilt der Erhellung dessen, worin wir - und sei es auch noch so gering - über uns hinausragen. Beharrlich hat Jaccottet diesen Bereich von religiösen und ideologischen Schemata freigehalten, ihn gegen den "poetischen Balsam" und die eigene Skepsis geschützt und zuletzt auch in diesem Buch gegen die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts verteidigt.

Wie lose und zufällig der Zusammenhang von Schicksal und Kunst bleiben muß, zeigen die Texte, die um den Tod einer in unmittelbarer Nähe zu Jaccottets Haus verunglückten Freundin kreisen. Sie hatte kurz zuvor eine Karte mit einem Detail aus Giottos Verkündigung aus Padua geschickt, und das Bild suggeriert nun eine assoziative Verbindung mit der Frau, die ihren Leichnam längst verlassen hat. Das Bild auf der Karte zeigt einen weißen Vorhang, dessen irdische Funktionslosigkeit dazu verleiten könnte, ihn für ein Füllsel des originalen Gewölbebildfeldes zu halten; denn zur Seite geschlagen, gibt er den Blick auf nichts anderes frei als auf Giottos Blau. Ein gefälteltes Tuch vor einem leeren Himmel, leicht weggerafft, das ist fast nichts - und zugleich Kunst als höchste menschliche Wirklichkeit, die einen Moment lang den "anderen Blick" auslöst: "Manchmal könnte man glauben, es bestehe kein großer Unterschied zwischen dem Blau des Himmels und den Vögeln, seinen Bewohnern."

Ä hnlich sinnfällige Bilder für das Aufgehen der Dinge im Licht findet Jaccottet in den Beschreibungen der Flüsse und Blumen seiner Landschaft. Dabei verknüpfen sich die Pfingstrosen mit einer Kindheitserinnerung vom Herumstreifen in regennassen Gartenbüschen, und plötzlich leuchten sie anders: "Man wird ihnen folgen, unter grüne Gewölbebögen; und wenn man sich umdreht, wird man vielleicht entdecken, daß man keinen Schatten mehr wirft, daß unsere Schritte keine Spuren mehr hinterlassen im Schlamm." Für einen Moment ist man "drüben" wie beim Betrachten einer kleinen, mit einem blattartigen Fächer ausgestatteten Terrakottadame auf einem etruskischen Urnendeckel. Diesseits und Jenseits werden für jenen Hauch lang durchlässig, den es braucht, der erfrischenden Geste mit dem Fächer das sprachliche Bild des Todes abzugewinnen: "Sie mußte den sanften Wind verlernen."

Daß diese fragilen Übergänge auch im Deutschen oft gelingen, ist einer Übersetzung zu verdanken, die makellos schlicht und genau die Sprachbewegung des Originals bis in die Wortstellung hinein nachzeichnet. Daß diese Bewegung nicht immer und nicht für jeden gelingt, liegt in der begründeten Vermessenheit des Dichters, dem Tod ohne narrative Masken zu begegnen. Dennoch: In den "Elementen eines Traumes" hat Jaccottet das trostlose Verbluten in einem Provinzspital mit solcher Kraßheit dargestellt, daß er nun frei geworden ist, ein ganz anderes Bild des Todes zu erschaffen, ein Bild, dessen Gültigkeit aus dem Diesseits kommt: "Eine Art Exil, eine Art Gefangenschaft im Licht." Oder, mit einer leichten Drehung des Kopfes ins Dunkel gesprochen: "Ich wünsche, erinnere auch an einen Tisch im Dämmerlicht / und schöne Augen am anderen Ende, weit geöffnet, / dann abgewandt."

Philippe Jaccottet: "Nach so vielen Jahren". Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Hanser Verlag, München und Wien 1998. 100 S., geb., 24,- DM.

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