"Wir stürzen ab, betet für mich" - diese SMS erhält ein Vater von seiner Tochter mitten in der Nacht, in einem Hotelzimmer in Nordamerika. Was wie ein grausamer Scherz klingt, erweist sich als der modernste aller Albträume: Selbst aus todgeweihten Flugzeugen können wir noch Nachrichten empfangen, Nachrichten an alle. Mit diesem Donnerschlag beginnt Michael Kumpfmüllers Roman, der die Politik zurück in die deutsche Literatur bringt. Denn der Vater, der diese Nachricht bekommt, ist Innenminister eines westeuropäischen Landes, das gerade in eine schwere Krise stürzt. Streiks, soziale Unruhen und diffuse terroristische Bedrohungen lassen Minister Selden keine Zeit für Trauer. In "Nachricht an alle" treibt Michael Kumpfmüller eine Sonde durch die Schichten unserer westlichen Demokratien. Nicht nur Seldens privates und politisches Schicksal interessieren ihn, sondern die monströsen Mechanismen innerer Sicherheit, die gegenseitige Durchdringung von privater und öffentlicher Sphäre. Dazu gehört auch das dröhnende Räsonnement von Medien, Experten und vermeintlicher Volkes Stimme, das als Hintergrundrauschen den politischen Diskurs begleitet und aushöhlt. Kumpfmüller gelingt ein flirrendes Porträt der Gleichzeitigkeiten: Während in den klimatisierten Büros der Eliten Entscheidungen getroffen werden, beginnt sich unten in den Großstadtschluchten, an den heißen Rändern der Gesellschaft, eine Gruppe von Menschen zu regen, die auf den großen Schlag wartet. So kenntnisreich, packend und klug ist in der deutschen Literatur noch nicht über Politik und Gesellschaft geschrieben worden.
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»[...] ein Beispiel dafür, dass die jüngste deutsche Literatur wieder politisch wird. Dass Kumpfmüller [...] eine überzeugende Sprache gefunden hat, macht seinen Roman zu einem bemerkenswerten Ereignis [...].« Michael Opitz Deutsche Welle
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Als recht gelungene Beschreibung des Zustand der Politik, die sich selbst stets als Zentrum, die Welt und die Gesellschaft jedoch nur noch als Staffage begreifen würde, empfand Rezensent Roman Bucheli diesen Roman, der ihm gleichzeitig ein recht anschauliches Szenario für das viel beschworene "Ende der Politik" geboten hat. Auch technisch überzeugt ihn das Buch mit seinem geschickt konstruierten "vielstimmigen und vielschichtigen" Erzählbogen, aus dem er vor allem das Motiv der Ohnmacht immer "drückender" hervortreten sieht. Allerdings hätte er sich mitunter ein wenig analytische Tiefenschärfe gewünscht. Nicht nur die subtile Draufsicht auf die Verhältnisse, sondern sozusagen auch ihre Durchdringung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2008Der Minister als Mensch und großer Kümmerer
Aliens im Raumschiff Berlin: Michael Kumpfmüller versucht vergeblich, den politischen Roman wiederzubeleben / Von Martin Halter
Ein Film, heißt es in Hollywood, muss mit einem Erdbeben beginnen und sich dann langsam steigern. "Nachricht an alle" beginnt nicht schlecht mit einem Flugzeugabsturz. "Wir stürzen ab", schreibt Anisha in ihrer SMS, "betet für mich." Selden, ihr Vater, ist außer sich, schon weil ein Terroranschlag ihn auch als Innenminister träfe. Aber es war nur ein normales Unglück, und so macht er bald wieder Politik als Beruf, Berufung und Routine: Sitzungen, Interviews, Beratungen mit seinem persönlichen Referenten Per und seinem Parteichef Nick, Loyalitäten ausloten, Intrigen kontern, Lunten austreten, Aufstände niederschlagen. "Krawalle belebten ihn. Er langweilte sich nicht mehr."
