Nach Abschluß der 'Frankfurter Ausgabe' wurden in den vergangenen Jahren mehrere Schriften Prousts entdeckt, vor allem Jugendschriften, die dem deutschen Leser bislang unbekannt waren. Zum anderen finden sich in dem unerschöpflichen literarischen Fundus des Proustschen Nachlasses zahlreiche innerhalb der 'Frankfurter Ausgabe' noch nicht publizierte Entwürfe, die besondere Beachtung verdienen. Sie alle werden in diesem Band versammelt und kommentiert.
Die ersten Texte stammen aus der Schulzeit. Es sind Beiträge für die von Proust und seinen Klassenkameraden am Lycée Condorcet herausgegebenen Schülerzeitschriften. Schon Prousts Beiträge in der Zeitschrift Le Mensuel zeigen einen vielseitigen jungen Literaten mit höchst amüsanten und für seine Kunstauffassung aufschlußreichen Berichten zum Tagesgeschehen: zu Gemäldeausstellungen, Vorträgen, der aktuellen Mode.Die zweite Abteilung des Bandes enthält mit eigenständigen Episoden, die in keines von Prousts Werken Eingang gefunden haben, eine überraschende Vielfalt an ganz neuen und doch seltsam vertrauten Themen, Gedanken, Motiven. Diese Passagen sind nicht nur für Proust-Kenner von größtem Interesse, für die sich hier ein unerwarteter Einblick in den Entstehungsprozeß seines größten Werkes ergibt. Sie bieten, in der eleganten Übersetzung von Melanie Walz, auch ein besonderes Lesevergnügen.
Die ersten Texte stammen aus der Schulzeit. Es sind Beiträge für die von Proust und seinen Klassenkameraden am Lycée Condorcet herausgegebenen Schülerzeitschriften. Schon Prousts Beiträge in der Zeitschrift Le Mensuel zeigen einen vielseitigen jungen Literaten mit höchst amüsanten und für seine Kunstauffassung aufschlußreichen Berichten zum Tagesgeschehen: zu Gemäldeausstellungen, Vorträgen, der aktuellen Mode.Die zweite Abteilung des Bandes enthält mit eigenständigen Episoden, die in keines von Prousts Werken Eingang gefunden haben, eine überraschende Vielfalt an ganz neuen und doch seltsam vertrauten Themen, Gedanken, Motiven. Diese Passagen sind nicht nur für Proust-Kenner von größtem Interesse, für die sich hier ein unerwarteter Einblick in den Entstehungsprozeß seines größten Werkes ergibt. Sie bieten, in der eleganten Übersetzung von Melanie Walz, auch ein besonderes Lesevergnügen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2007Ein Genie entsteht
Auf der Suche nach dem Roman: Wie Marcel Proust zum Autor der "Recherche" wurde / Von Henning Ritter
Im Jahre 1897, von Mitte August bis Mitte September, hielt sich Marcel Proust mit seiner Mutter und seinem Bruder Robert in Bad Kreuznach auf, das man damals von Paris aus direkt mit dem Schlafwagen erreichen konnte. Man logierte im Hotel Oranienhof, das heute nicht mehr existiert. Dieses Hotel bezeichnet Proust als "Kurhof", eine Zusammenziehung von "Oranienhof" und "Kurhaus". Das Fremdenblatt des Ortes verzeichnete in diesen Wochen die Namen der französischen Gäste, wobei Marcel irrtümlicherweise als "Dr. M. Proust" geführt wurde. Es gibt sogar einen Entwurf zu Marcel Prousts Roman "Jean Santeuil", der auf Briefpapier des Bad Kreuznacher Kurhauses geschrieben ist - eine Tatsache, die zu Bad Kreuznachs Ruhm erheblich beiträgt, während der deutsche Kuraufenthalt dem Bilde Prousts nur eine Nuance hinzufügt.
Unbekannt war diese Episode bisher nicht, denn schon der Leser von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" stößt auf sie. Kreuznach wird dort erwähnt, evoziert durch den Namen des deutschen Fürsten Faffenheim-Munsterburg-Weinigen, der Proust offenbar besonders beeindruckte, als ein kostbares Behältnis von Farben - er hebt das Blau-Email der deutschen Nachsilbe "heim" hervor - und von phantastischen Landschaften. Eine solche in der Tat phantastische Landschaft ist der Schwarzwald, über dem die alte Wartburg thront.
