Strittmatter nannte seine Tagebücher eine "kleine Heimat". Er wollte mit ihnen eine "zweite Spur" seines Lebens legen - für die Nachwelt ein Glücksumstand. Akribisch notierte er in 235 Heften sein "Tagwerk" sowie Erlebnisse, Begegnungen und Naturbeobachtungen. Beeindruckend ist, wie Strittmatter sich zum kritischen Kommentator der Zeitereignisse entwickelte. Die wachsende Kluft zwischen Anspruch und Realität in der DDR-Politik ließ ihn vom prinzipiellen Befürworter zum unabhängigen Denker werden, der sich vom Marxismus abwandte. So schonungslos, wie er andere beschrieb, so streng war er auch mit sich selbst. Weder verschwieg er seinen Hang zum Jähzorn noch die Verzweiflung beim Schreiben.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.06.2012Pflugschar und Parteiarbeit
Halb Funktionär, halb Bauer: Die jetzt veröffentlichten Tagebücher der Jahre 1954 bis 1973 zeigen den Schriftsteller Erwin Strittmatter als unglücklich verstricktes Doppelwesen
Die Tagebücher waren seine „kleine Heimat“, ein „tägliches Kassabuch“ und eine „zweite Spur“, die Erwin Strittmatter neben dem Werk auslegte. Sie sollten zunächst ihm selbst, dann aber auch der Nachwelt Auskunft geben auf die Frage, welche Stellung in der Welt er bezog, Tag für Tag. Sag mir, wo du stehst, Genosse: Darauf war in der DDR nicht ohne Risiko zu antworten. Die eigenen, durchaus wandelbaren Sichtweisen mussten immer wieder mit der schwankenden Parteilinie in Übereinstimmung gebracht werden. Und wenn das nicht gelang – und es gelang ja nur den vernageltsten Köpfen – mussten die Abweichungen in den Alltag integriert werden. Wegzugehen oder aus dem Menschheitsprojekt Kommunismus auszutreten, wäre für Erwin Strittmatter nicht in Frage gekommen.
Wie zermürbend dieser Anpassungs- und Überprüfungsdruck war, bezeugt die Lebensspur, die er in den Tagebüchern hinterließ. Sie zeigen einen Menschen auf seinem inneren Kampfplatz und in all seinen verzweifelten, zerreißenden Widersprüchen. Der Wunsch, mit all den Dogmatikern und Holzköpfen nichts zu tun zu haben, ist ebenso ausgeprägt wie das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung, und Repräsentation. Strittmatter war immer beides: Teilhaber und Einzelgänger, Opportunist und Opponent, Arbeiter und Beobachter.
Vor allem aber war er der Bestsellerautor der DDR, dessen Bücher – ein wiederholtes Muster seit dem Bauern-Roman „Ole Bienkopp“ (1963) – zunächst mit Vorbehalten und Zensur zu kämpfen hatten, um später dann mit dem Nationalpreis ausgezeichnet zu werden. Strittmatter war ein unbequemer Parteigänger, bedingungslos solidarisch, aber ausgestattet mit beharrlichem Eigensinn. Er war hoher Funktionär des Schriftstellerverbandes, aber er war es, wie nun den Tagebüchern zu entnehmen ist, höchst widerwillig und litt darunter bis ins Körperliche hinein. Er wurde häufig krank, um sich zu entziehen.
Doch ebenso heftig litt er unter sich selbst. Er neigte zum Jähzorn, schlug die Söhne oder die geliebten Ponys und schämte sich anschließend dafür – bis hin zu Depression und Selbstmordphantasien. Er war nicht leicht zu ertragen. Auch nicht für seine Frau Eva, die ihm über alle Krisen hinweg zur Seite stand. Nicht nur einmal ist von einem „Dämon“ die Rede, der in ihm wüte und von dem er nicht sagen konnte, woher er kam.
488 „Groschenhefte“, Schulhefte im DIN-A 6 Format, hat Strittmatter im Lauf der Jahre vollgeschrieben. Was nun unter der Herausgeberschaft von Almut Giesecke rechtzeitig zu seinem hundertsten Geburtstag am 14. August erscheint, ist eine Auswahl aus den Jahren 1954 bis 1973. Ein zweiter Teil wird folgen. Weggelassen sind alle literarischen Vorarbeiten, die in Buchpublikationen eingingen, alles personenrechtlich Problematische, Wiederholungen und Ausschweifungen – sehr viel also. Was stehen blieb, ist aber genug, um diesem störrischen Menschen nahezukommen. Die für Juli angekündigte Strittmatter-Biografie der Historikerin Annette Leo wird eher den äußeren, aus Akten und Archiven belegbaren Lebenslauf rekonstruieren und sich auf die Zeiten konzentrieren, über die Strittmatter in den Tagebüchern schweigt – so über seine Rolle im Krieg als Schreiber eines Regiments, das zur Partisanenbekämpfung in Griechenland eingesetzt wurde. Keine Kugel habe den Lauf seines Gewehrs verlassen: Dieser Satz, den er gegenüber Parteioffiziellen äußerte, als er zum Sekretär des Schriftstellerverbandes aufsteigen sollte, ist auch in den Tagebüchern zu finden.
Der Beginn der Aufzeichnungen fällt mit dem Erwerb eines Hofes im Brandenburgischen Dollgow-Schulzenhof bei Gransee zusammen, den Strittmatter zusammen mit seiner dritten Ehefrau Eva im Juli 1954 als bleibenden Wohnsitz bezog. Was er zuvor an Tagebuchartigem schrieb, sind eher verstreute Versuche. Erst als er seinen festen Lebensort auf dem Land gefunden hatte, wurde ihm das Tagebuch zur Notwendigkeit. Es beginnt mit einer Inventurliste, die sich fast so liest wie das berühmte Gedicht von Günter Eich: „Nach Schulzenhof mitzunehmen: Lampenkabel, Sämereien, Geld, Fahrradscheine, Wasch- und Rasierzeug, Altbrot, Kater, Decke.“
Der Schulzenhof und Berlin, wo die Strittmatters eine Wohnung in der Stalin- und späteren Karl-Marx-Allee behielten, sind die Pole, zwischen denen dieses Leben sich abspielt, sieht man von den zahlreichen Reisen in die Sowjetunion und befreundete sozialistische Länder ab. Das Verhältnis von Natur und Geschichte ist das Grundthema seiner Tagebücher wie seiner Existenz. Der Rückzug aufs Land, wo er Ponys züchtete und den Acker mit dem Pferdepflug bearbeitete, war die Bedingung seiner Teilhabe am städtischen, von Parteiarbeit und Schriftstellerversammlungen geprägten Leben. Beobachtungen über die Flugformation der Wildgänse stehen neben Bemerkungen zur Betriebsgruppensitzung.