Unklar bleibt nur, wie eine bizarre Regenbogenkoalition aus streikenden Arbeitern, Studenten, Unterschichten-Mob, Aktionskünstlern, islamischen Kofferbombern und Globalisierungskritikern den Staat fast an den Rand des Zusammenbruchs bringen konnte. Als die Revolution plötzlich verebbt, muss Selden sich einen anderen Kick suchen. Hannah, eine der wenigen verantwortungsvollen Journalistinnen unter lauter Aasgeiern und Besserwissern, bietet sich als Ersatz für die schwedische Geliebte und die Ehefrau an. Britta sitzt einsam und verbittert zu Hause und reagiert Klimakterium und Ehefrust mit spitzen Bemerkungen beim Frühstück und Malen ab.
Deutsche Minister wollen sich in Selden begreiflicherweise ungern wieder erkennen. Wolfgang Schäuble sprach von Klischees, Gerhard Baum und Joschka Fischer vermissten bei Kumpfmüllers Hauptfigur die Visionen. Aber braucht ein Funktionsträger der Macht Visionen? Selden ist kein Unmensch; er ist klug, diskret, kompetent. Kumpfmüller hat spürbar Respekt vor den Männern, die sich für unsere Bequemlichkeit und Sicherheit den "Arsch aufreißen", Seele, Leib und Leben hingeben, während die Klugscheißer und Empörungsathleten in den Redaktionen nur Maulaffen feilhalten.
Gut, der Mann kann mit Eisprung und Schwangerschaft nicht viel anfangen und hält sich Menschen und Realität mit Leibwächtern, Bunkern und Panzerglas vom Leib. Manchmal weiß er selber nicht mehr, ob er noch am Leben oder selber schon Panzer ist. Aber er ist auch ein "großer Kümmerer": Während "die da unten" immer nur fragen, was der Sozialstaat für sie tun kann, tut Selden etwas für sein Land. Selbst wenn man ihm dafür Bierdosen und böse Worte an den Kopf wirft und Mania, eine psychisch labile Autonome, die sich für die heilige Maria hält, ein Messer in den Hals rammt.
Es gibt vermutlich kein Land, in dem die Politiker so einsilbig geschlechtslose Namen wie Per, Thor, Nick, Beck oder Holms tragen; selbst die Untergrundkämpfer nennen sich Rubber, Tick, Trick und Track. Kumpfmüller wollte einen politischen Roman von hier und heute schreiben, oder sagen wir: einen über Struktur und Personal postheroischer Politik, und das konnte nach Lage der Dinge im Raumschiff Berlin nur ein Ufo mit vage leuchtenden Außerirdischen und Comic-Figuren werden.
Weil es kein Schlüsselroman werden durfte, passen nun alle und kein Schlüssel. Selden trägt Züge von Sarkozy (brennende Autos als Lebenselixier) und Schäuble (Terrorismus als politische Obsession und persönliches Trauma); mit Schily teilt er die linke Vergangenheit, mit Lafontaine die Narbe am Hals, mit Schröder die Brioni-Anzüge. Dennoch bleibt er so unfassbar diffus, dass er nicht mal beim Sex weiß, ob er drinnen oder draußen ist. Selden ist der ideelle Gesamtpolitiker, ein Frankenstein-Monster, zusammengeflickt aus Leichenteilen und Zitaten, künstlich belebt durch das Scheinwerferlicht der Kameras und die galvanischen Ströme der Talkshows.
Kumpfmüller hat für seinen Roman Sabine Christiansen und Anne Will zugeschaut, Politiker interviewt, Luhmann und Machiavelli gelesen. Die Recherchen kommen mehr der Beschreibung der Kulissen, der Analyse der Mechanismen zugute als der Figurenzeichnung. Manchmal liest sich das wie ein "Zeit"-Leitartikel über Legitimitätskrisen der Demokratie im Medienzeitalter. Insofern ist "Nachricht an alle" tatsächlich der politische Roman des einundzwanzigsten Jahrhunderts: Nicht so hoffnungslos romantisch wie Koeppens "Treibhaus", nicht so moralisch wie Böll oder Grass, aber auch nicht so aufregend schnell und messerscharf wie vor kurzem Ulrich Peltzers "Teil der Lösung".
