»Ich habe zunächst über den Begriff der Wissenschaft und das Verhältnis von Wissenschaft und Erkenntnis gesprochen, und werde dann Kritik der reinen Vernunft machen.« So Theodor W. Adornos prägnante, in einem Brief an Max Horkheimer formulierte Zusammenfassung seiner im Wintersemester 1957/58 gehaltenen Vorlesung über Erkenntnistheorie.
Es ist die einzige Vorlesung, die Adorno diesem Zentralthema der Philosophie gewidmet hat, nachdem im Jahr zuvor sein Husserl-Buch Zur Metakritik der Erkenntnistheorie erschienen war. Dort hatte er das »mikrologische Verfahren« der immanenten Kritik entwickelt, hier bringt er es exemplarisch zur Anwendung. Immer wieder geht es um das Aufzeigen der »Wahrheit in ihrer Unwahrheit«, wie Adorno die Kritik des Idealismus nannte. Entsprechend führt die Vorlesung nicht nur in alle Grundfragen der Erkenntnistheorie ein, sie kann auch als große Geste gelesen werden, die auf Adornos monumentales »Antisystem« vorausweist und es zu entschlüsseln hilft: die Negative Dialektik.
Es ist die einzige Vorlesung, die Adorno diesem Zentralthema der Philosophie gewidmet hat, nachdem im Jahr zuvor sein Husserl-Buch Zur Metakritik der Erkenntnistheorie erschienen war. Dort hatte er das »mikrologische Verfahren« der immanenten Kritik entwickelt, hier bringt er es exemplarisch zur Anwendung. Immer wieder geht es um das Aufzeigen der »Wahrheit in ihrer Unwahrheit«, wie Adorno die Kritik des Idealismus nannte. Entsprechend führt die Vorlesung nicht nur in alle Grundfragen der Erkenntnistheorie ein, sie kann auch als große Geste gelesen werden, die auf Adornos monumentales »Antisystem« vorausweist und es zu entschlüsseln hilft: die Negative Dialektik.
»Die Lektüre bedarf einer starken Konzentration und nachvollziehender Reflexion. ... Wer sich durchbeißt, wird mit einem profunden Verständnis der Erkenntnistheorie und der Metaphysik sowie ihrem Verhältnis zur Philosophie und den Wissenschaften belohnt.« Ottmar Mareis Widerspruch - Münchner Zeitschrift für Philosophie
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2022Gesellschaftskritik auf gut Frankfurterisch
Mit Hegel gegen Hegel und wieder zurück: Theodor W. Adornos Vorlesungen zu Fragen der Dialektik
Für die Rezeption Adornos hat sich die Publikation der "Nachgelassenen Schriften", vor allem der Vorlesungen, die er 1958 bis 1969 an der Frankfurter Universität gehalten hat, als echter Glücksfall erwiesen. Die ausgeführten Hauptwerke, etwa die "Negative Dialektik", gelten als schwer zugänglich, was vor allem an ihrer sprachlichen Gestalt liegt, an der Adorno mit der Akribie des gelernten Komponisten oft jahrelang gefeilt hat. Die Texte sind hermetisch und dabei ihrer Hermetik selbst kaum trauend, wenn der Leser wie an einem Gängelband von Erklärungen und Anweisungen geleitet wird; kein noch so ephemerer Sinneffekt soll hier dem Zufall überlassen bleiben.
Die Vorlesungen bieten ein anderes Bild. Hier gilt es, einen Adorno zu entdecken, der zwar druckreif spricht - der vorbildliche Anmerkungsapparat der edierten Vorlesungen bietet zum transkribierten Text auch die Stichworte, aus denen Adorno im Hörsaal extemporiert hat -, der sich aber doch umso freier dem Rhythmus der Gedanken und den Notwendigkeiten des Lehrbetriebs überlässt. Nicht nur "eine Viertelstunde vor Schluss", wie es einmal heißt, sondern immer wieder erlaubt es sich Adorno hier, Dinge "weniger vorsichtig" zu formulieren, als er es in seinen Texten hätte durchgehen lassen. Dem Leser bietet das Einblicke in den Verfertigungsprozess der Gedanken und öffnet Möglichkeiten des Einspruchs. Bisweilen geht es sogar volkstümlich zu, wenn Adorno etwa Gesellschaftskritik auf "gut frankfurterisch" vorträgt und die kapitalistische Totalität nicht nur als "das System", sondern als "denen ihr System" angreift.