Mit dem Misstrauen des Autodidakten begegnet er denen, die er abschätzig „Intellektuelle“ nennt. Unter den „Parteikatholiken“ ist er der Unorthodoxe. Doch die Welt der Funktionäre umzupflügen, gelingt ihm nicht. Er wird selbst zu dem, was er hasst, zum Funktionär, muss durch diese Existenzweise hindurch, um Distanz gewinnen zu können. Die Ironie, mit der er Parteiversammlungen und Auftritte des karikaturhaft scharf gesehenen Kleinbürgerdiktators Walter Ulbricht kommentiert, hilft ihm dabei.
Die Rechtfertigungsleistungen, die er vollbringen muss, sind beträchtlich. So war Strittmatter im Herbst 1956 zunächst entsetzt über die Verhaftungen von Wolfgang Harich und Walter Janka, den er für einen „guten Kommunisten“ hielt. Ein paar Wochen später aber notierte er mitleidlos: „Dummheit musste bestraft werden.“ Da glaubt er dann tatsächlich an eine Verschwörung und verhinderte Umsturzpläne. Auch den Mauerbau verteidigte er als ökonomisch und politisch notwendige Abwehrmaßnahme. Auch literaturpolitisch schlug er sich in diesen Jahren auf die Seite der dogmatischen Hardliner des sozialistischen Realismus. Aber lange hielt er das nicht durch, wurde krank und versuchte sich möglichst rauszuhalten.
Die Natur erlöste von solchen Konflikten. Das Zusammennageln einer Hühnerstalltür schaffte größere Befriedigung als eine Rede vor dem Schriftstellerverband. Natur erzeugte so etwas wie Ergriffenheit. „In letzter Zeit rühren mich Pflanzen, Zustände und Stimmungen, wie sie sich in der freien Landschaft her- und darstellen“, notierte er als Sechzigjähriger im Jahr 1972. „Wenn ich diese Rührung früher bei Thoreau oder Hamsun gewahrte, hielt ich sie für ‚Literatur‘.“ Dieses Umschwenken vom Gemachten zum Gewachsenen ist symptomatisch. Goethe, Rilke, Shakespeare, Schopenhauer und Buddha nennt er, wenig parteikonform, im selben Jahr als seine wichtigsten Lebensautoren – vor allem aber Tolstoi. Bertolt Brecht, sein Lehrmeister aus den fünfziger Jahren, gehörte nicht dazu.
An Brecht kritisierte er inzwischen, was er auch an sich selbst hätte kritisieren können: Dass er aus seinen Möglichkeiten zu wenig machte, zu feige war, Kritik nur intern übte. Über Brecht erzählt Strittmatter eine hübsche Anekdote: Brecht, gefolgt von der Karawane seiner Schüler und Bewunderer, spazierte durch den Garten seiner Villa in Berlin Weißensee. Jemand fragte ihn nach seinem Verhältnis zur Natur und gab ihm damit die Gelegenheit, seine Originalität zu demonstrieren. „Natur ist noch nicht fertig“, sagte Brecht in der überlegenen Gewissheit des Meisters, der davon ausgehen konnte, einer seiner Adepten werde das Aperçu schon aufschreiben für die Nachwelt. Erklärungen oder Gegenfragen habe es nicht gegeben, so Strittmatter weiter, „auch von mir nicht. Ich dachte nur insgeheim: Red was du willst, Brecht, mein Verhältnis zur Natur wirst du mir nicht zerstören!“
Für Brecht sprach der Charakter des Unfertigen wohl gegen die Natur. Schließlich gab es ja den Sozialismus, der programmgemäß in die Vollkommenheit des Kommunismus münden würde. Strittmatter erlebte die Natur anders – und er durfte sich im Gegensatz zu den meisten der Berliner Funktionäre hier tatsächlich als Fachmann fühlen. Er erlebte die Natur als ewigen Kreislauf der Jahre und Jahreszeiten mit all den zugehörigen Arbeiten von der Saat bis zur Ernte. Und wenn sich nach Regengüssen das Wasser „in gleichmäßigen Intervallen gleich Atemzügen in die Erde zurückzog“, dann ahnte er: „Ich stehe der Ewigkeit gegenüber.“
Dieser Lebensrhythmus war mit dem linearen Fortschrittsmodell der Geschichtspragmatiker nicht kompatibel. Doch Strittmatter steckte allzu lange in diesem Widerspruch fest. Immer deutlicher wurde, dass die Verwalter der Zukunft nichts als dumpfe Stagnation zustande brachten. Umso verdächtiger musste sein, wer sich auf die Natur berief. Ein Gespräch über Bäume – undenkbar.
In den 1970er Jahren werden die Einträge im Tagebuch lückenhafter und gehorchen mehr der Pflicht. Da hat es vielleicht seine Notwendigkeit als Ort der Selbstrechtfertigung und Richtungssuche verloren. Denn die Entscheidung ist nun zugunsten der Natur und gegen die Machbarkeit der Weltgeschichte getroffen. Die Menschen machen die Welt nicht, sie bewohnen sie nur. Und wenn der Schriftsteller die Natur betrachtet, dann schaut die Natur auf ihn zurück und macht ihm klar, wie klein er ist. Strittmatter hat das schon früh gewusst, als er im Herbst 1954 notierte: „Beim Holzeinfahren sah ich von einer Höhe auf den großen Thörnsee. Mit seinem gilbenden Schilf und den widerspiegelnden gilbenden Laubbäumen sah er aus wie ein alterndes Auge. Das alternde Auge der Erde.“
JÖRG MAGENAU
ERWIN STRITTMATTER: Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954 -1973. Herausgegeben von Almut Giesecke. Aufbau Verlag, Berlin 2012. 602 Seiten, 24,99 Euro.
