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Akademischer Unterricht und schriftstellerische Arbeit liefen bei Adorno in der Regel nebeneinander her, aber doch nicht stets. So widmete er von 1964 bis 1966 nicht weniger als drei aufeinander folgende Vorlesungen Gegenständen und Themen, die auch im Zentrum der Negativen Dialektik stehen, an der er damals mit Nachdruck arbeitete. Im Sommersemester 1965 hielt Adorno die Vorlesung Metaphysik. Begriff und Probleme, die der vorliegende Band enthält und die sich an das letzte -Modell- der Negativen Dialektik, die Meditationen zur Metaphysik, anschloß.

Produktbeschreibung
Akademischer Unterricht und schriftstellerische Arbeit liefen bei Adorno in der Regel nebeneinander her, aber doch nicht stets. So widmete er von 1964 bis 1966 nicht weniger als drei aufeinander folgende Vorlesungen Gegenständen und Themen, die auch im Zentrum der Negativen Dialektik stehen, an der er damals mit Nachdruck arbeitete. Im Sommersemester 1965 hielt Adorno die Vorlesung Metaphysik. Begriff und Probleme, die der vorliegende Band enthält und die sich an das letzte -Modell- der Negativen Dialektik, die Meditationen zur Metaphysik, anschloß.
Autorenporträt
Theodor W. Adorno wurde am 11. September 1903 in Frankfurt am Main geboren und starb am 06. August 1969 während eines Ferienaufenthalts in Visp/Wallis an den Folgen eines Herzinfarkts. Von 1921 bis 1923 studierte er in Frankfurt Philosophie, Soziologie, Psychologie und Musikwissenschaft und promovierte 1924 über Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie. Bereits während seiner Schulzeit schloss er Freundschaft mit Siegfried Kracauer und während seines Studiums mit Max Horkheimer und Walter Benjamin. Mit ihnen zählt Adorno zu den wichtigsten Vertretern der »Frankfurter Schule«, die aus dem Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt hervorging. Sämtliche Werke Adornos sind im Suhrkamp Verlag erschienen.

Rolf Tiedemann wurde 1932 in Hamburg geboren. Im Zuge seines Studiums der Philosophie, Germanistik und Soziologie in Hamburg, Göttingen, Berlin und schlussendlich in Frankfurt am Main, war Tiedemann ab 1959 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später als persönlicher Assistent bei Theodor W. Adorno beschäftigt. 1964 promovierte er mit der ersten Dissertation über Walter Benjamin bei Adorno und Max Horkheimer. Gemeinsam mit Hermann Schweppenhäuser übernahm er 1970 die Herausgeberschaft der Gesamtausgaben von Adorno und Walter Benjamin. Von 1985 bis 2002 war er Direktor des Theodor W. Adorno Archivs in Frankfurt, von wo aus er u.a. die Ausgaben der Nachgelassenen Schriften Adornos initiierte. Vielfach rezipiert und in zahlreiche Sprachen übersetzt sind die von Tiedemann edierten Bände des Passagenwerks von Benjamin und der Ästhetischen Theorie sowie des Beethoven von Adorno.
Rolf Tiedemann verstarb am 29. Juli 2018.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.05.1998

Darf auch ruhig mal schiefgehen
Metaphysik, öffne dich: Adorno beschwört in seinen Vorlesungen den Mut der Philosophen

In den Aufsätzen und Büchern, die Adorno veröffentlicht hat, sind Dichte und Offenheit der Gedanken in eins gesetzt. In den Vorlesungen des Autors, die aus dem Nachlaß herausgegeben werden, treten das Offene und das Dichte auseinander. Dadurch entsteht der Eindruck der Lebendigkeit. Jeder neue Satz kann eine für den Autor selber unerwartete Wendung enthalten, die Möglichkeit eines überraschenden Gedankens, der angezeigt, aber nicht immer entwickelt wird. So fällt an den Vorlesungen über Metaphysik, gehalten im Sommersemester 1965 und von Rolf Tiedemann mit großer Sorgfalt ediert, der Nachdruck auf, mit dem Adorno ebenden Begriff des Offenen einführt. Zwar heißt es in den "Meditationen zur Metaphysik", die am Ende der "Negativen Dialektik" stehen und deren Manuskript dem zweiten Teil dieser Vorlesungen zugrunde liegt, Sinn sei "beim Offenen, nicht in sich Verschlossenen", doch hat Adorno dort die Bestimmung von Metaphysik nicht so ausdrücklich und abwandlungsreich an den Begriff des Offenen geknüpft wie im mündlichen Vortrag.

