"Nachhinein" erzählt von der Entwicklung zweier Mädchen und ihrer sich verändernden Freundschaft. Zwischen ihnen gibt es einen wesentlichen Unterschied: Die eine wird behütet, geliebt, entschuldigt, darf sogar rebellisch sein, die andere hingegen ist arm, wird angegriffen und in ihrer Familie missbraucht. Aus diesem Grund ändert sich bald auch die Beziehung der Mädchen zueinander, die zunehmend von Liebe, Eifersucht und erwachender Sexualität, von Machtspielen und Grausamkeit geprägt wird. Bis die Ereignisse außer Kontrolle geraten Im Juli 2012 erhielt Lisa Kränzler den 3sat-Preis beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb für einen Auszug aus diesem Roman. "Ein sehr intensiver und durchkonstruierter Text, dabei aber nicht spröde - hier wird der Leser wieder seinen eigenen Kindheitserfahrungen ausgesetzt", meinte Juror Paul Jandl.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mäßigung ist Lisa Kränzlers Sache nicht, verrät Rezensentin Alexandra von Arx, die der Autorin ihren sprachlichen und erzählerischen Wagemut allerdings hoch anrechnet. In ihrem neuen Roman "Nachhinein" geht es wieder um die Kindheit, um zwei Kindheiten eigentlich, berichtet die Rezensentin, um das behütete und optimal geförderte Akademikerkind "LottaLuisaLuzia" und um ihre beste Freundin "JasminCelineJustine", die zwar nur über die Straße wohnt, deren Familie jedoch verwahrlost und gewaltbereit ist. Zwei Gegensätze, erklärt die Rezensentin und zitiert: "Hüben Lehrplan, drüben Schichtplan; da Eigenheim, dort Mietwohnung; rechts Standpauke, links Arschvoll." Das schürt von vorneherein eine gewisse Erwartungshaltung gegenüber dem Ausgang dieser Freundschaft, von der auch nicht abgewichen wird: Sie scheitert. Und dennoch ist die Lektüre schockierend und beunruhigend, gesteht Arx.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2013Rebellion der Armut und der Angst
Ein Sozialroman, ja, das muss jetzt sein, in einer Welt, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Was ist das für ein Leben, wenn es nur aus Arbeit für lächerlichen Lohn besteht? Lisa Kränzler hat mit "Nachhinein" einen Roman aus dem Epizentrum unserer Zeit geschrieben
Ob er leben könne, ohne zu schreiben, das sei die einzige Frage, die er sich stellen müsse, schrieb Rainer Maria Rilke im Februar 1903 an jenen etwas aufdringlichen, unsicheren jungen Lyriker, der ihm seine Gedichte zur Prüfung vorgelegt hatte. Ob er wirklich schreiben müsse. "Und wenn Sie mit einem starken und einfachen ich muß dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit."
An dieser einfachen, klaren Rilke-Formel hat sich in den folgenden 110 Jahren nichts geändert. Der Dichter, der ihm damals schrieb, hieß Franz Xaver Kappus, und er war so stolz auf Rilkes Antwort, dass er sofort zurückschrieb und darüber ganz die Botschaft überlas, die ihm dieser so höflich überbracht hatte: dass er, Kappus, wohl kein Dichter sei. Dass seine Kunst, wenn sie nicht einer inneren Notwendigkeit entspringe, keine wahre Kunst sei, dass ein Dichter, der sein Fortschreiben vom Urteil eines anderen Dichters abhängig mache, kein wahrer Künstler sei. Keiner, auf den es ankomme.
Ja, das ist pathetisch und altmodisch und übertrieben - und doch genau so wahr. Es muss einfach um alles gehen in der Literatur, es muss alles gewagt werden. Und das kann dann misslingen, halb gelingen, kann ein Versuch bleiben, aber man muss das Risiko spüren beim Lesen, das Risiko, das der Künstler eingegangen ist beim Schreiben. Vielleicht gilt das heute sogar noch mehr als vor hundert Jahren, in einer Welt, die so übervoll ist mit Meinungen, Kommentaren, Geschichten, Berichten aus jedem, jedem, jedem Leben.