„Nach Schulzenhof mitzunehmen:
Lampenkabel, Sämereien, Geld,
Waschzeug, Altbrot, Kater, Decke“
„In letzter Zeit rühren mich
Pflanzen und Stimmungen, wie sie
sich in freier Landschaft herstellen“
Ein Mann von sechzig Jahren, halb Schriftsteller, halb Bauer, sowohl dem Rhythmus der Parteitage wie dem Rhythmus der Jahreszeiten verpflichtet: Erwin Strittmatter 1972 auf seinem Hof in der Nähe von Gransee in Brandenburg.
Foto:bpk/Gerhard Kiesling
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Halb Funktionär, halb Bauer: Die jetzt veröffentlichten Tagebücher der Jahre 1954 bis 1973 zeigen den Schriftsteller Erwin Strittmatter als unglücklich verstricktes Doppelwesen
Die Tagebücher waren seine „kleine Heimat“, ein „tägliches Kassabuch“ und eine „zweite Spur“, die Erwin Strittmatter neben dem Werk auslegte. Sie sollten zunächst ihm selbst, dann aber auch der Nachwelt Auskunft geben auf die Frage, welche Stellung in der Welt er bezog, Tag für Tag. Sag mir, wo du stehst, Genosse: Darauf war in der DDR nicht ohne Risiko zu antworten. Die eigenen, durchaus wandelbaren Sichtweisen mussten immer wieder mit der schwankenden Parteilinie in Übereinstimmung gebracht werden. Und wenn das nicht gelang – und es gelang ja nur den vernageltsten Köpfen – mussten die Abweichungen in den Alltag integriert werden. Wegzugehen oder aus dem Menschheitsprojekt Kommunismus auszutreten, wäre für Erwin Strittmatter nicht in Frage gekommen.
Wie zermürbend dieser Anpassungs- und Überprüfungsdruck war, bezeugt die Lebensspur, die er in den Tagebüchern hinterließ. Sie zeigen einen Menschen auf seinem inneren Kampfplatz und in all seinen verzweifelten, zerreißenden Widersprüchen. Der Wunsch, mit all den Dogmatikern und Holzköpfen nichts zu tun zu haben, ist ebenso ausgeprägt wie das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung, und Repräsentation. Strittmatter war immer beides: Teilhaber und Einzelgänger, Opportunist und Opponent, Arbeiter und Beobachter.
Vor allem aber war er der Bestsellerautor der DDR, dessen Bücher – ein wiederholtes Muster seit dem Bauern-Roman „Ole Bienkopp“ (1963) – zunächst mit Vorbehalten und Zensur zu kämpfen hatten, um später dann mit dem Nationalpreis ausgezeichnet zu werden. Strittmatter war ein unbequemer Parteigänger, bedingungslos solidarisch, aber ausgestattet mit beharrlichem Eigensinn. Er war hoher Funktionär des Schriftstellerverbandes, aber er war es, wie nun den Tagebüchern zu entnehmen ist, höchst widerwillig und litt darunter bis ins Körperliche hinein. Er wurde häufig krank, um sich zu entziehen.
Doch ebenso heftig litt er unter sich selbst. Er neigte zum Jähzorn, schlug die Söhne oder die geliebten Ponys und schämte sich anschließend dafür – bis hin zu Depression und Selbstmordphantasien. Er war nicht leicht zu ertragen. Auch nicht für seine Frau Eva, die ihm über alle Krisen hinweg zur Seite stand. Nicht nur einmal ist von einem „Dämon“ die Rede, der in ihm wüte und von dem er nicht sagen konnte, woher er kam.
488 „Groschenhefte“, Schulhefte im DIN-A 6 Format, hat Strittmatter im Lauf der Jahre vollgeschrieben. Was nun unter der Herausgeberschaft von Almut Giesecke rechtzeitig zu seinem hundertsten Geburtstag am 14. August erscheint, ist eine Auswahl aus den Jahren 1954 bis 1973. Ein zweiter Teil wird folgen. Weggelassen sind alle literarischen Vorarbeiten, die in Buchpublikationen eingingen, alles personenrechtlich Problematische, Wiederholungen und Ausschweifungen – sehr viel also. Was stehen blieb, ist aber genug, um diesem störrischen Menschen nahezukommen. Die für Juli angekündigte Strittmatter-Biografie der Historikerin Annette Leo wird eher den äußeren, aus Akten und Archiven belegbaren Lebenslauf rekonstruieren und sich auf die Zeiten konzentrieren, über die Strittmatter in den Tagebüchern schweigt – so über seine Rolle im Krieg als Schreiber eines Regiments, das zur Partisanenbekämpfung in Griechenland eingesetzt wurde. Keine Kugel habe den Lauf seines Gewehrs verlassen: Dieser Satz, den er gegenüber Parteioffiziellen äußerte, als er zum Sekretär des Schriftstellerverbandes aufsteigen sollte, ist auch in den Tagebüchern zu finden.
Der Beginn der Aufzeichnungen fällt mit dem Erwerb eines Hofes im Brandenburgischen Dollgow-Schulzenhof bei Gransee zusammen, den Strittmatter zusammen mit seiner dritten Ehefrau Eva im Juli 1954 als bleibenden Wohnsitz bezog. Was er zuvor an Tagebuchartigem schrieb, sind eher verstreute Versuche. Erst als er seinen festen Lebensort auf dem Land gefunden hatte, wurde ihm das Tagebuch zur Notwendigkeit. Es beginnt mit einer Inventurliste, die sich fast so liest wie das berühmte Gedicht von Günter Eich: „Nach Schulzenhof mitzunehmen: Lampenkabel, Sämereien, Geld, Fahrradscheine, Wasch- und Rasierzeug, Altbrot, Kater, Decke.“
Der Schulzenhof und Berlin, wo die Strittmatters eine Wohnung in der Stalin- und späteren Karl-Marx-Allee behielten, sind die Pole, zwischen denen dieses Leben sich abspielt, sieht man von den zahlreichen Reisen in die Sowjetunion und befreundete sozialistische Länder ab. Das Verhältnis von Natur und Geschichte ist das Grundthema seiner Tagebücher wie seiner Existenz. Der Rückzug aufs Land, wo er Ponys züchtete und den Acker mit dem Pferdepflug bearbeitete, war die Bedingung seiner Teilhabe am städtischen, von Parteiarbeit und Schriftstellerversammlungen geprägten Leben. Beobachtungen über die Flugformation der Wildgänse stehen neben Bemerkungen zur Betriebsgruppensitzung.