Wie bei Peltzer und Don DeLillo wird auch in Kumpfmüllers Niemandsland alles Leben vom weißen Rauschen der Medien verschluckt und von subversiven Müll- und Happeningspezialisten wieder ausgegraben: So verbrennt sich eine Aktionskünstlerin selber, um das endlose Spiel der leeren Zeichen mit einer authentischen Geste zu unterbrechen; aber selbst ihr Tod ist nur ein Zitat. Selbst der Asket DeLillo konnte zuletzt in "Falling Man" die Simulationen symbolischer Politik kaum noch in Handlung, Anschauung und Erzählung übersetzen. Umso mehr gilt das für einen eher barocken Autor wie Kumpfmüller, der seinen Bericht aus der Werkstatt der Macht gern mit Sätzen wie "Etwas ging nicht weit genug", "Ein schwarzes Loch war eine abstrakte Tatsache" oder "Alles war Struktur, Kampf gegen Windmühlen" schmückt.
Kumpfmüller beschreibt nüchtern, sachlich und kühl eine kalte, sachliche Welt, in der die Wirklichkeit, mit Brecht zu sprechen, längst "in die Funktionale gerutscht" ist. Liebe und Tod sind nur kleine Störungen in einem ort- und zeitlosen Betriebssystem. Vielleicht funktioniert Politik heute wirklich so. Aber von einem politischen Roman erwartet man doch mehr als Mimikry an die Sprache der Zombies und Aliens in einem unidentifizierbaren Flugobjekt über Berlin.
Michael Kumpfmüller: "Nachricht an alle". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 383 S., geb., 19,95 [Euro].
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Aliens im Raumschiff Berlin: Michael Kumpfmüller versucht vergeblich, den politischen Roman wiederzubeleben / Von Martin Halter
Ein Film, heißt es in Hollywood, muss mit einem Erdbeben beginnen und sich dann langsam steigern. "Nachricht an alle" beginnt nicht schlecht mit einem Flugzeugabsturz. "Wir stürzen ab", schreibt Anisha in ihrer SMS, "betet für mich." Selden, ihr Vater, ist außer sich, schon weil ein Terroranschlag ihn auch als Innenminister träfe. Aber es war nur ein normales Unglück, und so macht er bald wieder Politik als Beruf, Berufung und Routine: Sitzungen, Interviews, Beratungen mit seinem persönlichen Referenten Per und seinem Parteichef Nick, Loyalitäten ausloten, Intrigen kontern, Lunten austreten, Aufstände niederschlagen. "Krawalle belebten ihn. Er langweilte sich nicht mehr."
Unklar bleibt nur, wie eine bizarre Regenbogenkoalition aus streikenden Arbeitern, Studenten, Unterschichten-Mob, Aktionskünstlern, islamischen Kofferbombern und Globalisierungskritikern den Staat fast an den Rand des Zusammenbruchs bringen konnte. Als die Revolution plötzlich verebbt, muss Selden sich einen anderen Kick suchen. Hannah, eine der wenigen verantwortungsvollen Journalistinnen unter lauter Aasgeiern und Besserwissern, bietet sich als Ersatz für die schwedische Geliebte und die Ehefrau an. Britta sitzt einsam und verbittert zu Hause und reagiert Klimakterium und Ehefrust mit spitzen Bemerkungen beim Frühstück und Malen ab.
Deutsche Minister wollen sich in Selden begreiflicherweise ungern wieder erkennen. Wolfgang Schäuble sprach von Klischees, Gerhard Baum und Joschka Fischer vermissten bei Kumpfmüllers Hauptfigur die Visionen. Aber braucht ein Funktionsträger der Macht Visionen? Selden ist kein Unmensch; er ist klug, diskret, kompetent. Kumpfmüller hat spürbar Respekt vor den Männern, die sich für unsere Bequemlichkeit und Sicherheit den "Arsch aufreißen", Seele, Leib und Leben hingeben, während die Klugscheißer und Empörungsathleten in den Redaktionen nur Maulaffen feilhalten.