"Nachhinein" heißt das Buch von Lisa Kränzler, um das es hier geht. Es ist die Geschichte zweier Freundinnen, kindergartenklein, als sie sich kennenlernen, lieben lernen, füreinander alles sind, und am Ende des Buches sind sie erwachsen, zornig und allein. Es ist ein Buch über die Macht der Erinnerung, der man nicht entkommen kann, ein Buch über das Mitleid als echtes Mitleiden mit allen Konsequenzen, ein Buch über Armut und Reichtum, über das Wachsen einer künstlerischen Leidenschaft und eine Gewalt, die dieses Wachsen jäh unterbricht.
Zwei Mädchen, ihre Namen lauten irgendwie: "JasminCelineJustine" die eine, "LottaLuisaLuzia" die andere, ihre äußeren Konturen verschwimmen, der Kern ihrer Persönlichkeit tritt mit jeder Seite klarer und härter zutage. Sie wohnen in einem kleinen Dorf, leben in derselben Straße, das eine Elternhaus ist reich und prächtig, das andere arm, klein, sorgenvoll. Das Geld spielt keine Rolle, wenn man klein ist, in dieser engen Welt. Es ist ja lächerlich, das Geld, der Reichtum, auf die Freundschaft kommt es an. Selbst dass man nicht die gleiche Leidenschaft teilt, ist nicht von Gewicht. Es kommt auf das Suchen an, die Intensität des Suchens, das Gefühl des Mangels, des Ungenügens, der Sehnsucht nach dem ganz anderen, jenseits der Welt, so wie sie heute ist: "Wonach wir suchen und was wir finden, sitzt auf entgegengesetzten Polen. Während JasminCelineJustine auf der Suche nach Gesellschaft, Zerstreuung und Vergessen jener skrupellosen Kämpfergemeinschaft beitritt, strebe ich einem Punkt entgegen, den ich in den tiefsten Schichten meines Selbst vermute. Nichts und niemand will ich treffen als diesen Punkt, der die Überraschung, die Neuerung ermöglicht. Was ich spielend ans Tageslicht befördere, klingt für mich allein. Ich spüre keinerlei Sehnsucht nach Zugehörigkeit zur Außenwelt oder irgendwelchen anderen, virtuellen Welten."
Die eine verliert sich in intensivsten Computerspielen, die andere im Klavierspiel. Beide suchen eine Freiheit, finden sie für Tage, Wochen, Monate, bis sie mit dem Kopf an Regeln stoßen. Regeln der Welt. Das Computerspiel endet an recht eng gesteckten Grenzen und lässt sich nicht erweitern, nicht umprogrammieren, das Klavierspiel muss irgendwann Noten folgen, so wollen es die Eltern, so will es die Lehrerin, so fordert es die genormte Welt: "Das Übersehen eines einzigen Punktes galt bereits als ,Fehler'." Und "ob sich die fehlerhafte Variante, die verspielte Note, eleganter, lustiger, schräger, schiefer oder einfach nur interessanter anhörte als die vom Buch befohlene Variante, spielte dabei keine Rolle". Kindliches Einfinden in die Kästchenwelt des Größerwerdens. Eine Zeitlang ist das harmlos schön. Wie die Klavierrebellin, nachdem sie in einer Glenn-Gould-Biographie gelesen hat, sich doch bereitfindet, an einem Musikwettbewerb teilzunehmen, wenn sie nur ihren eigenen Hocker mitnehmen und sich auch sonst Glenn-Gould-haft geben darf. Wie sie also in der Nachfolge eines Helden des Eigensinns sich doch einbinden lässt ins Regelwerk der Welt. Oder auch in "den Unsinn der Erwachsenen", wie sie es nennt.