Mit dem Misstrauen des Autodidakten begegnet er denen, die er abschätzig „Intellektuelle“ nennt. Unter den „Parteikatholiken“ ist er der Unorthodoxe. Doch die Welt der Funktionäre umzupflügen, gelingt ihm nicht. Er wird selbst zu dem, was er hasst, zum Funktionär, muss durch diese Existenzweise hindurch, um Distanz gewinnen zu können. Die Ironie, mit der er Parteiversammlungen und Auftritte des karikaturhaft scharf gesehenen Kleinbürgerdiktators Walter Ulbricht kommentiert, hilft ihm dabei.
Die Rechtfertigungsleistungen, die er vollbringen muss, sind beträchtlich. So war Strittmatter im Herbst 1956 zunächst entsetzt über die Verhaftungen von Wolfgang Harich und Walter Janka, den er für einen „guten Kommunisten“ hielt. Ein paar Wochen später aber notierte er mitleidlos: „Dummheit musste bestraft werden.“ Da glaubt er dann tatsächlich an eine Verschwörung und verhinderte Umsturzpläne. Auch den Mauerbau verteidigte er als ökonomisch und politisch notwendige Abwehrmaßnahme. Auch literaturpolitisch schlug er sich in diesen Jahren auf die Seite der dogmatischen Hardliner des sozialistischen Realismus. Aber lange hielt er das nicht durch, wurde krank und versuchte sich möglichst rauszuhalten.
Die Natur erlöste von solchen Konflikten. Das Zusammennageln einer Hühnerstalltür schaffte größere Befriedigung als eine Rede vor dem Schriftstellerverband. Natur erzeugte so etwas wie Ergriffenheit. „In letzter Zeit rühren mich Pflanzen, Zustände und Stimmungen, wie sie sich in der freien Landschaft her- und darstellen“, notierte er als Sechzigjähriger im Jahr 1972. „Wenn ich diese Rührung früher bei Thoreau oder Hamsun gewahrte, hielt ich sie für ‚Literatur‘.“ Dieses Umschwenken vom Gemachten zum Gewachsenen ist symptomatisch. Goethe, Rilke, Shakespeare, Schopenhauer und Buddha nennt er, wenig parteikonform, im selben Jahr als seine wichtigsten Lebensautoren – vor allem aber Tolstoi. Bertolt Brecht, sein Lehrmeister aus den fünfziger Jahren, gehörte nicht dazu.
An Brecht kritisierte er inzwischen, was er auch an sich selbst hätte kritisieren können: Dass er aus seinen Möglichkeiten zu wenig machte, zu feige war, Kritik nur intern übte. Über Brecht erzählt Strittmatter eine hübsche Anekdote: Brecht, gefolgt von der Karawane seiner Schüler und Bewunderer, spazierte durch den Garten seiner Villa in Berlin Weißensee. Jemand fragte ihn nach seinem Verhältnis zur Natur und gab ihm damit die Gelegenheit, seine Originalität zu demonstrieren. „Natur ist noch nicht fertig“, sagte Brecht in der überlegenen Gewissheit des Meisters, der davon ausgehen konnte, einer seiner Adepten werde das Aperçu schon aufschreiben für die Nachwelt. Erklärungen oder Gegenfragen habe es nicht gegeben, so Strittmatter weiter, „auch von mir nicht. Ich dachte nur insgeheim: Red was du willst, Brecht, mein Verhältnis zur Natur wirst du mir nicht zerstören!“
Für Brecht sprach der Charakter des Unfertigen wohl gegen die Natur. Schließlich gab es ja den Sozialismus, der programmgemäß in die Vollkommenheit des Kommunismus münden würde. Strittmatter erlebte die Natur anders – und er durfte sich im Gegensatz zu den meisten der Berliner Funktionäre hier tatsächlich als Fachmann fühlen. Er erlebte die Natur als ewigen Kreislauf der Jahre und Jahreszeiten mit all den zugehörigen Arbeiten von der Saat bis zur Ernte. Und wenn sich nach Regengüssen das Wasser „in gleichmäßigen Intervallen gleich Atemzügen in die Erde zurückzog“, dann ahnte er: „Ich stehe der Ewigkeit gegenüber.“
Dieser Lebensrhythmus war mit dem linearen Fortschrittsmodell der Geschichtspragmatiker nicht kompatibel. Doch Strittmatter steckte allzu lange in diesem Widerspruch fest. Immer deutlicher wurde, dass die Verwalter der Zukunft nichts als dumpfe Stagnation zustande brachten. Umso verdächtiger musste sein, wer sich auf die Natur berief. Ein Gespräch über Bäume – undenkbar.
In den 1970er Jahren werden die Einträge im Tagebuch lückenhafter und gehorchen mehr der Pflicht. Da hat es vielleicht seine Notwendigkeit als Ort der Selbstrechtfertigung und Richtungssuche verloren. Denn die Entscheidung ist nun zugunsten der Natur und gegen die Machbarkeit der Weltgeschichte getroffen. Die Menschen machen die Welt nicht, sie bewohnen sie nur. Und wenn der Schriftsteller die Natur betrachtet, dann schaut die Natur auf ihn zurück und macht ihm klar, wie klein er ist. Strittmatter hat das schon früh gewusst, als er im Herbst 1954 notierte: „Beim Holzeinfahren sah ich von einer Höhe auf den großen Thörnsee. Mit seinem gilbenden Schilf und den widerspiegelnden gilbenden Laubbäumen sah er aus wie ein alterndes Auge. Das alternde Auge der Erde.“
JÖRG MAGENAU
ERWIN STRITTMATTER: Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954 -1973. Herausgegeben von Almut Giesecke. Aufbau Verlag, Berlin 2012. 602 Seiten, 24,99 Euro.
