Strittmatters "Geheimwelt"
Erwin Strittmatter nannte seine Tagebücher eine "kleine Heimat". Mit der Schilderung seines Tagwerks in Schulzenhof legte er eine "zweite Spur" seines Lebens, der man ablesen kann, wie er alles dem Werk unterordnete, zum kritischen Beobachter der erstarrenden Verhältnisse in der DDR wurde und zum eigensinnigen Denker. So entsteht ein nuancenreiches Selbst- und Zeitporträt - ein Glücksumstand für Literatur und Leser.
"Die Tagebücher zeigen den Autor als ringenden, verletzbaren Menschen." Thüringische Landeszeitung
Erwin Strittmatter nannte seine Tagebücher eine "kleine Heimat". Mit der Schilderung seines Tagwerks in Schulzenhof legte er eine "zweite Spur" seines Lebens, der man ablesen kann, wie er alles dem Werk unterordnete, zum kritischen Beobachter der erstarrenden Verhältnisse in der DDR wurde und zum eigensinnigen Denker. So entsteht ein nuancenreiches Selbst- und Zeitporträt - ein Glücksumstand für Literatur und Leser.
"Die Tagebücher zeigen den Autor als ringenden, verletzbaren Menschen." Thüringische Landeszeitung
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sebastian Kleinschmidt findet die Tagebücher Erwin Strittmatters interessant, weil der Mensch Strittmatter interessant ist. Außerdem weiß der Autor natürlich sich mitzuteilen. Pünktlich zum hundertsten Geburtstag des Autors liest er diese Auswahl der Jahre 1954 bis 1973 als facetteneiches Doppelbild: Strittmatter als Autor und Pferdenarr. Kleinschmidt erfährt viel über Strittmatters Verhältnis zum Marxismus, zur DDR-Macht und über die innere Unfreiheit des Einzelnen im Arbeiter- und Bauernstaat. Am meisten beeindruckt haben ihn jedoch die Tier- und Landschaftsschilderungen. Hier, meint er, sei der Autor ganz in seinem Element.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2012Die Unruhe beginnt zu weichen, das innere Gepeitschtsein lässt nach
Protokolle aus der Geheimwelt: Erwin Strittmatter hinterließ neben dem literarischen Werk auch Tagebücher. Zum 100. Geburtstag erscheinen Auszüge daraus. Dunkle Punkte verschwieg er allerdings.
Wann ist ein Tagebuch interessant? Viele werden sagen, wenn es Geheimnisse ausplaudert, Geständnisse ablegt, Sünden beichtet, Invektiven ausfaucht, wenn es schonungslos Buch führt über die bezahlten und unbezahlten Rechnungen des Lebens. Strittmatters Tagebücher sind interessant, weil sie von einem interessanten Menschen stammen. Weil dieser Mensch eine starke, entschiedene, mitteilsame Persönlichkeit war, originäre Vorstellungen von sich und der Welt hatte, einen ruhigen und festen Begriff von seiner Aufgabe besaß. Lebenslang führte er Tagebuch. Sein Schreiben endete erst mit dem Tod am 31. Januar 1994.
Aus dem über Jahrzehnte gewachsenen Lebensprotokoll, Strittmatters Geheimwelt, wie seine Frau Eva es nannte, hat jetzt Almut Giesecke zum 100. Geburtstag des Autors eine Auswahl getroffen. Sie umfasst die Jahre 1954 bis 1973. Ein zweiter Band ist in Vorbereitung. Als Strittmatter die Aufzeichnungen begann, war er zweiundvierzig. Er lebte seit kurzem in Schulzenhof, einem Vorwerk von sieben Häusern, gelegen in einem sonnendurchfluteten, umwaldeten Wiesental nahe Rheinsberg im Ruppiner Land. Das Journal zeichnet ein facettenreiches Bild seiner Doppelexistenz als Autor und Pferdezüchter. Allein schon der Tagesbeginn macht staunen. 9./10. Juli 1956: "Wie gewöhnlich 4.30 hoch. Eine halbe Stunde im Garten bei Pflanzen und Tieren. Atemübungen. Die Unruhe beginnt zu weichen, das innere Gepeitschtsein lässt nach. Ich schreibe wieder. Um 7h beginnt Geklapper und Gewese im Hause. Dann liegen meist drei neue Seiten vor mir."