Es kommt dann immer wieder zu irre schönen Glücksmomenten, im Wald zum Beispiel, rennend, schauend, jetztbeglückt oder lachend mit der Freundin, "die Bäuche von wahnsinniger Freude wundgelacht", oder auch immer mal sehr kitschbereit, den Himmel beschreibend, liegend, am See: "Auf dem Zeltdach unseres, von heiligen Händen aus den Blütenblättern gigantischer Enziane genähten, grellen blauen Wunders."
Doch dann ist Schluss mit schönen Wundern in Blau. Das Leben schlägt zu. Und zwar zunächst komplett und vollkommen ungerecht nur auf der einen Seite des Freundschaftsdoppels, der Seite der Armut. Die eine verbringt den kompletten Sommer in der Sonne Spaniens, die andere im Schimmel ihres kleinen Zimmers, es folgen Gymnasium und neue Freunde für die eine, Steckenbleiben, Ärger, Hängenlassen für die andere. Lisa Kränzler beschreibt die Kleinigkeiten und das große Ganze der verdammten alltäglichen Ungerechtigkeit: dass einige Menschen in einem See von Geld auf die Welt kommen und ein Leben der Möglichkeiten sich sonnig vor ihnen ausbreitet, während die anderen in der Enge leben, Eltern haben, die den ganzen Tag für beinahe nichts arbeiten und bitter werden, mit jedem Tag bitterer, weil sie wissen, dass da nichts mehr kommt im Leben als ein Meer von Arbeit für immer und das Geld trotzdem für gar nichts reicht. Und für die Kinder wird es auch nicht besser. Kreislauf der Armut, enge Welt.
"Nachhinein" ist ein Sozialroman, müsste man eigentlich sagen, wenn das nicht so grau und altmodisch klingen würde. Es ist ein Roman, der aus der Empörung über die scheinbar unverrückbar schlechte Einrichtung der Welt seine Energie und seine Wut bezieht. Armut - das ist ja sonst eher nicht so ein Thema in der deutschen Literatur der Gegenwart. Ist ja auch etwas unglamourös, unspektakulär und dumpf und ausweglos. Aber es ist das Thema unserer Zeit. Einer Zeit, in der auch in den reichsten Ländern der Welt einem großen Teil der Bevölkerung ein menschenwürdiges Leben nicht möglich ist, weil es von Arbeit verstellt ist, die minimal vergütet wird und alle Lebenszeit und Lebensenergie auffrisst. Lisa Kränzler schreibt aus dem Zentrum dieser Welt, aus einem dieser Leben.
Kränzler ist 29 Jahre alt, lebt in Freiburg, sie ist Malerin, hat an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe bei Anselm Reyle studiert, war Meisterschülerin bei Tatjana Doll. Vor einem Jahr erschien ihr erster Roman "Export A", über das Austauschjahr einer 16-jährigen Schülerin in Kanada, in Drogenrausch und Frost und Einsamkeit, der war noch etwas stark gewollt, etwas schwach geschrieben, einfach etwas übertrieben vielleicht. "Nachhinein" ist ruhiger, entschlossener, dunkler. Manche Szenen lesen sich - das liegt jetzt nahe, ist aber wirklich so - wie gemalt, großflächig, schwungvoll, in intensiven Farben. Am stärksten ist das Buch, wenn sie sich nicht auf Effekte verlässt, sondern vorsichtig die Folgen eines Traumas erzählt. Das Trauma, von dem sie berichtet, ist die Gewalt, die JasminCelineJustines Vater seiner Tochter antut. Es ist grauenvoll. Kränzler erzählt diesen Schrecken etwas zu anschaulich, beinahe voyeuristisch. Vielleicht traut sie in diesen Passagen ihrer eigenen Kunst noch nicht genug, glaubt, in kräftigen Farben ausmalen zu müssen, was in Andeutungen und Schattenrissen weit effektvoller geschildert werden könnte. Es gehört aber auch zum künstlerischen Risiko, das Kränzler auf jeder Seite dieses erschütternden Buches spürbar eingeht, dass man mal abstürzt, dass etwas misslingt. Aber schon auf den nächsten Seiten ist sie wieder auf der Höhe ihrer Kunst.