„Nach Schulzenhof mitzunehmen:
Lampenkabel, Sämereien, Geld,
Waschzeug, Altbrot, Kater, Decke“
„In letzter Zeit rühren mich
Pflanzen und Stimmungen, wie sie
sich in freier Landschaft herstellen“
Ein Mann von sechzig Jahren, halb Schriftsteller, halb Bauer, sowohl dem Rhythmus der Parteitage wie dem Rhythmus der Jahreszeiten verpflichtet: Erwin Strittmatter 1972 auf seinem Hof in der Nähe von Gransee in Brandenburg.
Foto:bpk/Gerhard Kiesling
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sebastian Kleinschmidt findet die Tagebücher Erwin Strittmatters interessant, weil der Mensch Strittmatter interessant ist. Außerdem weiß der Autor natürlich sich mitzuteilen. Pünktlich zum hundertsten Geburtstag des Autors liest er diese Auswahl der Jahre 1954 bis 1973 als facetteneiches Doppelbild: Strittmatter als Autor und Pferdenarr. Kleinschmidt erfährt viel über Strittmatters Verhältnis zum Marxismus, zur DDR-Macht und über die innere Unfreiheit des Einzelnen im Arbeiter- und Bauernstaat. Am meisten beeindruckt haben ihn jedoch die Tier- und Landschaftsschilderungen. Hier, meint er, sei der Autor ganz in seinem Element.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2012Die Unruhe beginnt zu weichen, das innere Gepeitschtsein lässt nach
Protokolle aus der Geheimwelt: Erwin Strittmatter hinterließ neben dem literarischen Werk auch Tagebücher. Zum 100. Geburtstag erscheinen Auszüge daraus. Dunkle Punkte verschwieg er allerdings.
Wann ist ein Tagebuch interessant? Viele werden sagen, wenn es Geheimnisse ausplaudert, Geständnisse ablegt, Sünden beichtet, Invektiven ausfaucht, wenn es schonungslos Buch führt über die bezahlten und unbezahlten Rechnungen des Lebens. Strittmatters Tagebücher sind interessant, weil sie von einem interessanten Menschen stammen. Weil dieser Mensch eine starke, entschiedene, mitteilsame Persönlichkeit war, originäre Vorstellungen von sich und der Welt hatte, einen ruhigen und festen Begriff von seiner Aufgabe besaß. Lebenslang führte er Tagebuch. Sein Schreiben endete erst mit dem Tod am 31. Januar 1994.
Aus dem über Jahrzehnte gewachsenen Lebensprotokoll, Strittmatters Geheimwelt, wie seine Frau Eva es nannte, hat jetzt Almut Giesecke zum 100. Geburtstag des Autors eine Auswahl getroffen. Sie umfasst die Jahre 1954 bis 1973. Ein zweiter Band ist in Vorbereitung. Als Strittmatter die Aufzeichnungen begann, war er zweiundvierzig. Er lebte seit kurzem in Schulzenhof, einem Vorwerk von sieben Häusern, gelegen in einem sonnendurchfluteten, umwaldeten Wiesental nahe Rheinsberg im Ruppiner Land. Das Journal zeichnet ein facettenreiches Bild seiner Doppelexistenz als Autor und Pferdezüchter. Allein schon der Tagesbeginn macht staunen. 9./10. Juli 1956: "Wie gewöhnlich 4.30 hoch. Eine halbe Stunde im Garten bei Pflanzen und Tieren. Atemübungen. Die Unruhe beginnt zu weichen, das innere Gepeitschtsein lässt nach. Ich schreibe wieder. Um 7h beginnt Geklapper und Gewese im Hause. Dann liegen meist drei neue Seiten vor mir."
Für einige Jahre geriet die Doppel- zur Dreifachexistenz. Strittmatter wurde hauptamtlicher Sekretär des DDR-Schriftstellerverbands. Die Nähe zur Macht öffnete ihm die Augen. Sein naiver politischer Optimismus, die Wonnen der Bekehrung und Selbstbekehrung, sein Vertrauen in die neue Ordnung, all das bekam einen Dämpfer. Nach und nach wurde ihm bewusst, dass sein ungetrübter marxistischer Zukunftsglaube auch literarisch nicht immer nur zum Vorteil gewirkt hat.
Wiederholt taucht das Motiv des Kriegs auf. Strittmatter hat nicht nur Schuld auf sich geladen, wie wohl alle deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, er hat sie auch aus der Unruhe des Gewissens heraus vielfach reflektiert. Gleichwohl verschwieg er einige heikle Punkte nach 1945, so die Tatsache, dass er 1940 einen Aufnahmeantrag in die Waffen-SS gestellt hatte, indes trotz Tauglichkeit nicht genommen wurde: Die kriegswichtige, ihm verhasste Zellwolle AG Schwarza, in der er seit Oktober 1938 an hochgiftigen Rührbottichen arbeitete, stellte ihn nicht frei. Der Umstand wird in den Tagebüchern nicht erwähnt. Annette Leo teilt ihn in ihrer neuen Biographie mit. Inzwischen hat Joachim Jahns herausgefunden, dass Strittmatter seine Freiwilligenmeldung schon kurze Zeit später widerrief. Er wollte nicht an die Front geschickt werden.