In Prousts jetzt in deutscher Übersetzung erstmals publizierten Aufzeichnungen über Bad Kreuznach ist dies alles jedoch weiträumiger dargestellt und in ein phantasiereiches Gewebe eingebettet: die zusammengesetzten Namen der deutschen Fürsten erinnern ihn an die Epitheta der homerischen Heroen oder sind für ihn Aussichtspunkte in die deutsche Landschaft, ein Blick über die ganze Pfalz und die Rheingrafschaft.
Das alles wird von Proust aufmerksam buchstabiert und weckt seine Lust, "Deutschland zu bereisen, Goethe zu lesen". Während er etwas mehr als zehn Jahre später seine Aufzeichnungen über jenen Kuraufenthalt niederschreibt, ruft er sich diesen Ort in Erinnerung, mit dem Kurhaus, den Wanderern und Spaziergängern, dem Kurkonzert im Stadtpark, den Gastwirtschaften in den Bergen und "mit einer unsichtbaren Krone des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, etwas über Bodenhöhe in den Lüften schwebend", zum Träumen angeregt durch diese zugleich "industrialisierten und modernen Orte, die immerhin noch von Burggrafen und Fürsten der Pfalz erzählen".
Zum Bild von Bad Kreuznach gehört auch die Beschwörung eines Aufenthalts von Goethe dort, eines Höhenweges mit dem Blick in Schluchten und auf den Fluss im Tal - eine Episode, die freilich im Leben des Dichters nicht nachzuweisen ist. Eine Phantasie wie vieles andere? So kann man sich, da Proust Flussfahrten mit dem Schiff erwähnt, durchaus einen Ausflug die Nahe abwärts nach Bingen vorstellen, wo sich Goethe am 16. August 1814 aufhielt ("Sankt Rochus-Fest zu Bingen"). Und dort schrieb in der ersten Hälfte der neunziger Jahre Stefan George, drei Jahre älter als Proust, seine Bingener Sonntagsimpressionen - faszinierende Nachbarschaft des von französischer Lyrik beeindruckten Dichters und des romantische Deutschland-Bilder beschwörenden Franzosen.
Solche Konstellationen konnte sich schon der Leser der "Recherche" ausmalen oder fingieren. Doch durch die nachgelassenen Texte aus dem Frühstadium des Romans erhalten sie neue, kräftigere Nahrung. Die Notizbücher, die Proust seit 1908 in der Absicht füllte, endlich mit seinem großen Roman zu beginnen, dessen erster Band 1913 erschienen ist, sind eine Fundgrube für den Proust-Kenner, der eine Vielzahl von Figuren und Episoden des Romans wiedererkennen wird, bereichert durch aufgegebene Passagen, die als liegengebliebene Fäden des Lebenswerks zu dessen tieferer Ausleuchtung beitragen. Der Idee des Lebenswerks hat Proust eine neue und intensivere Bedeutung gegeben, die auch entlegene Materialien in seinen Strahlkreis zu ziehen erlaubt.
Der Band "Nachgelassenes und Wiedergefundenes" beginnt mit Jugendschriften aus der Schul- und Studienzeit des Schriftstellers, der in einer jüngst erst wiederentdeckten Zeitschrift "Le Mensuel" und in dem von ihm mitbegründeten Blatt "Le Banquet" Feuilletons, Theater- und Ausstellungskritiken veröffentlichte. Die deutsche Ausgabe, deren umfangreicherer Teil Texte aus dem Umkreis der "Recherche" enthält, ist, nach dem Abschluss der großen Frankfurter Ausgabe des Werks von Marcel Proust, deren erster Supplementband.
In dem ohnehin schon vielfach geschichteten Werk wird nun eine neue Schicht freigelegt. Die aufgegebenen Projekte "Gegen Sainte-Beuve" und "Jean Santeuil" bilden, zusammen mit den Jugendschriften, den Sockel, auf dem nun die Anfänge des endlich in Angriff genommenen großen Romans, in dem alles Frühere aufgehoben sein sollte, aufruhen. Und doch zeichnet sich auch dieses große Projekt durch einen eigentümlich fragmentarischen Charakter aus: Es sind kurze Stücke, Feuilletons nicht unähnlich, oft mit ungewisser Bestimmung. Sie könnten den Eindruck erwecken, für eine Zeitung oder Zeitschrift bestimmt zu sein, wie Proust später Auszüge aus seinem im Stadium der Drucklegung befindlichen Roman auswählen und, gelegentlich nochmals überarbeitet, separat veröffentlichen wird.