Die Vorlesungen beginnen mit einem Versuch, Metaphysik begrifflich zu bestimmen, und setzen sich im umfangreichen ersten Teil mit der "Metaphysik" des Aristoteles auseinander, um Probleme des überlieferten metaphysischen Denkens beispielhaft zu behandeln. Stringent und präzis führt Adorno seine Hörer in die problematische Mitte des zu bestimmenden Begriffs. Am Anfang hebt er hervor, daß Kritik als unabdingbare Vorbereitung zu einer möglichen Metaphysik an ihre eigene Stelle zu treten droht. Diese eigentümliche "Herausschiebung und Herauszögerung" kann man als Auswirkung verstehen, die von dem Begriff der Metaphysik gezeitigt wird, seinem wesentlichen Uneinssein: "Die Metaphysik ist auf der einen Seite . . . immer rationalistisch als Kritik einer Ansicht von dem Ansichseienden, Wahren und Wesentlichen, sofern es vor der Vernunft nicht sich rechtfertigt; sie ist auf der anderen Seite aber auch immer und ebenso ein Versuch, das, was das Ingenium der Philosophen verblassen und entschwinden fühlt, zu retten."

Adorno erblickt also im Begriff der Metaphysik eine kritische und eine rettende Absicht. Die Rettung folgt nicht auf die Kritik als ein Aufatmen; in der spannungsgeladenen Gleichzeitigkeit von auseinanderstrebenden Absichten öffnet sich die begriffliche Einheit der Metaphysik. Weil Adornos Denken sich in unaufhebbaren Spannungen bewegt, widersetzt es sich den beiden Todfeinden der Philosophie, der Frömmelei der Restauration und der revisionistischen Sorge um Ausgewogenheit. Muß Metaphysik als paradoxe Anstrengung des begrifflichen Denkens betrachtet werden, "das zu erretten, was es zugleich auflöst", dann rückt Adornos eigene Vorstellung von Philosophie in unmittelbare Nähe zum metaphysischen Paradoxon. Geht es doch dem "Nachdenken über Metaphysik", das hier betrieben wird, ebenfalls um Kritik und Rettung, ja hat es doch eine negative Dialektik überhaupt mit einem begrifflichen Hinausgelangen über den Begriff und folglich mit jenem grundsätzlich "Offenen" zu tun, von dem Adorno in der neunten Vorlesung sagt, daß es sich trotz aller berechtigten und notwendigen Kritik, trotz aller kritischen Untersuchung der Wahrheit und Unwahrheit eines Denkens stets wieder auftut: "Genau dieses Denken über sich selbst hinaus, ins Offene, genau das ist Metaphysik."

Das Uneinssein der Metaphysik, die Kritik und Rettung ist, läßt sich so verstehen, daß metaphysisches Denken die "Erfahrungswelt schwer" nimmt und sie nicht einfach einer "übersinnlichen Welt" entgegensetzt. Was Adorno in seiner Darstellung der Aristotelischen Lehre immer wieder unterstreicht, ist die Bedeutung, die diese dem Verhältnis zumißt, das zwischen der reinen Form und dem bloß Stofflichen besteht, zwischen dem rein Begrifflichen, das sich durch einen "höheren Grad an Wahrhaftigkeit" auszeichnen soll, und dem bloß Unbegrifflichen und Unbestimmten. Von Aristoteles möchte sich Adorno jedoch unterscheiden, weil er das Verhältnis zwischen den Extremen der Metaphysik nicht als eines des äußeren Bezugs begreift, sondern als eines der inneren Vermittlung; nicht als ein ungeschichtliches und statisches, sondern als ein selber der Veränderung ausgesetztes. Erst aus dieser Sicht erkennt man, warum das Geschehen, dem Adorno den Namen Auschwitz gibt, nicht als ein historisches abgetan werden kann, das von dem philosophischen Diskurs und seinen metaphysischen Ideen getrennt bleiben muß. Die Frage nach der Metaphysik ist für Adorno die nach der "unendlichen Relevanz des Innerweltlichen und Geschichtlichen für die Transzendenz" und in diesem Sinne die nach einer "metaphysischen Erfahrung".