Auch seine Bereitschaft, sich eine Zeitlang (1958 bis 1961) als Stasi-Informant einspannen zu lassen, wird im Tagebuch nicht verzeichnet. Der Zusammenhang von Mitläufertum vor 1945 und kommunistischer Parteinahme nach 1945 ist nicht nur bei Strittmatter evident; hier liegt auch ein Schlüssel zum Verständnis der DDR und ihrer inneren Unfreiheit. Die Generation, die den Aufbau des neuen Staates ins Werk setzte, war mehrheitlich in einem schlechten Gewissen gefangen. Viele waren mitschuldig geworden und wollten wiedergutmachen, traten in die Partei ein und wagten es nicht, den auf die Sowjetunion schwörenden Emigranten respektive Widerständlern zu widersprechen. Strittmatter hat das Dilemma von Schulddruck und Feigheit als einer der Ersten gesehen. Und nicht nur das. Am 4. Oktober 1968 schreibt er: "Ihr lehrtet uns die Unmenschlichkeit des Faschismus begreifen. Ihr führtet uns vor Augen, was für Grausamkeiten wir mit Konzentrationslagern und dem Töten und Totquälen politischer Gegner durch unser Schweigen und durch Mangel an Aufbegehren duldeten. Wir sahen ein und waren den Genossen Lehrern, die ihr schicktet, uns einsehend und einsichtig zu machen, dankbar. Wir wirkten von Stund an in eurem Sinne. Als wir uns nach einiger Zeit nach unseren Genossen Lehrern erkundigten, hieß es, sie seien in einem Lager ... Was sollen wir denken? Werdet ihr sie auch töten, unsere damaligen Lehrer? Ihr seid nicht ungeübt darin, wie wir inzwischen erfuhren. Was sollen wir von euch denken, da ihr nicht politische Gegner umbrachtet, sondern gute und beste Genossen. Seid ihr da nicht im Inhumanen über die hinausgegangen, die ihr uns hassen lehrtet?"
Strittmatters Tagebuch bietet lehrreiche Innenansichten der zweiten deutschen Diktatur. Es fehlt nicht an harten Worten über den "mittelalterlichen Stalinismus" und "die finsteren Labyrinthe der Politik". 1972 fragt er sich, ob er nicht aus der Partei austreten solle, verwirft jedoch den Gedanken. Von den Dissidenten hält er sich fern, seine Loyalität zur DDR kündigt er nicht auf. Aber innerlich zieht er sich mehr und mehr vom Marxismus und der kollektiven Vereinnahmung des Bewusstseins zurück. Freilich liest man auch befremdliche Urteile, nicht zuletzt über andere Autoren. Allzu verwunderlich ist das nicht, Idiosynkrasien unter Schriftstellern sind ein Naturgesetz.
Apropos Natur. Wie die "Histoires naturelles" in Jules Renards berühmtem Tagebuch die Juwelen sind, so die Tier- und Landschaftsschilderungen in Strittmatters Diarium. Hier ist der Autor ganz in seinem Element. Überall eindrucksvolle Beschreibungen der ihn umgebenden, tragenden, heilenden, tröstenden und immer erfreuenden Natur. Und auch die Schilderung seines eigenen, für ihn selbst wie für andere schwierigen Naturells, seiner Schwermut, seiner Launen, seines Jähzorns, ist beeindruckend.
All das kommt auch in Annette Leos Biographie zur Sprache. Ihre besondere Leistung liegt darin, dass sie Licht ins Dunkel der Kriegsjahre bringt. Um es kurz zu machen: Strittmatter war kein SS-Mann, auch wenn dem Polizei-Gebirgsjägerregiment 18, dem er seit 1942 als Oberwachtmeister angehörte, 1943 das SS-Kürzel vorangestellt wurde. Auch in anderer Hinsicht bietet die gut geschriebene und recherchierte Lebenserzählung Interessantes: Erschließen unbekannter Dokumente, Befragen von Zeitzeugen, Kontrastieren von Dichtung und Wahrheit in den autobiographischen Texten, Bemühen, Werk und Leben Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wie bei einer Historikerin nicht überraschend, dominieren die politischen Aspekte der Darstellung. Das ästhetisch-philosophische Profil des Autors kommt ein wenig zu kurz.
Vielleicht war das angesichts der immer noch andauernden Diskussionen um ihn richtig, weil es letztlich zu einer guten Mischung aus Empathie und Distanz geführt hat. Nur bei den Pferden hat Annette Leo es mit der Distanz übertrieben. "Schwer erträglich" findet sie Strittmatters "hingebungsvolle Zuwendung zu den Pferden, die aus beinahe jeder Seite des Tagebuchs spricht. Da beschreibt er, wie ihm keine Mühe zu groß ist, dass er auf das leiseste Schnauben reagiert, dass er mehrmals nachts nach einem kranken Tier schaut, und welche Geduld er bei der Dressur aufbringt". Dass es ihm an dieser Geduld mit der Familie fehlte, ist ein offenes Geheimnis, zumal wir reichlich Zeugnisse von Eva Strittmatter haben, in denen das Bild ihres Mannes weder geschönt noch geschont wird. Leos Unmut gegen den pater familias wäre leichter hinzunehmen, wenn sie sich mit derselben Verve für die Anmut des Werks stark gemacht hätte. Wie Strittmatter dachte, ist eben oft in solchen Beobachtungen zu finden: "Ich denke an jene naive Dame, die mir sagte: ,Sehn Sie, wie mich mein Pony liebt!' Ich sagte ihr das, was ich allen sage, die mir erzählen, dass ihre Haustiere sie lieben: ,Zeigen Sie mir Ihre Taschen, Madame!'"
Strittmatter war ein Dichter der Ländlichkeit, der Erde verhaftet und dem Himmel zugewandt, ein wahrer Zauberer des poetischen Erzählens. Seine Fabulierlust, die Musikalität seines Satzbaus, der warmherzige Ton, der Humor, das bildhafte Sehen, das Träumerische und das Närrische seiner Geschichten und Romane, die kauzige Ironie - all das gehört zur Signatur seines Werks. Nicht selten wurde es unter Verdacht gestellt: Idylle, Heimatdichtung, bewaldetes Biedermeier, intellektuelle Dürftigkeit. Ob es die Zeiten überdauern wird, können wir nicht wissen. Es hat aber gute Aussichten, nicht im Meer der Vergessenheit zu verschwinden. Und falls es doch einmal untertauchen sollte, wird es wieder auftauchen. Der Grund dafür liegt in Strittmatters poetischer Eindringlichkeit - dem schwierigsten Kapitel der Erzählkunst überhaupt -, in den vielen Facetten seiner agrarischen Welt, in seiner Philosophie der naturnahen Existenz in kleinen Ordnungen und des genossenschaftlich gestützten Selbsthelfertums des Einzelnen. All das könnte eines vielleicht nicht allzu fernen Tages wieder aktuell sein.