Mit dem vorliegenden Band wird die Publikation jener Vorlesungen abgeschlossen, die zur "Negativen Dialektik" hinführen. Wenn es im Wintersemester 1963/64 um "Fragen der Dialektik" geht, dann sind damit tatsächlich offene Fragen gemeint: die "sachlich fälligen Fragen der Dialektik heute". Die Aktualitätsbehauptung bezieht sich auf den Stand des Philosophierens wie auf die Weltlage; beides kommt in der Vorlesung zur Sprache.
In jovialem Parlando nähert sich Adorno auf der einen Seite den begrifflichen Umrissen einer neuen, offenen Dialektik ohne Synthesezwang. Er rezitiert Hegel und geht hart mit dem "Identitätsdenker" ins Gericht, er nimmt seinen Helden dann aber auch wieder gegen die eigene Kritik in Schutz; die "negative Dialektik" wird, so viel wird deutlich, mit Hegel nicht so schnell fertig werden. Auf der anderen Seite sucht Adorno eine genuin philosophische Annäherung an den zweiten großen Dialektiker, an Marx. Präpariert werden soll eine Version der Marx'schen Theorie, die nicht mehr mit dem verwechselt werden kann, was zeitgenössisch im "Ostbereich" als Herrschaftsideologie herhalten musste. Schon in der ersten Vorlesung findet sich ein überraschend offenes Bekenntnis zu Georg Lukács, dessen Begriff der Verdinglichung als unerlässlicher Schlüssel zu jeder zeitgenössischen Dialektik ausgezeichnet wird. Der späte Lukács steht dann aber auch für die Regression des Denkens im realsozialistischen "Diamat".
In ihren beiden Stoßrichtungen läuft die Vorlesung auf eine kleine Enttäuschung hinaus, und das hängt wiederum mit der Form der Vorlesung selbst zusammen. Denn dort, wo Adorno die Bestimmungen der kommenden Dialektik mit einer "Ableitung des dialektischen Widerspruchs" abschließen möchte - einer Ableitung, die sowohl die soziale Sachhaltigkeit des Widerspruchs erweisen wie dessen panlogistische Verabsolutierung bei Hegel zurückweisen will -, da bricht er den freien Vortrag ab und "verliest" ein vorgefertigtes Papier: zu diffizil seien die philosophischen Sachverhalte, um über sie "improvisieren" zu dürfen. Der verlesene Text aber verfällt dann unweigerlich dem, was Jean Améry schon 1967 im "Merkur" als "Jargon der Dialektik" analysiert hat. Die gespreizte Diktion macht sich im Bruch mit dem unprätentiösen mündlichen Vortrag hier umso unangenehmer bemerkbar; schön und klar dann wieder die freie Zusammenfassung, als der Semesterplan zu drängen beginnt.
Die zweite Enttäuschung liegt darin, dass drei der Sitzungen, in denen Adorno Marx' Kritik der Warenform ausdeutet, in der Publikation einfach fehlen. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass das Tonbandgerät genau dort gestreikt hat, wo erklärt wird, warum das System des Tauschwerts eine Orientierung an Gebrauchswerten objektiv unmöglich mache. Über diesen Zusammenhang hätte man gern mehr erfahren.
Schließlich können wir im Gang der Vorlesung auch einen Übergang in actu erleben, der im Hiatus zwischen den Hauptwerken ansonsten verborgen bleibt. Denn in der Annäherung an die "negative Dialektik" konturiert Adorno implizit auch sein letztes, unvollendetes Hauptwerk, die "Ästhetische Theorie". Wenn er sich in der Vorlesung von der Philosophie als Disziplin lossagt und stattdessen nun "Theorie" treiben will, dann hat diese terminologische Verschiebung weitreichende Konsequenzen. Zum einen gravitiert Theorie aus sich heraus zum Ästhetischen: nicht nur als Gegenstand, sondern vor allem in der gesteigerten Aufmerksamkeit für die immanente Verfahrens- und Darstellungsweise des Denkens selbst. Ein Höhepunkt der Vorlesung liegt denn auch in Adornos Ehrenrettung der Rhetorik als Medium von Wahrheit - und das gerade auch im Blick auf Hegels erratische Prosa.