Dieser "unendlichen Relevanz" kann man nur gerecht werden, wenn man ausgeht von der geschichtlichen Gestalt, welche die Extreme der Metaphysik jeweils annehmen, die Extreme des Allgemeinen und des Besonderen, der Idee und des Seienden, der Form und des Stoffs. In dem Maße, in dem "Katastrophen immer die Kraft" haben, "das Vergangene und Entlegene in sich hineinzureißen", muß man folglich auch in der metaphysischen Idee oder im metaphysischen Begriff dieses Entlegene aufspüren. Getroffen wird die Metaphysik vom dem "Äußersten", das Auschwitz nennt, weil dieser Name für die Zerstörung der "Sinnhaftigkeit" steht, der Sinnhaftigkeit eines einheitlichen Lebenszusammenhangs, die sich dem Tod noch mitteilt und ihn rechtfertigt. Adorno macht gegen die beiden Strategien der Rechtfertigung Front, die jenes "Äußerste" verharmlosen: gegen die beschwichtigende Relativierung, die es auf eine historisch und geographisch begrenzte Erfahrung herabmindert, und gegen die vertröstende Relativierung, die seine Vereinbarkeit mit einem "ganz Anderen" unterstellt.

Das Ausgehen von Extremen, dem sich Adorno ausdrücklich verschreibt, beinhaltet zum einen, daß Rettung nicht Verteidigung sein kann, sondern der Gestus einer Preisgabe, der etwas zufallen mag oder nicht; zum anderen, daß Philosophie es mit der Aufzeichnung von "Tendenzen" zu tun hat, nicht mit der Feststellung von Tatsachen. Der Hinweis auf die Kindheit, in deren Umkreis die "metaphysische Erfahrung" stehen soll, das Glück also, das in der Wahrnehmung des "Inneren der Gegenstände als ein diesen zugleich Entrücktes" liegt, darf nicht mit dem Hinweis auf eine nachträglich verklärte lebensgeschichtliche Tatsache gleichgesetzt werden. Vielmehr gilt es, in ihm gerade die Aufzeichnung einer Tendenz auszumachen. Als Gedanke, der Tendenzen aufzeichnet, ist der philosophische Gedanke ein offener, ein versuchender und experimentierender, wie Adorno in einem von Tiedemann zitierten Passus einer späteren Vorlesung behauptet.

Das Mögliche erweist sich so in Adornos "Nachdenken über die Metaphysik" als eine ausschlaggebende Kategorie, nicht als eine, die der Kategorie der Wirklichkeit untergeordnet bleibt. Nirgends wird das deutlicher als am Ende der Vorlesungen, in jenem Teil, der sich auch sprachlich von der vorangehenden Auseinandersetzung mit Aristoteles abhebt. In dieser wirkt der Vortrag regelmäßiger und der Zusammenhang geschlossener, weniger offen und exponiert. Möglichkeit und Offenheit gehören zueinander, weil es keine "metaphysische Erfahrung" gibt, ja überhaupt keine Erfahrung und kein Denken, für die nicht ihre Fehlbarkeit bestimmend wäre, "die Möglichkeit, daß es gänzlich daneben geht": "Nur das, was auch enttäuscht werden kann, was auch falsch sein kann, (ist) jenes Offene . . ., auf das es ankommt", liest man in der letzten Vorlesung. Was Adorno folglich als das Offene bezeichnet, ist nicht der Gegensatz zum Verschließenden des Irrens, des Mißlingens, der Täuschung und der Enttäuschung, sondern geht gegen das Abschlußhafte des Systems an, auf das sich die überkommene Metaphysik richtet. Dann aber ist das Offene weder wahr noch unwahr, weder richtig noch falsch, weder diesseits noch jenseits; zu jedem Zeitpunkt kann es zum Verschwinden gebracht oder verdeckt werden.