Es liegt ein schweres Schicksalsgewicht auf den Schultern der Ärmeren. Die Glücksfreundin ahnt das meiste davon, wird beinahe selbst Opfer der fremden Vatergewalt und kann entkommen, denn sie wohnt nicht im Elterngefängnis der Armut. Sie kann ins Freie und schämt sich ihres Glückes dort, schämt sich des Unglücks der Freundin. Schämt sich, dass sie nicht helfen kann. Was ist Freundschaft? Was ist Mitleid? Am Ende will JasminCelineJustine ein echtes Mitleiden der sich entfernenden Freundin erzwingen. Beide hetzen durch den Wald, ihren Wald der Freundschaft, auf der Flucht vor dem Vater des Grauens verletzt sich das Klavierglückskind so schwer an der Hand, dass sie sie nie wieder gebrauchen kann. Die Kunst ist vorbei, das Klavierspiel ist vorbei für immer. Und was kommt jetzt?
Flucht vor der Erinnerung. Doch "mein inneres Auge hat kein Lid", heißt es im Roman. Die kaputte Hand ist immer da und mit ihr die Erinnerung an die Möglichkeiten von Kunst, die ihr nun für immer verschlossen sind. Stattdessen: "Mein Zorn hat Zukunft. Er ist definitiv." Stattdessen: eine andere Kunst. Zum Beispiel Literatur.
Wir können davon ausgehen, dass Rainer Maria Rilke eine andere künstlerische Notwendigkeit vor Augen hatte, als er an Franz Xaver Kappus schrieb. Die Kunst, die Literatur, die Menschen von heute werden von anderen Notwendigkeiten getrieben. Der Dichter Kappus ist heute längst vergessen. Sein berühmtestes Werk sind die Briefe Rilkes an ihn, die er wenige Jahre nach dem Tod des verehrten Dichters als Buch herausgegeben hat.
"Versuchen Sie, wie ein erster Mensch, zu sagen, was Sie sehen und erleben und lieben und verlieren", hatte Rilke ihm noch geraten, und dass man nicht die Gegenwart anklagen dürfe, wenn man das Gefühl habe, sie sei zu armselig, um sie zu beschreiben. Stoff für Literatur sei auch im Gefängnis mit nackten Wänden, schrieb Rilke, denn auch dort habe er ja immer noch seine Kindheit, "diesen köstlichen, königlichen Reichtum, dieses Schatzhaus der Erinnerungen". Nicht für jeden war die Kindheit von königlichem Reichtum geprägt. Die Notwendigkeit zu erzählen muss dadurch nicht kleiner werden. Im Gegenteil. Auch davon erzählt Lisa Kränzlers Roman.
VOLKER WEIDERMANN
Lisa Kränzler: "Nachhinein". Roman. Verbrecher-Verlag, 270 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Sozialroman, ja, das muss jetzt sein, in einer Welt, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Was ist das für ein Leben, wenn es nur aus Arbeit für lächerlichen Lohn besteht? Lisa Kränzler hat mit "Nachhinein" einen Roman aus dem Epizentrum unserer Zeit geschrieben
Ob er leben könne, ohne zu schreiben, das sei die einzige Frage, die er sich stellen müsse, schrieb Rainer Maria Rilke im Februar 1903 an jenen etwas aufdringlichen, unsicheren jungen Lyriker, der ihm seine Gedichte zur Prüfung vorgelegt hatte. Ob er wirklich schreiben müsse. "Und wenn Sie mit einem starken und einfachen ich muß dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit."