Zum andern zeigt Adorno, dass Theorie immer auf Praxis verwiesen bleibt: Sie lebt aus ihrer "Intention", ihrer "Tendenz" auf Veränderung. Schließlich bestimmt Adorno dialektische Theorie insgesamt als Ethos im vollen Sinn: als "Gestus" oder "denkerische Verhaltensweise". Einer der häufigsten Begriffe in der Vorlesung ist denn auch "Versuch". Die negative Dialektik bleibt gerade im mündlichen Vortrag auf eine essayhafte Darstellungsweise bezogen - und kann darin dann immer auch scheitern. Wer das im Nachvollzug der vorzüglich edierten Vorlesung erfahren hat, der mag mit frischer Aufmerksamkeit dann vielleicht irgendwann auch wieder zu den Hauptwerken greifen. PATRICK EIDEN-OFFE
Theodor W. Adorno: "Nachgelassene
Schriften". Band 11: Fragen der Dialektik (1963/64).
Hrsg. von Ch. Ziermann. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021. 515 S., geb., 58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Hegel gegen Hegel und wieder zurück: Theodor W. Adornos Vorlesungen zu Fragen der Dialektik
Für die Rezeption Adornos hat sich die Publikation der "Nachgelassenen Schriften", vor allem der Vorlesungen, die er 1958 bis 1969 an der Frankfurter Universität gehalten hat, als echter Glücksfall erwiesen. Die ausgeführten Hauptwerke, etwa die "Negative Dialektik", gelten als schwer zugänglich, was vor allem an ihrer sprachlichen Gestalt liegt, an der Adorno mit der Akribie des gelernten Komponisten oft jahrelang gefeilt hat. Die Texte sind hermetisch und dabei ihrer Hermetik selbst kaum trauend, wenn der Leser wie an einem Gängelband von Erklärungen und Anweisungen geleitet wird; kein noch so ephemerer Sinneffekt soll hier dem Zufall überlassen bleiben.
Die Vorlesungen bieten ein anderes Bild. Hier gilt es, einen Adorno zu entdecken, der zwar druckreif spricht - der vorbildliche Anmerkungsapparat der edierten Vorlesungen bietet zum transkribierten Text auch die Stichworte, aus denen Adorno im Hörsaal extemporiert hat -, der sich aber doch umso freier dem Rhythmus der Gedanken und den Notwendigkeiten des Lehrbetriebs überlässt. Nicht nur "eine Viertelstunde vor Schluss", wie es einmal heißt, sondern immer wieder erlaubt es sich Adorno hier, Dinge "weniger vorsichtig" zu formulieren, als er es in seinen Texten hätte durchgehen lassen. Dem Leser bietet das Einblicke in den Verfertigungsprozess der Gedanken und öffnet Möglichkeiten des Einspruchs. Bisweilen geht es sogar volkstümlich zu, wenn Adorno etwa Gesellschaftskritik auf "gut frankfurterisch" vorträgt und die kapitalistische Totalität nicht nur als "das System", sondern als "denen ihr System" angreift.
Mit dem vorliegenden Band wird die Publikation jener Vorlesungen abgeschlossen, die zur "Negativen Dialektik" hinführen. Wenn es im Wintersemester 1963/64 um "Fragen der Dialektik" geht, dann sind damit tatsächlich offene Fragen gemeint: die "sachlich fälligen Fragen der Dialektik heute". Die Aktualitätsbehauptung bezieht sich auf den Stand des Philosophierens wie auf die Weltlage; beides kommt in der Vorlesung zur Sprache.
In jovialem Parlando nähert sich Adorno auf der einen Seite den begrifflichen Umrissen einer neuen, offenen Dialektik ohne Synthesezwang. Er rezitiert Hegel und geht hart mit dem "Identitätsdenker" ins Gericht, er nimmt seinen Helden dann aber auch wieder gegen die eigene Kritik in Schutz; die "negative Dialektik" wird, so viel wird deutlich, mit Hegel nicht so schnell fertig werden. Auf der anderen Seite sucht Adorno eine genuin philosophische Annäherung an den zweiten großen Dialektiker, an Marx. Präpariert werden soll eine Version der Marx'schen Theorie, die nicht mehr mit dem verwechselt werden kann, was zeitgenössisch im "Ostbereich" als Herrschaftsideologie herhalten musste. Schon in der ersten Vorlesung findet sich ein überraschend offenes Bekenntnis zu Georg Lukács, dessen Begriff der Verdinglichung als unerlässlicher Schlüssel zu jeder zeitgenössischen Dialektik ausgezeichnet wird. Der späte Lukács steht dann aber auch für die Regression des Denkens im realsozialistischen "Diamat".