Das Offene gleicht jenem "Niemandsland zwischen den Grenzpfählen von Sein und Nichts", von dem Adorno in der fünften metaphysischen Meditation der "Negativen Dialektik" redet: "Die kleinste Differenz zwischen dem Nichts und dem zur Ruhe Gelangten wäre die Zuflucht der Hoffnung." Es ist vielleicht diese "kleinste Differenz", die in Ingeborg Bachmanns Gedicht "Enigma", dessen Gestus an den von Adornos Vorlesungen erinnert, zwei Verszeilen trennt und aufeinander bezieht: "Nichts mehr wird kommen. / . . . Es wird nichts mehr kommen." ALEXANDER GARCÍA DÜTTMANN

Theodor W. Adorno: "Metaphysik". Begriff und Problem. Nachgelassene Schriften. Abteilung IV: Vorlesungen, Band 14. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 319 S., geb., 68,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.07.2002

Loblied der Entfremdung
Adornos Vorlesungen vereinigen Geschichte und Philosophie
Hannah Arendt war auf Adorno nicht gut zu sprechen. Als Walter Benjamin, zwischen deutschen Henkern und spanischen Bürokraten eingekesselt, aus dem Leben schied, musste sie Adorno das Manuskript „Über den Begriff der Geschichte” geben. So war es Benjamins letzter Wille. Sie sträubte sich. „Ich nehme an, daß die Schweinebande das Manuskript einfach unterschlagen wird”, schrieb sie ihrem Mann. „Die werden sich rächen, wie sich Benji im Grunde durch Schreiben dieser Sache gerächt hat.”
Ob Arendts Ressentiments berechtigt waren, müssen die Biographen entscheiden. Adorno jedenfalls hat nichts unterschlagen. Benjamins wenige Seiten sind der Schlüsseltext der Geschichtsphilosophie im zwanzigsten Jahrhundert. Seiner Wirkung konnte auch Adorno sich nicht entziehen. Wenn Rache eine Rolle spielte, dann in dialektischer Gestalt. Benjamin und Adorno bedurften nirgends so der gegenseitigen Vermittlung wie hier.
Frankfurt, Wintersemester 1964/65. Mit der Vorlesung „Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit” erprobte Adorno Motive, die dann in der „Negativen Dialektik” entwickelt wurden. Trotzdem geht von diesem Text eine Sogwirkung aus, die ihn zum Werk eigenen Ranges erhebt. Durch die Transkriptionen der Tonbandmitschnitte glaubt der Leser bis in die Gehirnwindungen Adornos blicken zu können. Die Gedanken bewegen sich vor- und rückwärts und manchmal auch im Kreise.
Der geschichtsphilosophische Weltgeist ist lange aus Frankfurt am Main vertrieben. Obwohl Geschichte nur als Geschichtsphilosophie möglich ist, und Philosophie nur als Geschichte: das ist Adornos Kernaussage. Bei Adorno gibt es den „Fortschritt”, den Weltgeist, aber er ist schwarz gewandet: als Negativität, permanente Katastrophe, „Höllenmaschine”. Naturbeherrschung und instrumentelle Vernunft sind seine Bedingungen und Erzeugnisse zugleich.
Wir Zwangsneurotiker
Für Adorno ist alle Geschichte Mimesis. Der Fehler steckt im Anfang, in der „Urgeschichte der Individuation”. Das Nicht-Ich ist das Modell, dem sich das Ich nachbildet. Um zu überleben, wiederholt der Mensch den allgemeinen Druck. Das Über-Ich, das „Gewissen” ist nichts als ein Agent der Gesellschaft, solange es seine Verstrickung in den allgemeinen „Verblendungszusammenhang” nicht durchschaut – anders als Kant, der „rationalistische Flügel der friderizianischen Armee”, sich das dachte. Geschichtsphilosophie ist somit eigentlich Metapsychologie. Wir sind alle „Zwangsneurotiker”, und noch unsere Idiosynkrasien und Eigenarten sind der negative Abdruck des Allgemeinen. Trotzdem gehen die Kategorien nie völlig auf. Dasselbe Individuum, das sich mit den Herrschaftsverhältnissen identifiziert und diese reproduziert, kann punktuell Widerstand leisten.
Mit Walter Benjamin setzt Adorno an, den Menschen aus der immer gleichen „Tauschstruktur”, aus den Klauen von Mythos und Mimesis zu retten. Benjamins Potentiale des Augenblicks, diese Konstellation, in der die Dialektik der Geschichte zum Stillstand kommt und sich eine revolutionäre Chance zur Befreiung bietet, werden von Adorno jedoch leicht verschoben. Die einmaligen Möglichkeiten werden aufgefädelt zur Kette verpasster Chancen.