Doch entgegen dem zufälligen Charakter, der sich zunächst aufdrängt, hatte so gut wie alles, was Proust in seine Notizhefte schrieb, für ihn offenbar eine präzise Stelle in der Architektur des künftigen Romans. Denn in Hinzufügungen, in denen er sich selbst redigiert, gibt er immer wieder - oft mit den Ausrufen "kapital" oder "kapitalst" - Anweisungen, wo der betreffende Text seinen Platz finden solle oder mit welcher älteren Passage er zu verknüpfen wäre. Doch wie schon der Vergleich der Bad Kreuznacher Episode in den Notizheften mit dem definitiven Text der "Recherche" zeigt, sind die dann fälligen Umarbeitungen so eingreifend, dass man eher von einem Umschmelzungsprozess reden müsste. Der Roman, den der Autor schon während der Niederschrift der frühesten Stücke so präzise vor Augen zu haben scheint, ist allenfalls ein Gerüst, dessen Ausfüllung unabsehbar erscheint und immer neue Dispositionen erfordert.
Bei den meisten der nachgelassenen Texte handelt es sich um Passagen, die in den Roman schließlich nicht Eingang gefunden haben. Dass trotzdem der Eindruck einer ersten Fassung der "Recherche" entsteht, liegt daran, dass sich der Herausgeber Luzius Keller bei der Anordnung des gesamten Materials nach Möglichkeit am fertigen Roman orientiert hat. Das ist eine glückliche Entscheidung, da der Kenner der "Recherche" dadurch leichter in die Lage versetzt wird, den Bezug zum Roman herzustellen. Glücklicherweise wird dadurch jedoch nicht die Illusion erzeugt, es schon mit einem Abriss desselben zu tun zu haben. Auf wundersame Weise vergrößert sich der Abstand zum Roman in seiner endgültigen Gestalt, statt, wie man bei dieser editorischen Vorgehensweise erwarten sollte, verringert zu werden. Die Beziehungen erscheinen meistens allenfalls als stoffliche, nicht als solche der Darstellungsweise. Größer könnte der Unterschied des geistigen Zuschnitts kaum sein, der zwischen den Entwürfen und der "Suche nach der verlorenen Zeit" besteht.
Es ist eine andere "Recherche", die aus diesen Texten hervortritt. Man erkennt viele Figuren und Episoden des Romans wieder - von den Schwierigkeiten des kleinen Marcel beim Einschlafen über Porträts von Swann, Bergotte oder Albertine bis zu seiner Entdeckung des gesellschaftlichen Kaleidoskops während der Affäre Dreyfus -, aber sie bleiben isoliert. Erst später werden sie als Inseln im Strom der großen Erzählung schwimmen. Man könnte sich ohne weiteres vorstellen, dass die nachgelassenen Entwürfe zu ganz anderen Romanen taugen würden als dem, den Proust schließlich schreiben wird. Ihre stoffliche Dichte, ihre Ereignishaftigkeit lässt sogar an einen Gesellschaftsroman denken, vielleicht in der Art von Balzac, über den Proust so schwankende Ansichten hegte. Die Fülle des Personals und die prägnanten Vorkommnisse, die in den frühen Entwürfen dicht aneinandergerückt sind, lassen erahnen, welch energische Verlangsamung der Arbeit an diesen Stoffen nötig war, um eines Tages den unverwechselbaren Erzählduktus Prousts hervorzubringen.
Man hat gesagt, Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" sei im Grunde sein unabsehbar langer Weg, Schriftsteller zu werden. Immer wieder erzählt er davon, wie er es versäumte, endlich an die Arbeit zu gehen, und wie er sich von all dem ablenken ließ, was eines Tages seinem Roman Stoff geben sollte. So unverkennbar nahezu alles, was er in seine Notizhefte eintrug, die Signatur des künftigen Werkes trägt, so ist es doch auch von der Eile und Unruhe diktiert, endlich ans Ziel zu gelangen - und doch scheint er sich von ihm immer wieder zu entfernen. Es sei nicht schwierig, hat Proust einmal gesagt, "den Weg im Laufschritt zurückzulegen, wenn man vor dem Aufbruch zunächst alle Schätze, die man überbringen sollte, in den Fluss wirft". Das ist er selbst, der sich immer wieder neue Schätze auflädt, bevor er losläuft. Der Leser sieht jedes Mal schon das Tor zum Roman erreicht, während es sich für den Autor noch längst nicht geöffnet hat. Der Leser der in diesem Band versammelten Stücke wird immer wieder Zeuge eines solchen Zögerns vor dem nahen Ziel.