In ihren beiden Stoßrichtungen läuft die Vorlesung auf eine kleine Enttäuschung hinaus, und das hängt wiederum mit der Form der Vorlesung selbst zusammen. Denn dort, wo Adorno die Bestimmungen der kommenden Dialektik mit einer "Ableitung des dialektischen Widerspruchs" abschließen möchte - einer Ableitung, die sowohl die soziale Sachhaltigkeit des Widerspruchs erweisen wie dessen panlogistische Verabsolutierung bei Hegel zurückweisen will -, da bricht er den freien Vortrag ab und "verliest" ein vorgefertigtes Papier: zu diffizil seien die philosophischen Sachverhalte, um über sie "improvisieren" zu dürfen. Der verlesene Text aber verfällt dann unweigerlich dem, was Jean Améry schon 1967 im "Merkur" als "Jargon der Dialektik" analysiert hat. Die gespreizte Diktion macht sich im Bruch mit dem unprätentiösen mündlichen Vortrag hier umso unangenehmer bemerkbar; schön und klar dann wieder die freie Zusammenfassung, als der Semesterplan zu drängen beginnt.
Die zweite Enttäuschung liegt darin, dass drei der Sitzungen, in denen Adorno Marx' Kritik der Warenform ausdeutet, in der Publikation einfach fehlen. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass das Tonbandgerät genau dort gestreikt hat, wo erklärt wird, warum das System des Tauschwerts eine Orientierung an Gebrauchswerten objektiv unmöglich mache. Über diesen Zusammenhang hätte man gern mehr erfahren.
Schließlich können wir im Gang der Vorlesung auch einen Übergang in actu erleben, der im Hiatus zwischen den Hauptwerken ansonsten verborgen bleibt. Denn in der Annäherung an die "negative Dialektik" konturiert Adorno implizit auch sein letztes, unvollendetes Hauptwerk, die "Ästhetische Theorie". Wenn er sich in der Vorlesung von der Philosophie als Disziplin lossagt und stattdessen nun "Theorie" treiben will, dann hat diese terminologische Verschiebung weitreichende Konsequenzen. Zum einen gravitiert Theorie aus sich heraus zum Ästhetischen: nicht nur als Gegenstand, sondern vor allem in der gesteigerten Aufmerksamkeit für die immanente Verfahrens- und Darstellungsweise des Denkens selbst. Ein Höhepunkt der Vorlesung liegt denn auch in Adornos Ehrenrettung der Rhetorik als Medium von Wahrheit - und das gerade auch im Blick auf Hegels erratische Prosa.
Zum andern zeigt Adorno, dass Theorie immer auf Praxis verwiesen bleibt: Sie lebt aus ihrer "Intention", ihrer "Tendenz" auf Veränderung. Schließlich bestimmt Adorno dialektische Theorie insgesamt als Ethos im vollen Sinn: als "Gestus" oder "denkerische Verhaltensweise". Einer der häufigsten Begriffe in der Vorlesung ist denn auch "Versuch". Die negative Dialektik bleibt gerade im mündlichen Vortrag auf eine essayhafte Darstellungsweise bezogen - und kann darin dann immer auch scheitern. Wer das im Nachvollzug der vorzüglich edierten Vorlesung erfahren hat, der mag mit frischer Aufmerksamkeit dann vielleicht irgendwann auch wieder zu den Hauptwerken greifen. PATRICK EIDEN-OFFE
Theodor W. Adorno: "Nachgelassene
Schriften". Band 11: Fragen der Dialektik (1963/64).
Hrsg. von Ch. Ziermann. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021. 515 S., geb., 58,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Stefan Müller-Doohm kennt Adornos Schriften en détail. Dennoch stürzt er sich mit Freude auf diesen Band mit Vorlesungen aus dem Wintersemester 1963/64, in denen Adorno seine Zuhörerschaft bei der Entwicklung seiner Gedanken teilhaben lässt. Als Schriftsteller ging es Adorno um Präzision und Finesse, als Vortragendem geht es ihm eher um Verständlichkeit, stellt Müller-Doohm fest, der hier noch einmal Fixpunkte in Adornos Denken aufgegriffen sieht, die immanente Kritik an Hegel und Marx oder die Konzeption von Dialektik. Für Müller-Doohm ein hilfreich geführter Gang durch "die Eiswüste der Abstraktion".
© Perlentaucher Medien GmbH
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