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Thomas Raab analysiert die Entertainmentindustrie aus ungewohnter Perspektive: nicht als Verfallsform früherer Hochkultur, sondern als notwendige Folge der biologischen Ausstattung des Menschen einerseits sowie der ökonomischen Entwicklung andererseits. Seine empirische Suche nach der evolutionären "Basis der Massenästhetik" führt ihn von der literarischen Bestandsaufnahme einer Casting-Show über zahlreiche Selbst- und Kleinkindbeobachtungen bis zu den Reaktionen seiner Katze auf Hundegeheul.

Produktbeschreibung
Thomas Raab analysiert die Entertainmentindustrie aus ungewohnter Perspektive: nicht als Verfallsform früherer Hochkultur, sondern als notwendige Folge der biologischen Ausstattung des Menschen einerseits sowie der ökonomischen Entwicklung andererseits. Seine empirische Suche nach der evolutionären "Basis der Massenästhetik" führt ihn von der literarischen Bestandsaufnahme einer Casting-Show über zahlreiche Selbst- und Kleinkindbeobachtungen bis zu den Reaktionen seiner Katze auf Hundegeheul.
Autorenporträt
Raab, ThomasThomas Raab, geboren 1970, lebt als Schriftsteller und Kognitionsforscher in Wien. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt Nachbrenner (es 2458).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.2006

Die Energieverschwendung des Hinterteils
Aufregend abgebrannt: Thomas Raab entwickelt eine Gesellschaftstheorie aus dem Spektakel

Andere Bücher enden, dieses beginnt mit "Schlußfolgerung und Ausblick". Unter "Einführung in die doppelte Buchhaltung" beschreibt Thomas Raab, wie eine Teilnehmerin an einem Wettbewerb um eine Rollenbesetzung (Casting-Show) ihre Anstrengungen kalkuliert. "Nachbrenner" findet man in keinem bürgerlichen Lexikon. Gemeint ist das Abfackeln der Energie, die eine Maschine nicht mehr verwerten kann, wie der Resttreibstoff bei alten Zweitaktmotoren, also ein Verbrennen sonst unverwertbarer Energieüberschüsse. Daraus entwickelt der Verfasser eine Art Gesellschaftstheorie. "Das Spektakel (ist) der Nachbrenner des Industriestaates" bedeutet: Spektakel wie die Fußball-Weltmeisterschaft benötigen Energie, verschaffen aber keinen Erkenntnisgewinn. Ihr Sinn ist, Energie zu verbrauchen, damit die strukturell konservative kapitalistische Gesellschaft keine Kraft mehr zu grundlegenden Reformen hat.

Das ist keine schockierend neue Idee. Raab wehrt sich dagegen, in eine neomarxistische Ecke gedrängt zu werden. Marx fällt einem bei der Lektüre tatsächlich zuerst ein. Andere werden an Rousseau denken, vielleicht auch an Volksweisheiten wie die, daß Wohlstand eine Gesellschaft zerrütten kann. Aber darauf kommt es nicht an. Für Thomas Raab ist Gesellschaftstheorie mehr eine Hypothese, auf die er sich bei seinem wirklich aufregenden Versuch stützt, das Zusammenleben der Menschen naturwissenschaftlich, besonders biologisch, zu verstehen.

Spektakel verlangen Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist eine Leistung der individuellen Körper. Wenn die Körper sie nicht mehr leisten können, fällt das aufregendste Spektakel in sich zusammen. Bei der Körperlichkeit geht es also nicht um Sexualität, sondern um Wahrnehmungsfähigkeit. Wie man Musik physikalisch als Schwingungen beobachten und beeinflussen kann, so müßte es möglich sein, Spektakel aus der Sicht der beteiligten Körper zu vermessen. Was sind die körperlichen Indizien für Aufmerksamkeit? Wie lange hält sie sich? Raab versucht, sich den Phänomenen zu nähern, indem er seine Katze Sumatra einem markerschütternden Hundegeheul aussetzt, von einer Compact Disc versteht sich, und ihr Verhalten genau beschreibt. Viel ist bei dem Versuch nicht herausgekommen. Aber Experimente lassen sich verfeinern, Theorien lassen sich verbessern. Freilich gilt dafür dieselbe Grenze wie für Spektakel: Aufmerksamkeit. Auch der Körper des Forschers erschlafft irgendwann, und das beeinflußt die Spektakel-Forschung. Merkwürdigerweise geht Raab auf dieses Phänomen nicht ein. Gleichmütig berichtet er, wie sich seine Katze an das Hundegeheul gewöhnt und wie er die Versuchsreihe aus Langeweile einstellt.