Die praktischen Konsequenzen daraus klagte schon Marx ein: Philosophie muss in Geschichte und Geschichtsschreibung in Philosophie übergehen. So begibt sich Adorno selbst auf eine Gratwanderung zwischen Konkretion und Universalgeschichte, zwischen mikrologischem Röntgenblick und Sinn fürs große Ganze. Der Philosophie rät er, ihre immer noch theologisch verwurzelten Kategorien zu säkularisieren und sich auf ihre hermeneutische Qualität zu besinnen, auf die Deutung konkreter Bruchstücke und das Einsammeln der Trümmer des Vergänglichen. Der Geschichte, samt der heutigen Kultur- und Mikrogeschichte, hält er vor, im Detail die Herrschaftsverhältnisse zu verdrängen und in positivistischer Blindheit zu übersehen, dass das Partikulare und Individuelle am allgemeinen Unheil mitwirkt. Um Geschichte zu erklären, wird alles aufgeboten: die komplexe Verschachtelung der Kategorien – „also: sich durchsetzender Gesamtzug, Verwiesenheit des Gesamtzugs auf die spezifische Situation und wiederum Vermitteltheit der spezifischen Situation durch den Gesamtzug” – ebenso wie die „konkret geschichtliche Analyse, die über diese Kategorien hinausführt”.
Adornos zweite zentrale Kategorie heißt Antagonismus. Je länger er redet, desto weniger klingt der Begriff nach Marx. Adorno war eigentlich ein Krieger. Der hegelianische Kampf um Anerkennung tobt bei ihm in den Köpfen, über die hinweg und durch die Geschichte gemacht wird. Die einzelnen Köpfe schöpfen im „mikrokosmischen Abbild” immer nur aus dem ideologischen Vorrat der Gesellschaft – anders gesagt: aus den Dispositiven des Wissens, die aus Macht- und Wirtschaftsstrukturen hervorgehen. An Adornos Anthropologie des Kampfes, Wissenschaftskritik oder Auflösung „unfruchtbarer Dichotomien” könnten Foucault oder Derrida problemlos angeknüpft haben.
Wenn Adorno auf Heidegger zu sprechen kommt, tritt neben die messerscharfe Kritik eine Blindheit, die die eigene Nähe zu manchen Elementen des „Jargon der Eigentlichkeit” nicht wahrhaben will. Ludwig Klages, C. G. Jung oder Roger Caillois stehen für solche Einflüsse, die Adorno dialektisch umformt, was Heidegger natürlich fehlt. Manchmal jedoch scheint sich dieser Unterschied zur Stilfrage zu reduzieren: „Gerede” und „Kulturindustrie”, „Zuhandenheit” und „instrumentelle Vernunft”, die Bejahung der Hermeneutik und das Klagelied auf das Subjekt, das sich selbst nicht gehört, uneigentlich ist.
Adorno wäre jedoch nicht Adorno, hätte er nicht auch hier eine dialektische Überraschung zu bieten. Er hebt an zum Loblied der Entfremdung. Der Riss zwischen Gesellschaft und Individuum, die kaum erträgliche Kälte der Einsamkeit, die im Gemeinschaftsrausch vergessen werden soll, sind eine notwendige Voraussetzung der Emanzipation des Individuums. Ohne das Böse nichts Gutes – zwischen dem dialektischen und dem gnostischen Denken klafft manchmal nur ein schmaler, aber entscheidender Spalt. Das Unrecht, das der historische Antagonismus verursacht hat, mehrt die Möglichkeiten, die Knechtschaft des Mythos abzuschütteln.
„Fortschritt heißt demnach: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Fortschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit inne wird und der Herrschaft Einhalt gebietet, die sie über die Natur ausübt und durch welche sich die der Natur fortsetzt. Insofern ließe sich sagen, der Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet”. Gelegentlich würde es dem Kulturbürger Adorno als Fortschritt genügen, wenn sich ein Café seiner Gemütlichkeit nicht mehr schämen und die Neonbeleuchtung wieder abschaffen würde.
TIM B. MÜLLER
THEODOR W. ADORNO: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/65). Hrsg. von Rolf Tiedemann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 491 Seiten, 32,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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