Nicht weit vor dem Ende seines Romans wird Proust, fast unauffällig, einen Satz schreiben, der das Drama seiner Autorschaft ins helle Licht rückt. In "Die wiedergefundene Zeit" findet sich dieser Satz, der an Kafkas Prosa erinnert: "In dem Augenblick aber, in dem uns alles verloren scheint, erreicht uns zuweilen die Stimme, die uns retten kann, man hat an alle Pforten geklopft, die auf gar nichts führen, vor der einzigen aber, durch die man eintreten kann und die man vergeblich hundert Jahre lang hätte suchen können, steht man, ohne es zu wissen, und sie tut sich auf." Dass diese Pforte sich schon damals, als Proust mit den Aufzeichnungen zu seinem Roman begann, geöffnet hätte, wird der erfahrene Proust-Leser nicht erwarten. Er wird aber, ähnlich wie der Autor, hellhörig sein für das Pochen, das dieser überall zu hören vermeint. Alle Pforten, an die er vergeblich klopft, sind ihm ein Versprechen jenes unvorhersehbaren Augenblicks.
So hat sich der Proust-Leser längst auf Wege begeben, die noch vor Jahren als kaum gegangen bezeichnet werden konnten. Er liest nicht nur die "Recherche" im Original, in der unübertroffenen deutschen Übersetzung von Eva Rechel-Mertens und in ihrer unter der Ägide von Luzius Keller revidierten Fassung, die mittlerweile in der dreizehnbändigen deutschen Proust-Ausgabe vorliegt - er liest die aufgegebenen Werke "Jean Santeuil" und "Gegen Sainte-Beuve", die Feuilletons und Erzählungen. Er liest all dies als ein einziges Werk. Und er liest noch mehr: auch die Fahnen und verworfenen Typoskripte zum Roman, die mittlerweile aufgetaucht sind. So wird er auch den vorliegenden siebenhundert Seiten starken Band lesen - mit der Erwartung, dass sich dort irgendwo eine Pforte zum Geheimnis des Proustschen Werks öffnet.
Vielleicht öffnet sie sich hier tatsächlich im "Fragment einer Ur-Recherche", in einer Passage über Realität und Traum. Im gesamten Konvolut ist sie vielleicht die einzige, die einen Vorgriff auf jene Reflexionen bietet, mit denen Proust seinen Roman meisterhaft anreichern und die er mit dem Erzählerischen bruchlos verlöten wird. Die Passage handelt von der Enttäuschung über die Begegnung mit Dingen, von denen man geträumt hat. Es ist eine der Urenttäuschungen, die Proust an vielen Stellen seines Werks artikuliert. Er erklärt nun, sich nicht damit abfinden zu können, dass der "phantasiebedingte Zauber, welcher der Realität nicht entspricht", eine "konventionelle poetische Vorstellung" sei. Mit seltenem Nachdruck versichert er, er denke nicht so und hoffe, "eines Tages das Gegenteil zu beweisen".
Träume und Phantasien, erklärt er, könnten durch genaue Beschreibung jene Realität aufwiegen, ihr Gegenstand sei eine weit stärkere Realität, und sie strebten danach, sich ständig in uns neu zu bilden, indem sie etwa zu Reisen antrieben und das einst Gesehene und Vergessene wiederentdeckten und wiederbelebten: "Diese Realität sucht uns sogar im Traum heim und verleiht dort den Ländern, den Kirchen unserer Kindheit, den Schlössern unserer Träume den Anschein, gleicher Art wie die Namen zu sein, einen Anschein, der sich der Phantasie verdankt und Wünschen, von denen wir in wachem Zustand nichts mehr wissen oder in jenem Augenblick, in dem wir einschlafen."
Die Proustsche Signatur dieser Gedanken ist nicht zu verkennen, und offenbar handelt es sich um einen Vorgriff auf den Anfang der "Recherche": "Longtemps je me suis couché à bonne heure." Was jedoch die Betrachtung über Traum und Realität bei all ihrer Verflochtenheit so bemerkenswert macht, ist Prousts Absicht zu beweisen, dass es bei Realität und Traum anders zugehe, als gewöhnlich angenommen werde: dass man sich nicht dem herrschenden Begriff der Realität und der korrespondierenden realitätslosen Vorstellung von Traum und Phantasie unterwerfen dürfe, sondern dass Traum und Phantasie die stärkere Realität auf ihrer Seite hätten - durch ihre Kraft, das Verlorene und Vergessene wiederzubeleben.