Gut, der Mann kann mit Eisprung und Schwangerschaft nicht viel anfangen und hält sich Menschen und Realität mit Leibwächtern, Bunkern und Panzerglas vom Leib. Manchmal weiß er selber nicht mehr, ob er noch am Leben oder selber schon Panzer ist. Aber er ist auch ein "großer Kümmerer": Während "die da unten" immer nur fragen, was der Sozialstaat für sie tun kann, tut Selden etwas für sein Land. Selbst wenn man ihm dafür Bierdosen und böse Worte an den Kopf wirft und Mania, eine psychisch labile Autonome, die sich für die heilige Maria hält, ein Messer in den Hals rammt.
Es gibt vermutlich kein Land, in dem die Politiker so einsilbig geschlechtslose Namen wie Per, Thor, Nick, Beck oder Holms tragen; selbst die Untergrundkämpfer nennen sich Rubber, Tick, Trick und Track. Kumpfmüller wollte einen politischen Roman von hier und heute schreiben, oder sagen wir: einen über Struktur und Personal postheroischer Politik, und das konnte nach Lage der Dinge im Raumschiff Berlin nur ein Ufo mit vage leuchtenden Außerirdischen und Comic-Figuren werden.
Weil es kein Schlüsselroman werden durfte, passen nun alle und kein Schlüssel. Selden trägt Züge von Sarkozy (brennende Autos als Lebenselixier) und Schäuble (Terrorismus als politische Obsession und persönliches Trauma); mit Schily teilt er die linke Vergangenheit, mit Lafontaine die Narbe am Hals, mit Schröder die Brioni-Anzüge. Dennoch bleibt er so unfassbar diffus, dass er nicht mal beim Sex weiß, ob er drinnen oder draußen ist. Selden ist der ideelle Gesamtpolitiker, ein Frankenstein-Monster, zusammengeflickt aus Leichenteilen und Zitaten, künstlich belebt durch das Scheinwerferlicht der Kameras und die galvanischen Ströme der Talkshows.
Kumpfmüller hat für seinen Roman Sabine Christiansen und Anne Will zugeschaut, Politiker interviewt, Luhmann und Machiavelli gelesen. Die Recherchen kommen mehr der Beschreibung der Kulissen, der Analyse der Mechanismen zugute als der Figurenzeichnung. Manchmal liest sich das wie ein "Zeit"-Leitartikel über Legitimitätskrisen der Demokratie im Medienzeitalter. Insofern ist "Nachricht an alle" tatsächlich der politische Roman des einundzwanzigsten Jahrhunderts: Nicht so hoffnungslos romantisch wie Koeppens "Treibhaus", nicht so moralisch wie Böll oder Grass, aber auch nicht so aufregend schnell und messerscharf wie vor kurzem Ulrich Peltzers "Teil der Lösung".
Wie bei Peltzer und Don DeLillo wird auch in Kumpfmüllers Niemandsland alles Leben vom weißen Rauschen der Medien verschluckt und von subversiven Müll- und Happeningspezialisten wieder ausgegraben: So verbrennt sich eine Aktionskünstlerin selber, um das endlose Spiel der leeren Zeichen mit einer authentischen Geste zu unterbrechen; aber selbst ihr Tod ist nur ein Zitat. Selbst der Asket DeLillo konnte zuletzt in "Falling Man" die Simulationen symbolischer Politik kaum noch in Handlung, Anschauung und Erzählung übersetzen. Umso mehr gilt das für einen eher barocken Autor wie Kumpfmüller, der seinen Bericht aus der Werkstatt der Macht gern mit Sätzen wie "Etwas ging nicht weit genug", "Ein schwarzes Loch war eine abstrakte Tatsache" oder "Alles war Struktur, Kampf gegen Windmühlen" schmückt.
Kumpfmüller beschreibt nüchtern, sachlich und kühl eine kalte, sachliche Welt, in der die Wirklichkeit, mit Brecht zu sprechen, längst "in die Funktionale gerutscht" ist. Liebe und Tod sind nur kleine Störungen in einem ort- und zeitlosen Betriebssystem. Vielleicht funktioniert Politik heute wirklich so. Aber von einem politischen Roman erwartet man doch mehr als Mimikry an die Sprache der Zombies und Aliens in einem unidentifizierbaren Flugobjekt über Berlin.
Michael Kumpfmüller: "Nachricht an alle". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 383 S., geb., 19,95 [Euro].
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