An dieser einfachen, klaren Rilke-Formel hat sich in den folgenden 110 Jahren nichts geändert. Der Dichter, der ihm damals schrieb, hieß Franz Xaver Kappus, und er war so stolz auf Rilkes Antwort, dass er sofort zurückschrieb und darüber ganz die Botschaft überlas, die ihm dieser so höflich überbracht hatte: dass er, Kappus, wohl kein Dichter sei. Dass seine Kunst, wenn sie nicht einer inneren Notwendigkeit entspringe, keine wahre Kunst sei, dass ein Dichter, der sein Fortschreiben vom Urteil eines anderen Dichters abhängig mache, kein wahrer Künstler sei. Keiner, auf den es ankomme.
Ja, das ist pathetisch und altmodisch und übertrieben - und doch genau so wahr. Es muss einfach um alles gehen in der Literatur, es muss alles gewagt werden. Und das kann dann misslingen, halb gelingen, kann ein Versuch bleiben, aber man muss das Risiko spüren beim Lesen, das Risiko, das der Künstler eingegangen ist beim Schreiben. Vielleicht gilt das heute sogar noch mehr als vor hundert Jahren, in einer Welt, die so übervoll ist mit Meinungen, Kommentaren, Geschichten, Berichten aus jedem, jedem, jedem Leben.
"Nachhinein" heißt das Buch von Lisa Kränzler, um das es hier geht. Es ist die Geschichte zweier Freundinnen, kindergartenklein, als sie sich kennenlernen, lieben lernen, füreinander alles sind, und am Ende des Buches sind sie erwachsen, zornig und allein. Es ist ein Buch über die Macht der Erinnerung, der man nicht entkommen kann, ein Buch über das Mitleid als echtes Mitleiden mit allen Konsequenzen, ein Buch über Armut und Reichtum, über das Wachsen einer künstlerischen Leidenschaft und eine Gewalt, die dieses Wachsen jäh unterbricht.
Zwei Mädchen, ihre Namen lauten irgendwie: "JasminCelineJustine" die eine, "LottaLuisaLuzia" die andere, ihre äußeren Konturen verschwimmen, der Kern ihrer Persönlichkeit tritt mit jeder Seite klarer und härter zutage. Sie wohnen in einem kleinen Dorf, leben in derselben Straße, das eine Elternhaus ist reich und prächtig, das andere arm, klein, sorgenvoll. Das Geld spielt keine Rolle, wenn man klein ist, in dieser engen Welt. Es ist ja lächerlich, das Geld, der Reichtum, auf die Freundschaft kommt es an. Selbst dass man nicht die gleiche Leidenschaft teilt, ist nicht von Gewicht. Es kommt auf das Suchen an, die Intensität des Suchens, das Gefühl des Mangels, des Ungenügens, der Sehnsucht nach dem ganz anderen, jenseits der Welt, so wie sie heute ist: "Wonach wir suchen und was wir finden, sitzt auf entgegengesetzten Polen. Während JasminCelineJustine auf der Suche nach Gesellschaft, Zerstreuung und Vergessen jener skrupellosen Kämpfergemeinschaft beitritt, strebe ich einem Punkt entgegen, den ich in den tiefsten Schichten meines Selbst vermute. Nichts und niemand will ich treffen als diesen Punkt, der die Überraschung, die Neuerung ermöglicht. Was ich spielend ans Tageslicht befördere, klingt für mich allein. Ich spüre keinerlei Sehnsucht nach Zugehörigkeit zur Außenwelt oder irgendwelchen anderen, virtuellen Welten."