Vielleicht hat Proust damals geglaubt - seine Erklärung, es eines Tages beweisen zu wollen, spricht dafür -, dass es sich um einen theoretischen Beweis handeln werde, während er in Wirklichkeit den Beweis durch seinen Roman erbringen wird. Doch auch dies scheint ihm damals schon ahnungsweise klar zu sein, denn er meint abschließend, dass nur jene Seiten eines Buches, auf denen es gelingt, einen Eindruck von der Kraft der Phantasie zu geben, "uns den Eindruck der Genialität vermitteln". Den Begriff der Genialität wird Proust bald preisgeben. An ihre Stelle ist für uns sein eigener Name getreten: Marcel Proust.
Marcel Proust: "Nachgelassenes und Wiedergefundenes". Supplementband zur Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Luzius Keller. Aus dem Französischen übersetzt von Melanie Walz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 700 S., geb., 49,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Suche nach dem Roman: Wie Marcel Proust zum Autor der "Recherche" wurde / Von Henning Ritter
Im Jahre 1897, von Mitte August bis Mitte September, hielt sich Marcel Proust mit seiner Mutter und seinem Bruder Robert in Bad Kreuznach auf, das man damals von Paris aus direkt mit dem Schlafwagen erreichen konnte. Man logierte im Hotel Oranienhof, das heute nicht mehr existiert. Dieses Hotel bezeichnet Proust als "Kurhof", eine Zusammenziehung von "Oranienhof" und "Kurhaus". Das Fremdenblatt des Ortes verzeichnete in diesen Wochen die Namen der französischen Gäste, wobei Marcel irrtümlicherweise als "Dr. M. Proust" geführt wurde. Es gibt sogar einen Entwurf zu Marcel Prousts Roman "Jean Santeuil", der auf Briefpapier des Bad Kreuznacher Kurhauses geschrieben ist - eine Tatsache, die zu Bad Kreuznachs Ruhm erheblich beiträgt, während der deutsche Kuraufenthalt dem Bilde Prousts nur eine Nuance hinzufügt.
Unbekannt war diese Episode bisher nicht, denn schon der Leser von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" stößt auf sie. Kreuznach wird dort erwähnt, evoziert durch den Namen des deutschen Fürsten Faffenheim-Munsterburg-Weinigen, der Proust offenbar besonders beeindruckte, als ein kostbares Behältnis von Farben - er hebt das Blau-Email der deutschen Nachsilbe "heim" hervor - und von phantastischen Landschaften. Eine solche in der Tat phantastische Landschaft ist der Schwarzwald, über dem die alte Wartburg thront.
In Prousts jetzt in deutscher Übersetzung erstmals publizierten Aufzeichnungen über Bad Kreuznach ist dies alles jedoch weiträumiger dargestellt und in ein phantasiereiches Gewebe eingebettet: die zusammengesetzten Namen der deutschen Fürsten erinnern ihn an die Epitheta der homerischen Heroen oder sind für ihn Aussichtspunkte in die deutsche Landschaft, ein Blick über die ganze Pfalz und die Rheingrafschaft.
Das alles wird von Proust aufmerksam buchstabiert und weckt seine Lust, "Deutschland zu bereisen, Goethe zu lesen". Während er etwas mehr als zehn Jahre später seine Aufzeichnungen über jenen Kuraufenthalt niederschreibt, ruft er sich diesen Ort in Erinnerung, mit dem Kurhaus, den Wanderern und Spaziergängern, dem Kurkonzert im Stadtpark, den Gastwirtschaften in den Bergen und "mit einer unsichtbaren Krone des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, etwas über Bodenhöhe in den Lüften schwebend", zum Träumen angeregt durch diese zugleich "industrialisierten und modernen Orte, die immerhin noch von Burggrafen und Fürsten der Pfalz erzählen".
Zum Bild von Bad Kreuznach gehört auch die Beschwörung eines Aufenthalts von Goethe dort, eines Höhenweges mit dem Blick in Schluchten und auf den Fluss im Tal - eine Episode, die freilich im Leben des Dichters nicht nachzuweisen ist. Eine Phantasie wie vieles andere? So kann man sich, da Proust Flussfahrten mit dem Schiff erwähnt, durchaus einen Ausflug die Nahe abwärts nach Bingen vorstellen, wo sich Goethe am 16. August 1814 aufhielt ("Sankt Rochus-Fest zu Bingen"). Und dort schrieb in der ersten Hälfte der neunziger Jahre Stefan George, drei Jahre älter als Proust, seine Bingener Sonntagsimpressionen - faszinierende Nachbarschaft des von französischer Lyrik beeindruckten Dichters und des romantische Deutschland-Bilder beschwörenden Franzosen.