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT
Erwin Strittmatter: "Nachrichten aus meinem Leben". Aus den Tagebüchern 1954 - 1973. Hrsg. Almut Giesecke. Aufbau Verlag, Berlin 2012. 601 S., geb., 24,99 [Euro].
Annette Leo: "Erwin Strittmatter".
Die Biographie.
Aufbau Verlag, Berlin 2012. 448 S., Abb., geb., 25,70 [Euro].
Joachim Jahns: "Erwin Strittmatter und der böse Krieg". Biografische Nachträge.
Dingsda-Verlag, Querfurt 2012. 20 S., br., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Protokolle aus der Geheimwelt: Erwin Strittmatter hinterließ neben dem literarischen Werk auch Tagebücher. Zum 100. Geburtstag erscheinen Auszüge daraus. Dunkle Punkte verschwieg er allerdings.
Wann ist ein Tagebuch interessant? Viele werden sagen, wenn es Geheimnisse ausplaudert, Geständnisse ablegt, Sünden beichtet, Invektiven ausfaucht, wenn es schonungslos Buch führt über die bezahlten und unbezahlten Rechnungen des Lebens. Strittmatters Tagebücher sind interessant, weil sie von einem interessanten Menschen stammen. Weil dieser Mensch eine starke, entschiedene, mitteilsame Persönlichkeit war, originäre Vorstellungen von sich und der Welt hatte, einen ruhigen und festen Begriff von seiner Aufgabe besaß. Lebenslang führte er Tagebuch. Sein Schreiben endete erst mit dem Tod am 31. Januar 1994.
Aus dem über Jahrzehnte gewachsenen Lebensprotokoll, Strittmatters Geheimwelt, wie seine Frau Eva es nannte, hat jetzt Almut Giesecke zum 100. Geburtstag des Autors eine Auswahl getroffen. Sie umfasst die Jahre 1954 bis 1973. Ein zweiter Band ist in Vorbereitung. Als Strittmatter die Aufzeichnungen begann, war er zweiundvierzig. Er lebte seit kurzem in Schulzenhof, einem Vorwerk von sieben Häusern, gelegen in einem sonnendurchfluteten, umwaldeten Wiesental nahe Rheinsberg im Ruppiner Land. Das Journal zeichnet ein facettenreiches Bild seiner Doppelexistenz als Autor und Pferdezüchter. Allein schon der Tagesbeginn macht staunen. 9./10. Juli 1956: "Wie gewöhnlich 4.30 hoch. Eine halbe Stunde im Garten bei Pflanzen und Tieren. Atemübungen. Die Unruhe beginnt zu weichen, das innere Gepeitschtsein lässt nach. Ich schreibe wieder. Um 7h beginnt Geklapper und Gewese im Hause. Dann liegen meist drei neue Seiten vor mir."
Für einige Jahre geriet die Doppel- zur Dreifachexistenz. Strittmatter wurde hauptamtlicher Sekretär des DDR-Schriftstellerverbands. Die Nähe zur Macht öffnete ihm die Augen. Sein naiver politischer Optimismus, die Wonnen der Bekehrung und Selbstbekehrung, sein Vertrauen in die neue Ordnung, all das bekam einen Dämpfer. Nach und nach wurde ihm bewusst, dass sein ungetrübter marxistischer Zukunftsglaube auch literarisch nicht immer nur zum Vorteil gewirkt hat.
Wiederholt taucht das Motiv des Kriegs auf. Strittmatter hat nicht nur Schuld auf sich geladen, wie wohl alle deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, er hat sie auch aus der Unruhe des Gewissens heraus vielfach reflektiert. Gleichwohl verschwieg er einige heikle Punkte nach 1945, so die Tatsache, dass er 1940 einen Aufnahmeantrag in die Waffen-SS gestellt hatte, indes trotz Tauglichkeit nicht genommen wurde: Die kriegswichtige, ihm verhasste Zellwolle AG Schwarza, in der er seit Oktober 1938 an hochgiftigen Rührbottichen arbeitete, stellte ihn nicht frei. Der Umstand wird in den Tagebüchern nicht erwähnt. Annette Leo teilt ihn in ihrer neuen Biographie mit. Inzwischen hat Joachim Jahns herausgefunden, dass Strittmatter seine Freiwilligenmeldung schon kurze Zeit später widerrief. Er wollte nicht an die Front geschickt werden.
Auch seine Bereitschaft, sich eine Zeitlang (1958 bis 1961) als Stasi-Informant einspannen zu lassen, wird im Tagebuch nicht verzeichnet. Der Zusammenhang von Mitläufertum vor 1945 und kommunistischer Parteinahme nach 1945 ist nicht nur bei Strittmatter evident; hier liegt auch ein Schlüssel zum Verständnis der DDR und ihrer inneren Unfreiheit. Die Generation, die den Aufbau des neuen Staates ins Werk setzte, war mehrheitlich in einem schlechten Gewissen gefangen. Viele waren mitschuldig geworden und wollten wiedergutmachen, traten in die Partei ein und wagten es nicht, den auf die Sowjetunion schwörenden Emigranten respektive Widerständlern zu widersprechen. Strittmatter hat das Dilemma von Schulddruck und Feigheit als einer der Ersten gesehen. Und nicht nur das. Am 4. Oktober 1968 schreibt er: "Ihr lehrtet uns die Unmenschlichkeit des Faschismus begreifen. Ihr führtet uns vor Augen, was für Grausamkeiten wir mit Konzentrationslagern und dem Töten und Totquälen politischer Gegner durch unser Schweigen und durch Mangel an Aufbegehren duldeten. Wir sahen ein und waren den Genossen Lehrern, die ihr schicktet, uns einsehend und einsichtig zu machen, dankbar. Wir wirkten von Stund an in eurem Sinne. Als wir uns nach einiger Zeit nach unseren Genossen Lehrern erkundigten, hieß es, sie seien in einem Lager ... Was sollen wir denken? Werdet ihr sie auch töten, unsere damaligen Lehrer? Ihr seid nicht ungeübt darin, wie wir inzwischen erfuhren. Was sollen wir von euch denken, da ihr nicht politische Gegner umbrachtet, sondern gute und beste Genossen. Seid ihr da nicht im Inhumanen über die hinausgegangen, die ihr uns hassen lehrtet?"