Die eine verliert sich in intensivsten Computerspielen, die andere im Klavierspiel. Beide suchen eine Freiheit, finden sie für Tage, Wochen, Monate, bis sie mit dem Kopf an Regeln stoßen. Regeln der Welt. Das Computerspiel endet an recht eng gesteckten Grenzen und lässt sich nicht erweitern, nicht umprogrammieren, das Klavierspiel muss irgendwann Noten folgen, so wollen es die Eltern, so will es die Lehrerin, so fordert es die genormte Welt: "Das Übersehen eines einzigen Punktes galt bereits als ,Fehler'." Und "ob sich die fehlerhafte Variante, die verspielte Note, eleganter, lustiger, schräger, schiefer oder einfach nur interessanter anhörte als die vom Buch befohlene Variante, spielte dabei keine Rolle". Kindliches Einfinden in die Kästchenwelt des Größerwerdens. Eine Zeitlang ist das harmlos schön. Wie die Klavierrebellin, nachdem sie in einer Glenn-Gould-Biographie gelesen hat, sich doch bereitfindet, an einem Musikwettbewerb teilzunehmen, wenn sie nur ihren eigenen Hocker mitnehmen und sich auch sonst Glenn-Gould-haft geben darf. Wie sie also in der Nachfolge eines Helden des Eigensinns sich doch einbinden lässt ins Regelwerk der Welt. Oder auch in "den Unsinn der Erwachsenen", wie sie es nennt.
Es kommt dann immer wieder zu irre schönen Glücksmomenten, im Wald zum Beispiel, rennend, schauend, jetztbeglückt oder lachend mit der Freundin, "die Bäuche von wahnsinniger Freude wundgelacht", oder auch immer mal sehr kitschbereit, den Himmel beschreibend, liegend, am See: "Auf dem Zeltdach unseres, von heiligen Händen aus den Blütenblättern gigantischer Enziane genähten, grellen blauen Wunders."
Doch dann ist Schluss mit schönen Wundern in Blau. Das Leben schlägt zu. Und zwar zunächst komplett und vollkommen ungerecht nur auf der einen Seite des Freundschaftsdoppels, der Seite der Armut. Die eine verbringt den kompletten Sommer in der Sonne Spaniens, die andere im Schimmel ihres kleinen Zimmers, es folgen Gymnasium und neue Freunde für die eine, Steckenbleiben, Ärger, Hängenlassen für die andere. Lisa Kränzler beschreibt die Kleinigkeiten und das große Ganze der verdammten alltäglichen Ungerechtigkeit: dass einige Menschen in einem See von Geld auf die Welt kommen und ein Leben der Möglichkeiten sich sonnig vor ihnen ausbreitet, während die anderen in der Enge leben, Eltern haben, die den ganzen Tag für beinahe nichts arbeiten und bitter werden, mit jedem Tag bitterer, weil sie wissen, dass da nichts mehr kommt im Leben als ein Meer von Arbeit für immer und das Geld trotzdem für gar nichts reicht. Und für die Kinder wird es auch nicht besser. Kreislauf der Armut, enge Welt.
"Nachhinein" ist ein Sozialroman, müsste man eigentlich sagen, wenn das nicht so grau und altmodisch klingen würde. Es ist ein Roman, der aus der Empörung über die scheinbar unverrückbar schlechte Einrichtung der Welt seine Energie und seine Wut bezieht. Armut - das ist ja sonst eher nicht so ein Thema in der deutschen Literatur der Gegenwart. Ist ja auch etwas unglamourös, unspektakulär und dumpf und ausweglos. Aber es ist das Thema unserer Zeit. Einer Zeit, in der auch in den reichsten Ländern der Welt einem großen Teil der Bevölkerung ein menschenwürdiges Leben nicht möglich ist, weil es von Arbeit verstellt ist, die minimal vergütet wird und alle Lebenszeit und Lebensenergie auffrisst. Lisa Kränzler schreibt aus dem Zentrum dieser Welt, aus einem dieser Leben.