Der Rezensent wollte die Lektüre des Buches nicht einfach einstellen, weil er immer wieder auf witzige Bemerkungen gestoßen ist. Es "ist eine demokratische Errungenschaft", läßt Raab einen Fernsehmenschen sagen, "daß zum ersten Mal in der Naturgeschichte des Menschen ein wohlgeformter Hintern ausreicht, um die Berufsbezeichnung ,Künstler' für sich zu beanspruchen". Aber die psychobiologische Sprache Raabs hat dem Rezensenten die größten Schwierigkeiten bereitet. Gewiß, "Erkundungsverhalten" und "Schmuseverhalten" kann man sich noch vorstellen. Ebenso ist zu verstehen, daß man einzelne Verhaltensabschnitte als Sequenzen bezeichnet und die Sequenzen zu einem Bild ordnet. Aber wie man aus einem solchen Bild Erkenntnisse gewinnen kann, die über eine bloße Reproduktion hinausgehen, das kann man wahrscheinlich nur als geübter Psychologe begreifen. Einem Laien bleibt, Nachprüfungsbereitschaft zu signalisieren und sich an der Meisterschaft zu erfreuen, mit der Raab seine Begriffe wirbeln läßt. In diesem Wirbel fällt kaum auf, daß Raab immer mehr gesellschaftsbezogene Begriffe wie Sozio- und Bioökonomie oder Dissipationskultur aufnimmt, was mit seinem körperbezogenen Ansatz schwer zu vereinbaren ist.

Irgendwann geht dem Wirbel die Luft aus. Raab ist redlich genug, nicht einfach aufzuhören, sondern mit einem Resümee zu schließen. "Eigentümer müssen rechtlich bedingt betriebswirtschaftliche Profite anstreben. Im jetzigen Industriestaat bleibt als letzter Hoffnungsmarkt, auf dem größere Gewinnmargen erzielt werden können, der des Spektakels: Fernsehen, Musik, Kunst, Computerspiele, Veranstaltungen, Telekommunikation." Das erinnert weniger an Psychologie, mehr an Wirtschaft, vor allem an Kulturpessimismus. Das Wachstum mag steigen, der Geschmack sinkt. Wachstum zwingt alle Philosophen, Wissenschaftler und Künstler auf den Markt, und der verwandelt alles in Events. Die Zeit, in der sich Geschmack bilden könnte, gibt es nicht mehr. Alles wird poppig, damit man es sofort sieht.

Die Fußball-Weltmeisterschaft war ein Event. Wenn man versucht, in dieses Buch einzudringen, versteht man sie besser und kann die Frage beantworten, wie lange das WM-Feeling anhalten wird. Es ist schon nicht mehr da. Raab: "Der entwickelte Kapitalismus macht den behavioristischen Traum wahr: Wir brauchen keine Wissenschaft vom Menschen, es reicht die doppelte Buchhaltung."

GERD ROELLECKE.

Thomas Raab: "Nachbrenner". Zur Evolution und Funktion des Spektakels. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 171 S., br., 9,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Unausgegoren wirkt Thomas Raabs Betrachtung des Spektakels auf Rezensent Gerd Roellecke. Er versteht das Buch als Versuch, aus dem Spektakel, etwa der Fußball-Weltmeisterschaft, eine Art Gesellschaftstheorie zu machen. Den Sinn solcher Veranstaltungen sehe der Autor im Verbrauch von Energie, die anderswo, etwa bei grundlegenden Reformen der kapitalistischen Gesellschaft fehle. Derart neomarxistische Gedanken sind für Roellecke freilich nichts Neues. Spannender scheint ihm da schon Raabs Versuch, die skizzierte Gesellschaftstheorie biologisch zu verstehen: Spektakel verlangen Aufmerksamkeit, die wiederum eine Leistung der individuellen Körper ist. Die Idee zu diesem Ansatz findet Roellecke "aufregend", deren Ausführung verläuft zu seinem Bedauern dann aber im Sand. Schwierigkeiten macht Roellecke zudem das psychobiologische Vokabular des Autors. Dabei fällt ihm auf, dass dieser zunehmend gesellschaftsbezogene Begriffe einfließen lässt, die mit seinem körperbezogenen Ansatz wiederum nur schwer zu vereinbaren sind.

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