Solche Konstellationen konnte sich schon der Leser der "Recherche" ausmalen oder fingieren. Doch durch die nachgelassenen Texte aus dem Frühstadium des Romans erhalten sie neue, kräftigere Nahrung. Die Notizbücher, die Proust seit 1908 in der Absicht füllte, endlich mit seinem großen Roman zu beginnen, dessen erster Band 1913 erschienen ist, sind eine Fundgrube für den Proust-Kenner, der eine Vielzahl von Figuren und Episoden des Romans wiedererkennen wird, bereichert durch aufgegebene Passagen, die als liegengebliebene Fäden des Lebenswerks zu dessen tieferer Ausleuchtung beitragen. Der Idee des Lebenswerks hat Proust eine neue und intensivere Bedeutung gegeben, die auch entlegene Materialien in seinen Strahlkreis zu ziehen erlaubt.
Der Band "Nachgelassenes und Wiedergefundenes" beginnt mit Jugendschriften aus der Schul- und Studienzeit des Schriftstellers, der in einer jüngst erst wiederentdeckten Zeitschrift "Le Mensuel" und in dem von ihm mitbegründeten Blatt "Le Banquet" Feuilletons, Theater- und Ausstellungskritiken veröffentlichte. Die deutsche Ausgabe, deren umfangreicherer Teil Texte aus dem Umkreis der "Recherche" enthält, ist, nach dem Abschluss der großen Frankfurter Ausgabe des Werks von Marcel Proust, deren erster Supplementband.
In dem ohnehin schon vielfach geschichteten Werk wird nun eine neue Schicht freigelegt. Die aufgegebenen Projekte "Gegen Sainte-Beuve" und "Jean Santeuil" bilden, zusammen mit den Jugendschriften, den Sockel, auf dem nun die Anfänge des endlich in Angriff genommenen großen Romans, in dem alles Frühere aufgehoben sein sollte, aufruhen. Und doch zeichnet sich auch dieses große Projekt durch einen eigentümlich fragmentarischen Charakter aus: Es sind kurze Stücke, Feuilletons nicht unähnlich, oft mit ungewisser Bestimmung. Sie könnten den Eindruck erwecken, für eine Zeitung oder Zeitschrift bestimmt zu sein, wie Proust später Auszüge aus seinem im Stadium der Drucklegung befindlichen Roman auswählen und, gelegentlich nochmals überarbeitet, separat veröffentlichen wird.
Doch entgegen dem zufälligen Charakter, der sich zunächst aufdrängt, hatte so gut wie alles, was Proust in seine Notizhefte schrieb, für ihn offenbar eine präzise Stelle in der Architektur des künftigen Romans. Denn in Hinzufügungen, in denen er sich selbst redigiert, gibt er immer wieder - oft mit den Ausrufen "kapital" oder "kapitalst" - Anweisungen, wo der betreffende Text seinen Platz finden solle oder mit welcher älteren Passage er zu verknüpfen wäre. Doch wie schon der Vergleich der Bad Kreuznacher Episode in den Notizheften mit dem definitiven Text der "Recherche" zeigt, sind die dann fälligen Umarbeitungen so eingreifend, dass man eher von einem Umschmelzungsprozess reden müsste. Der Roman, den der Autor schon während der Niederschrift der frühesten Stücke so präzise vor Augen zu haben scheint, ist allenfalls ein Gerüst, dessen Ausfüllung unabsehbar erscheint und immer neue Dispositionen erfordert.
Bei den meisten der nachgelassenen Texte handelt es sich um Passagen, die in den Roman schließlich nicht Eingang gefunden haben. Dass trotzdem der Eindruck einer ersten Fassung der "Recherche" entsteht, liegt daran, dass sich der Herausgeber Luzius Keller bei der Anordnung des gesamten Materials nach Möglichkeit am fertigen Roman orientiert hat. Das ist eine glückliche Entscheidung, da der Kenner der "Recherche" dadurch leichter in die Lage versetzt wird, den Bezug zum Roman herzustellen. Glücklicherweise wird dadurch jedoch nicht die Illusion erzeugt, es schon mit einem Abriss desselben zu tun zu haben. Auf wundersame Weise vergrößert sich der Abstand zum Roman in seiner endgültigen Gestalt, statt, wie man bei dieser editorischen Vorgehensweise erwarten sollte, verringert zu werden. Die Beziehungen erscheinen meistens allenfalls als stoffliche, nicht als solche der Darstellungsweise. Größer könnte der Unterschied des geistigen Zuschnitts kaum sein, der zwischen den Entwürfen und der "Suche nach der verlorenen Zeit" besteht.