Kränzler ist 29 Jahre alt, lebt in Freiburg, sie ist Malerin, hat an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe bei Anselm Reyle studiert, war Meisterschülerin bei Tatjana Doll. Vor einem Jahr erschien ihr erster Roman "Export A", über das Austauschjahr einer 16-jährigen Schülerin in Kanada, in Drogenrausch und Frost und Einsamkeit, der war noch etwas stark gewollt, etwas schwach geschrieben, einfach etwas übertrieben vielleicht. "Nachhinein" ist ruhiger, entschlossener, dunkler. Manche Szenen lesen sich - das liegt jetzt nahe, ist aber wirklich so - wie gemalt, großflächig, schwungvoll, in intensiven Farben. Am stärksten ist das Buch, wenn sie sich nicht auf Effekte verlässt, sondern vorsichtig die Folgen eines Traumas erzählt. Das Trauma, von dem sie berichtet, ist die Gewalt, die JasminCelineJustines Vater seiner Tochter antut. Es ist grauenvoll. Kränzler erzählt diesen Schrecken etwas zu anschaulich, beinahe voyeuristisch. Vielleicht traut sie in diesen Passagen ihrer eigenen Kunst noch nicht genug, glaubt, in kräftigen Farben ausmalen zu müssen, was in Andeutungen und Schattenrissen weit effektvoller geschildert werden könnte. Es gehört aber auch zum künstlerischen Risiko, das Kränzler auf jeder Seite dieses erschütternden Buches spürbar eingeht, dass man mal abstürzt, dass etwas misslingt. Aber schon auf den nächsten Seiten ist sie wieder auf der Höhe ihrer Kunst.
Es liegt ein schweres Schicksalsgewicht auf den Schultern der Ärmeren. Die Glücksfreundin ahnt das meiste davon, wird beinahe selbst Opfer der fremden Vatergewalt und kann entkommen, denn sie wohnt nicht im Elterngefängnis der Armut. Sie kann ins Freie und schämt sich ihres Glückes dort, schämt sich des Unglücks der Freundin. Schämt sich, dass sie nicht helfen kann. Was ist Freundschaft? Was ist Mitleid? Am Ende will JasminCelineJustine ein echtes Mitleiden der sich entfernenden Freundin erzwingen. Beide hetzen durch den Wald, ihren Wald der Freundschaft, auf der Flucht vor dem Vater des Grauens verletzt sich das Klavierglückskind so schwer an der Hand, dass sie sie nie wieder gebrauchen kann. Die Kunst ist vorbei, das Klavierspiel ist vorbei für immer. Und was kommt jetzt?
Flucht vor der Erinnerung. Doch "mein inneres Auge hat kein Lid", heißt es im Roman. Die kaputte Hand ist immer da und mit ihr die Erinnerung an die Möglichkeiten von Kunst, die ihr nun für immer verschlossen sind. Stattdessen: "Mein Zorn hat Zukunft. Er ist definitiv." Stattdessen: eine andere Kunst. Zum Beispiel Literatur.
Wir können davon ausgehen, dass Rainer Maria Rilke eine andere künstlerische Notwendigkeit vor Augen hatte, als er an Franz Xaver Kappus schrieb. Die Kunst, die Literatur, die Menschen von heute werden von anderen Notwendigkeiten getrieben. Der Dichter Kappus ist heute längst vergessen. Sein berühmtestes Werk sind die Briefe Rilkes an ihn, die er wenige Jahre nach dem Tod des verehrten Dichters als Buch herausgegeben hat.
"Versuchen Sie, wie ein erster Mensch, zu sagen, was Sie sehen und erleben und lieben und verlieren", hatte Rilke ihm noch geraten, und dass man nicht die Gegenwart anklagen dürfe, wenn man das Gefühl habe, sie sei zu armselig, um sie zu beschreiben. Stoff für Literatur sei auch im Gefängnis mit nackten Wänden, schrieb Rilke, denn auch dort habe er ja immer noch seine Kindheit, "diesen köstlichen, königlichen Reichtum, dieses Schatzhaus der Erinnerungen". Nicht für jeden war die Kindheit von königlichem Reichtum geprägt. Die Notwendigkeit zu erzählen muss dadurch nicht kleiner werden. Im Gegenteil. Auch davon erzählt Lisa Kränzlers Roman.
VOLKER WEIDERMANN
Lisa Kränzler: "Nachhinein". Roman. Verbrecher-Verlag, 270 Seiten, 22 Euro
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