Strittmatters Tagebuch bietet lehrreiche Innenansichten der zweiten deutschen Diktatur. Es fehlt nicht an harten Worten über den "mittelalterlichen Stalinismus" und "die finsteren Labyrinthe der Politik". 1972 fragt er sich, ob er nicht aus der Partei austreten solle, verwirft jedoch den Gedanken. Von den Dissidenten hält er sich fern, seine Loyalität zur DDR kündigt er nicht auf. Aber innerlich zieht er sich mehr und mehr vom Marxismus und der kollektiven Vereinnahmung des Bewusstseins zurück. Freilich liest man auch befremdliche Urteile, nicht zuletzt über andere Autoren. Allzu verwunderlich ist das nicht, Idiosynkrasien unter Schriftstellern sind ein Naturgesetz.
Apropos Natur. Wie die "Histoires naturelles" in Jules Renards berühmtem Tagebuch die Juwelen sind, so die Tier- und Landschaftsschilderungen in Strittmatters Diarium. Hier ist der Autor ganz in seinem Element. Überall eindrucksvolle Beschreibungen der ihn umgebenden, tragenden, heilenden, tröstenden und immer erfreuenden Natur. Und auch die Schilderung seines eigenen, für ihn selbst wie für andere schwierigen Naturells, seiner Schwermut, seiner Launen, seines Jähzorns, ist beeindruckend.
All das kommt auch in Annette Leos Biographie zur Sprache. Ihre besondere Leistung liegt darin, dass sie Licht ins Dunkel der Kriegsjahre bringt. Um es kurz zu machen: Strittmatter war kein SS-Mann, auch wenn dem Polizei-Gebirgsjägerregiment 18, dem er seit 1942 als Oberwachtmeister angehörte, 1943 das SS-Kürzel vorangestellt wurde. Auch in anderer Hinsicht bietet die gut geschriebene und recherchierte Lebenserzählung Interessantes: Erschließen unbekannter Dokumente, Befragen von Zeitzeugen, Kontrastieren von Dichtung und Wahrheit in den autobiographischen Texten, Bemühen, Werk und Leben Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wie bei einer Historikerin nicht überraschend, dominieren die politischen Aspekte der Darstellung. Das ästhetisch-philosophische Profil des Autors kommt ein wenig zu kurz.
Vielleicht war das angesichts der immer noch andauernden Diskussionen um ihn richtig, weil es letztlich zu einer guten Mischung aus Empathie und Distanz geführt hat. Nur bei den Pferden hat Annette Leo es mit der Distanz übertrieben. "Schwer erträglich" findet sie Strittmatters "hingebungsvolle Zuwendung zu den Pferden, die aus beinahe jeder Seite des Tagebuchs spricht. Da beschreibt er, wie ihm keine Mühe zu groß ist, dass er auf das leiseste Schnauben reagiert, dass er mehrmals nachts nach einem kranken Tier schaut, und welche Geduld er bei der Dressur aufbringt". Dass es ihm an dieser Geduld mit der Familie fehlte, ist ein offenes Geheimnis, zumal wir reichlich Zeugnisse von Eva Strittmatter haben, in denen das Bild ihres Mannes weder geschönt noch geschont wird. Leos Unmut gegen den pater familias wäre leichter hinzunehmen, wenn sie sich mit derselben Verve für die Anmut des Werks stark gemacht hätte. Wie Strittmatter dachte, ist eben oft in solchen Beobachtungen zu finden: "Ich denke an jene naive Dame, die mir sagte: ,Sehn Sie, wie mich mein Pony liebt!' Ich sagte ihr das, was ich allen sage, die mir erzählen, dass ihre Haustiere sie lieben: ,Zeigen Sie mir Ihre Taschen, Madame!'"
Strittmatter war ein Dichter der Ländlichkeit, der Erde verhaftet und dem Himmel zugewandt, ein wahrer Zauberer des poetischen Erzählens. Seine Fabulierlust, die Musikalität seines Satzbaus, der warmherzige Ton, der Humor, das bildhafte Sehen, das Träumerische und das Närrische seiner Geschichten und Romane, die kauzige Ironie - all das gehört zur Signatur seines Werks. Nicht selten wurde es unter Verdacht gestellt: Idylle, Heimatdichtung, bewaldetes Biedermeier, intellektuelle Dürftigkeit. Ob es die Zeiten überdauern wird, können wir nicht wissen. Es hat aber gute Aussichten, nicht im Meer der Vergessenheit zu verschwinden. Und falls es doch einmal untertauchen sollte, wird es wieder auftauchen. Der Grund dafür liegt in Strittmatters poetischer Eindringlichkeit - dem schwierigsten Kapitel der Erzählkunst überhaupt -, in den vielen Facetten seiner agrarischen Welt, in seiner Philosophie der naturnahen Existenz in kleinen Ordnungen und des genossenschaftlich gestützten Selbsthelfertums des Einzelnen. All das könnte eines vielleicht nicht allzu fernen Tages wieder aktuell sein.
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT
Erwin Strittmatter: "Nachrichten aus meinem Leben". Aus den Tagebüchern 1954 - 1973. Hrsg. Almut Giesecke. Aufbau Verlag, Berlin 2012. 601 S., geb., 24,99 [Euro].
Annette Leo: "Erwin Strittmatter".
Die Biographie.
Aufbau Verlag, Berlin 2012. 448 S., Abb., geb., 25,70 [Euro].
Joachim Jahns: "Erwin Strittmatter und der böse Krieg". Biografische Nachträge.
Dingsda-Verlag, Querfurt 2012. 20 S., br., 12,90 [Euro].
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» Akribisch genau schildert Strittmatter Umbrüche und Wandlungen. « » Man nimmt Teil an Schreibkrisen, erfährt von seinen Reisen nach Berlin, geht noch einmal mit Strittmatter durch die Natur und lernt genau die Familie, die Freunde und Feinde kennen. « Thomas Behlert Unbekanntes Medium 20120901