Es ist eine andere "Recherche", die aus diesen Texten hervortritt. Man erkennt viele Figuren und Episoden des Romans wieder - von den Schwierigkeiten des kleinen Marcel beim Einschlafen über Porträts von Swann, Bergotte oder Albertine bis zu seiner Entdeckung des gesellschaftlichen Kaleidoskops während der Affäre Dreyfus -, aber sie bleiben isoliert. Erst später werden sie als Inseln im Strom der großen Erzählung schwimmen. Man könnte sich ohne weiteres vorstellen, dass die nachgelassenen Entwürfe zu ganz anderen Romanen taugen würden als dem, den Proust schließlich schreiben wird. Ihre stoffliche Dichte, ihre Ereignishaftigkeit lässt sogar an einen Gesellschaftsroman denken, vielleicht in der Art von Balzac, über den Proust so schwankende Ansichten hegte. Die Fülle des Personals und die prägnanten Vorkommnisse, die in den frühen Entwürfen dicht aneinandergerückt sind, lassen erahnen, welch energische Verlangsamung der Arbeit an diesen Stoffen nötig war, um eines Tages den unverwechselbaren Erzählduktus Prousts hervorzubringen.
Man hat gesagt, Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" sei im Grunde sein unabsehbar langer Weg, Schriftsteller zu werden. Immer wieder erzählt er davon, wie er es versäumte, endlich an die Arbeit zu gehen, und wie er sich von all dem ablenken ließ, was eines Tages seinem Roman Stoff geben sollte. So unverkennbar nahezu alles, was er in seine Notizhefte eintrug, die Signatur des künftigen Werkes trägt, so ist es doch auch von der Eile und Unruhe diktiert, endlich ans Ziel zu gelangen - und doch scheint er sich von ihm immer wieder zu entfernen. Es sei nicht schwierig, hat Proust einmal gesagt, "den Weg im Laufschritt zurückzulegen, wenn man vor dem Aufbruch zunächst alle Schätze, die man überbringen sollte, in den Fluss wirft". Das ist er selbst, der sich immer wieder neue Schätze auflädt, bevor er losläuft. Der Leser sieht jedes Mal schon das Tor zum Roman erreicht, während es sich für den Autor noch längst nicht geöffnet hat. Der Leser der in diesem Band versammelten Stücke wird immer wieder Zeuge eines solchen Zögerns vor dem nahen Ziel.
Nicht weit vor dem Ende seines Romans wird Proust, fast unauffällig, einen Satz schreiben, der das Drama seiner Autorschaft ins helle Licht rückt. In "Die wiedergefundene Zeit" findet sich dieser Satz, der an Kafkas Prosa erinnert: "In dem Augenblick aber, in dem uns alles verloren scheint, erreicht uns zuweilen die Stimme, die uns retten kann, man hat an alle Pforten geklopft, die auf gar nichts führen, vor der einzigen aber, durch die man eintreten kann und die man vergeblich hundert Jahre lang hätte suchen können, steht man, ohne es zu wissen, und sie tut sich auf." Dass diese Pforte sich schon damals, als Proust mit den Aufzeichnungen zu seinem Roman begann, geöffnet hätte, wird der erfahrene Proust-Leser nicht erwarten. Er wird aber, ähnlich wie der Autor, hellhörig sein für das Pochen, das dieser überall zu hören vermeint. Alle Pforten, an die er vergeblich klopft, sind ihm ein Versprechen jenes unvorhersehbaren Augenblicks.
So hat sich der Proust-Leser längst auf Wege begeben, die noch vor Jahren als kaum gegangen bezeichnet werden konnten. Er liest nicht nur die "Recherche" im Original, in der unübertroffenen deutschen Übersetzung von Eva Rechel-Mertens und in ihrer unter der Ägide von Luzius Keller revidierten Fassung, die mittlerweile in der dreizehnbändigen deutschen Proust-Ausgabe vorliegt - er liest die aufgegebenen Werke "Jean Santeuil" und "Gegen Sainte-Beuve", die Feuilletons und Erzählungen. Er liest all dies als ein einziges Werk. Und er liest noch mehr: auch die Fahnen und verworfenen Typoskripte zum Roman, die mittlerweile aufgetaucht sind. So wird er auch den vorliegenden siebenhundert Seiten starken Band lesen - mit der Erwartung, dass sich dort irgendwo eine Pforte zum Geheimnis des Proustschen Werks öffnet.
