Die westliche Demokratie ist heute jeder kritischen Diskussion entzogen. Sie scheint das politische Ziel der Geschichte zu sein. Ihre Legitimität in Zweifel zu ziehen, ist mit einem Denkverbot belegt. Weshalb aber führen die westlichen Demokrarien Angriffskriege, sei es einst in Vietnam oder in Jugoslawien? Warum können sich die Wähler in diesen Demokratien meist nur zwischen zwei politischen Parteien, zwei Lagern, zwei Politik-Optionen entscheiden? Wieso werden unverhohlene Verächter der Humanität ebenso toleriert wie ihre Protagonisten? Herbert Marcuses Antwort ist ebenso einfach wie - zumindest heutzutage - unerhört: weil die westliche, bürgerliche Demokratie formal ist und nicht an materiale humanitäre Prinzipien gebunden. Diese Grundthese erlaubt es Marcuse, das Schicksal der bürgerlichen Demokratie zu thematisieren und nicht schon vor der Untersuchung zu deren Apologeten zu verkommen. Marcuses Haltung zur bürgerlichen Demokratie ist, bei aller Schärfe der Kritik, sehr differenziert. Da Regierungsformen, auch wenn sie zu bestimmten geschichtlichen Zeiten triumphieren, sich immerfort wandeln und endlich sind, gilt es, eine historisch bestimmte Einstellung zu gewinnen. er empfiehlt, die formale, bürgerliche Demokratie zu verteidigen, da sie die größte Freiheit zur Durchsetzung materialer Demokratie gewährt. Ob in seiner Kritik des Toleranzgebots oder der sadomasochistischen 'Instinktgrundlage' bürgerlicher Demokratie, ob bei seinem Blick auf die junge westdeutsche Demokratie kurz nach dem 2. Weltkrieg oder auf die Entwicklung demokratischer Werte in der Studenten- und Menschenrechtsbewegung - immer führt Marcuse vor, wie zwischen den Errungenschaften und den humanitären Defiziten bürgerlicher Demokratie unterschieden werden muß. Ein Thema, das heute wieder von höchster Aktualität ist.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
In einer Kurzrezension weist der autor mit dem Kürzel "lx." darauf hin, dass sich hier erstmals einige Vorträge dieses "demokratieskeptischen" Philosophen finden, der für die 68er-Bewegung so wichtig war. Die Texte seien aus Typoskripten erstellt, die Ausgabe auf sechs Bände angelegt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.1999Ein Marcuse ist nicht genug
Schafft ein, zwei, viele Vietnams, so lautet ein bekannter Slogan der Studentenbewegung der sechziger Jahre. Daraus ist zum Glück nichts geworden. Einer ihrer Mentoren aber, Herbert Marcuse, scheint die Parole auf sich selbst bezogen und sich darangemacht zu haben, ein, zwei, viele Marcuses zu schaffen. Und dieses Unternehmen war erfolgreich. Der erste Band, seine nachgelassenen Schriften, der sechs Texte von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren vereint, zeigt eine solche Fülle von Marcuses, dass man Mühe hat, sie alle unter einen Hut zu bekommen (Herbert Marcuse: "Nachgelassene Schriften". Band 1: Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Peter-Erwin Jansen. Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt. Dietrich zu Klampen Verlag, Lüneburg 1999. 176 S., geb., 38,- DM). Da ist ein Jefferson-Marcuse, der mit beredten Worten beklagt, was aus life, liberty, and the pursuit of happiness in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft geworden ist. Ein William-Morris-Marcuse, der von einer Vervollkommnung der verschandelten Objektwelt nach den Maßgaben der Schönheit träumt. Ein André-Breton-Marcuse, der die kulturrevolutionäre Entsublimierung auf die Tagesordnung setzt. Und ein Malraux-Marcuse, der um die Bestände seines imaginären Museums fürchtet. Ferner treten auf: ein Erbe Husserls und Heideggers, der den wissenschaftlich-technischen "Entwurf" politisch zu deuten versucht. Ein Berater des State Department, der die Chancen für antidemokratische Volksbewegungen im Nachkriegsdeutschland auslotet. Ein erklärter Feind derselben Einrichtung, der die Vereinigten Staaten auf dem geraden Weg in den Faschismus sieht. Ein Prediger des erotischen und des moralischen Fundamentalismus. Ein Platon redivivus, der die Menschheit in die harte Zucht der Philosophen-Könige nehmen möchte. Ein Trittbrettfahrer der Roll-over-Beethoven-Bewegung. Ein idealistischer Ästhetiker Schillerscher Provenienz . . . Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen? Mit psychologischen Kategorien wird man dieser wundersamen Vervielfältigung nicht gerecht. Weiter kommt man, wenn man die genannten Figuren als Masken deutet, in die ein Ritualsubjekt schlüpft. Aus der Religionsethnologie kennt man vergleichbare Vorgänge: Bei den Irokesen beispielsweise gibt es den Bund der "False Faces", dessen Mitglieder in zahlreichen, nach Traum-Vorbildern und Modellen mythischer Geistwesen hergestellten Masken auftreten und allerlei Rituale durchführen. Sobald sie die Masken anziehen, gleichen sie sich dem von ihr dargestellten Geistwesen an, verkörpern es und gehen auf diese Weise eine temporäre Beziehung zu ihm ein, ohne dauerhaft mit ihm zu verschmelzen. Eine Verbindung zu den "False Faces" ist im Fall Marcuses nicht sehr wahrscheinlich. Dagegen spricht die große Entfernung, die zwischen den Jagdgründen der Irokesen und der kalifornischen Küste liegt. Dagegen spricht auch, dass Marcuse seinen Geist schon aus der Alten Welt mitgebracht hat, genauer: aus Berlin-Reinickendorf. Um 1918 muss er ihm dort zum erstenmal erschienen sein und hat ihn von da an nicht mehr losgelassen: der Geist der Revolution. Ihm folgte er in seiner Zeit als Linksheideggerianer, anschließend als Linkshegelianer im Institut für Sozialforschung und endlich als eine Art intellektueller Hobo, der auf jeden Zug aufsprang, sofern er nur nach links fuhr. Und die Vielheit der Masken? Sie ist vielleicht damit zu erklären, dass sich der Geist der Revolution vor sehr unterschiedliche Aufgaben gestellt sieht. Die Jefferson-Maske eignet sich gut zur Stimulierung des moralischen Fundamentalismus und anschließende Trennungsriten, die eine Herauslösung von Novizen aus der Alltagsordnung bewirken. Die Breton-Maske ist hilfreich bei Schwellen- und Umwandlungsriten. Die Platon-Maske bewährt sich bei Angliederungsriten, die die Initianden des revolutionären Geistes in die Gemeinschaft der "neuen Menschen" inkorporieren. Für jede Aufgabe eine spezielle Maske: Das erinnert nun doch wieder sehr an die False Faces. Die Kritische Theorie, hat kürzlich ein Philosoph behauptet, sei tot. Wenn er damit den Geist der Revolution gemeint haben sollte, so hat er sich geirrt. Geister sterben nie. Sie mögen zwar mit der Zeit ihre Kraft einbüßen und, wie in diesem Fall, zur political correctness abmagern, doch wirklich totzukriegen sind sie nicht. Und so werden wohl auch Marcuses nachgelassene Schriften, von denen noch fünf weitere Bände ins Haus stehen, ihre Leserinnen und Leser finden, auch wenn es immer die gleichen Rituale sind, die in ihnen zelebriert werden.
STEFAN BREUER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schafft ein, zwei, viele Vietnams, so lautet ein bekannter Slogan der Studentenbewegung der sechziger Jahre. Daraus ist zum Glück nichts geworden. Einer ihrer Mentoren aber, Herbert Marcuse, scheint die Parole auf sich selbst bezogen und sich darangemacht zu haben, ein, zwei, viele Marcuses zu schaffen. Und dieses Unternehmen war erfolgreich. Der erste Band, seine nachgelassenen Schriften, der sechs Texte von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren vereint, zeigt eine solche Fülle von Marcuses, dass man Mühe hat, sie alle unter einen Hut zu bekommen (Herbert Marcuse: "Nachgelassene Schriften". Band 1: Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Peter-Erwin Jansen. Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt. Dietrich zu Klampen Verlag, Lüneburg 1999. 176 S., geb., 38,- DM). Da ist ein Jefferson-Marcuse, der mit beredten Worten beklagt, was aus life, liberty, and the pursuit of happiness in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft geworden ist. Ein William-Morris-Marcuse, der von einer Vervollkommnung der verschandelten Objektwelt nach den Maßgaben der Schönheit träumt. Ein André-Breton-Marcuse, der die kulturrevolutionäre Entsublimierung auf die Tagesordnung setzt. Und ein Malraux-Marcuse, der um die Bestände seines imaginären Museums fürchtet. Ferner treten auf: ein Erbe Husserls und Heideggers, der den wissenschaftlich-technischen "Entwurf" politisch zu deuten versucht. Ein Berater des State Department, der die Chancen für antidemokratische Volksbewegungen im Nachkriegsdeutschland auslotet. Ein erklärter Feind derselben Einrichtung, der die Vereinigten Staaten auf dem geraden Weg in den Faschismus sieht. Ein Prediger des erotischen und des moralischen Fundamentalismus. Ein Platon redivivus, der die Menschheit in die harte Zucht der Philosophen-Könige nehmen möchte. Ein Trittbrettfahrer der Roll-over-Beethoven-Bewegung. Ein idealistischer Ästhetiker Schillerscher Provenienz . . . Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen? Mit psychologischen Kategorien wird man dieser wundersamen Vervielfältigung nicht gerecht. Weiter kommt man, wenn man die genannten Figuren als Masken deutet, in die ein Ritualsubjekt schlüpft. Aus der Religionsethnologie kennt man vergleichbare Vorgänge: Bei den Irokesen beispielsweise gibt es den Bund der "False Faces", dessen Mitglieder in zahlreichen, nach Traum-Vorbildern und Modellen mythischer Geistwesen hergestellten Masken auftreten und allerlei Rituale durchführen. Sobald sie die Masken anziehen, gleichen sie sich dem von ihr dargestellten Geistwesen an, verkörpern es und gehen auf diese Weise eine temporäre Beziehung zu ihm ein, ohne dauerhaft mit ihm zu verschmelzen. Eine Verbindung zu den "False Faces" ist im Fall Marcuses nicht sehr wahrscheinlich. Dagegen spricht die große Entfernung, die zwischen den Jagdgründen der Irokesen und der kalifornischen Küste liegt. Dagegen spricht auch, dass Marcuse seinen Geist schon aus der Alten Welt mitgebracht hat, genauer: aus Berlin-Reinickendorf. Um 1918 muss er ihm dort zum erstenmal erschienen sein und hat ihn von da an nicht mehr losgelassen: der Geist der Revolution. Ihm folgte er in seiner Zeit als Linksheideggerianer, anschließend als Linkshegelianer im Institut für Sozialforschung und endlich als eine Art intellektueller Hobo, der auf jeden Zug aufsprang, sofern er nur nach links fuhr. Und die Vielheit der Masken? Sie ist vielleicht damit zu erklären, dass sich der Geist der Revolution vor sehr unterschiedliche Aufgaben gestellt sieht. Die Jefferson-Maske eignet sich gut zur Stimulierung des moralischen Fundamentalismus und anschließende Trennungsriten, die eine Herauslösung von Novizen aus der Alltagsordnung bewirken. Die Breton-Maske ist hilfreich bei Schwellen- und Umwandlungsriten. Die Platon-Maske bewährt sich bei Angliederungsriten, die die Initianden des revolutionären Geistes in die Gemeinschaft der "neuen Menschen" inkorporieren. Für jede Aufgabe eine spezielle Maske: Das erinnert nun doch wieder sehr an die False Faces. Die Kritische Theorie, hat kürzlich ein Philosoph behauptet, sei tot. Wenn er damit den Geist der Revolution gemeint haben sollte, so hat er sich geirrt. Geister sterben nie. Sie mögen zwar mit der Zeit ihre Kraft einbüßen und, wie in diesem Fall, zur political correctness abmagern, doch wirklich totzukriegen sind sie nicht. Und so werden wohl auch Marcuses nachgelassene Schriften, von denen noch fünf weitere Bände ins Haus stehen, ihre Leserinnen und Leser finden, auch wenn es immer die gleichen Rituale sind, die in ihnen zelebriert werden.
STEFAN BREUER
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Zu der Gesamtausgabe: 'Herbert Marcuse ist bis heute das Stiefkind der Frankfurter Schule geblieben - im Unterschied zu den USA, wo er mit dieser oft hauptsächlich identifiziert wird. Dem hiesigen Mißstand abhelfen will Peter-Erwin Jansen mit einer deutschen Ausgabe Nachgelassener Schriften. Indem Marcuse in der Nachfolge Freuds aus der Theorie einen historischen Seismographen des Unbehagens in der Kultur machte und an das Gelingen der Kultur koppelte, verlieh er dem Politischen eine ganz neue Dimension.' Süddeutsche Zeitung Lesen Sie hier eine Rezension der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf faz.net 'Die Nachlaßschriften sind keine bloße Ergänzung. vor allem in Hinblick auf die Klärung der Begriffe markieren sie entscheidende Momente in Marcuses philosophischen Programm.' Das Argument 'Die Schriften sind gut übersetzt und werden philologisch kontextualisiert, jeder Band ist mit einer langen Einleitung versehen. Und: das Disparate, Beiläufige der Schriften erlaubt ganz en passant und unaufdringlich Einblicke in die Arbeits- und Denkweise Marcuses.' Spex, Das Magazin für Popkultur Nr. 01/02/2001