Vielleicht öffnet sie sich hier tatsächlich im "Fragment einer Ur-Recherche", in einer Passage über Realität und Traum. Im gesamten Konvolut ist sie vielleicht die einzige, die einen Vorgriff auf jene Reflexionen bietet, mit denen Proust seinen Roman meisterhaft anreichern und die er mit dem Erzählerischen bruchlos verlöten wird. Die Passage handelt von der Enttäuschung über die Begegnung mit Dingen, von denen man geträumt hat. Es ist eine der Urenttäuschungen, die Proust an vielen Stellen seines Werks artikuliert. Er erklärt nun, sich nicht damit abfinden zu können, dass der "phantasiebedingte Zauber, welcher der Realität nicht entspricht", eine "konventionelle poetische Vorstellung" sei. Mit seltenem Nachdruck versichert er, er denke nicht so und hoffe, "eines Tages das Gegenteil zu beweisen".
Träume und Phantasien, erklärt er, könnten durch genaue Beschreibung jene Realität aufwiegen, ihr Gegenstand sei eine weit stärkere Realität, und sie strebten danach, sich ständig in uns neu zu bilden, indem sie etwa zu Reisen antrieben und das einst Gesehene und Vergessene wiederentdeckten und wiederbelebten: "Diese Realität sucht uns sogar im Traum heim und verleiht dort den Ländern, den Kirchen unserer Kindheit, den Schlössern unserer Träume den Anschein, gleicher Art wie die Namen zu sein, einen Anschein, der sich der Phantasie verdankt und Wünschen, von denen wir in wachem Zustand nichts mehr wissen oder in jenem Augenblick, in dem wir einschlafen."
Die Proustsche Signatur dieser Gedanken ist nicht zu verkennen, und offenbar handelt es sich um einen Vorgriff auf den Anfang der "Recherche": "Longtemps je me suis couché à bonne heure." Was jedoch die Betrachtung über Traum und Realität bei all ihrer Verflochtenheit so bemerkenswert macht, ist Prousts Absicht zu beweisen, dass es bei Realität und Traum anders zugehe, als gewöhnlich angenommen werde: dass man sich nicht dem herrschenden Begriff der Realität und der korrespondierenden realitätslosen Vorstellung von Traum und Phantasie unterwerfen dürfe, sondern dass Traum und Phantasie die stärkere Realität auf ihrer Seite hätten - durch ihre Kraft, das Verlorene und Vergessene wiederzubeleben.
Vielleicht hat Proust damals geglaubt - seine Erklärung, es eines Tages beweisen zu wollen, spricht dafür -, dass es sich um einen theoretischen Beweis handeln werde, während er in Wirklichkeit den Beweis durch seinen Roman erbringen wird. Doch auch dies scheint ihm damals schon ahnungsweise klar zu sein, denn er meint abschließend, dass nur jene Seiten eines Buches, auf denen es gelingt, einen Eindruck von der Kraft der Phantasie zu geben, "uns den Eindruck der Genialität vermitteln". Den Begriff der Genialität wird Proust bald preisgeben. An ihre Stelle ist für uns sein eigener Name getreten: Marcel Proust.
Marcel Proust: "Nachgelassenes und Wiedergefundenes". Supplementband zur Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Luzius Keller. Aus dem Französischen übersetzt von Melanie Walz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 700 S., geb., 49,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die große Bedeutung, die Henning Ritter und FAZ diesen Aufzeichnungen Marcel Prousts beimessen, wird schon aus der prominenten Platzierung der Rezension als Aufmacher der Literaturbeilage deutlich. Im ersten Supplementband der Frankfurter Proust-Ausgabe finden sich Prousts Jugendschriften und Notizen rund um das Romanprojekt von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Eine "Fundgrube" tut sich für Ritter - und alle anderen Proust-Kenner, wie er verspricht - besonders mit letzteren auf. Denn erkennbar werde, wie Romanpersonal und tatsächliche Erfahrungen und Begegnungen des Schriftstellers zusammenhängen. Der Rezensent macht dabei eine anregende Doppelerfahrung. Obwohl ihm die Aufzeichnungen wie eine erste Fassung der "Suche" vorkommen, könnte er sich gut vorstellen, dass aus diesen Fragmenten auch ein ganz anderes Buch hätte entstehen können. Ritter hat seine helle Freude mit solchen Spekulationen, und ist überzeugt, dass das auch auf andere leidenschaftliche Proust-Leser zutrifft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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