Für einige Jahre geriet die Doppel- zur Dreifachexistenz. Strittmatter wurde hauptamtlicher Sekretär des DDR-Schriftstellerverbands. Die Nähe zur Macht öffnete ihm die Augen. Sein naiver politischer Optimismus, die Wonnen der Bekehrung und Selbstbekehrung, sein Vertrauen in die neue Ordnung, all das bekam einen Dämpfer. Nach und nach wurde ihm bewusst, dass sein ungetrübter marxistischer Zukunftsglaube auch literarisch nicht immer nur zum Vorteil gewirkt hat.
Wiederholt taucht das Motiv des Kriegs auf. Strittmatter hat nicht nur Schuld auf sich geladen, wie wohl alle deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, er hat sie auch aus der Unruhe des Gewissens heraus vielfach reflektiert. Gleichwohl verschwieg er einige heikle Punkte nach 1945, so die Tatsache, dass er 1940 einen Aufnahmeantrag in die Waffen-SS gestellt hatte, indes trotz Tauglichkeit nicht genommen wurde: Die kriegswichtige, ihm verhasste Zellwolle AG Schwarza, in der er seit Oktober 1938 an hochgiftigen Rührbottichen arbeitete, stellte ihn nicht frei. Der Umstand wird in den Tagebüchern nicht erwähnt. Annette Leo teilt ihn in ihrer neuen Biographie mit. Inzwischen hat Joachim Jahns herausgefunden, dass Strittmatter seine Freiwilligenmeldung schon kurze Zeit später widerrief. Er wollte nicht an die Front geschickt werden.
Auch seine Bereitschaft, sich eine Zeitlang (1958 bis 1961) als Stasi-Informant einspannen zu lassen, wird im Tagebuch nicht verzeichnet. Der Zusammenhang von Mitläufertum vor 1945 und kommunistischer Parteinahme nach 1945 ist nicht nur bei Strittmatter evident; hier liegt auch ein Schlüssel zum Verständnis der DDR und ihrer inneren Unfreiheit. Die Generation, die den Aufbau des neuen Staates ins Werk setzte, war mehrheitlich in einem schlechten Gewissen gefangen. Viele waren mitschuldig geworden und wollten wiedergutmachen, traten in die Partei ein und wagten es nicht, den auf die Sowjetunion schwörenden Emigranten respektive Widerständlern zu widersprechen. Strittmatter hat das Dilemma von Schulddruck und Feigheit als einer der Ersten gesehen. Und nicht nur das. Am 4. Oktober 1968 schreibt er: "Ihr lehrtet uns die Unmenschlichkeit des Faschismus begreifen. Ihr führtet uns vor Augen, was für Grausamkeiten wir mit Konzentrationslagern und dem Töten und Totquälen politischer Gegner durch unser Schweigen und durch Mangel an Aufbegehren duldeten. Wir sahen ein und waren den Genossen Lehrern, die ihr schicktet, uns einsehend und einsichtig zu machen, dankbar. Wir wirkten von Stund an in eurem Sinne. Als wir uns nach einiger Zeit nach unseren Genossen Lehrern erkundigten, hieß es, sie seien in einem Lager ... Was sollen wir denken? Werdet ihr sie auch töten, unsere damaligen Lehrer? Ihr seid nicht ungeübt darin, wie wir inzwischen erfuhren. Was sollen wir von euch denken, da ihr nicht politische Gegner umbrachtet, sondern gute und beste Genossen. Seid ihr da nicht im Inhumanen über die hinausgegangen, die ihr uns hassen lehrtet?"
Strittmatters Tagebuch bietet lehrreiche Innenansichten der zweiten deutschen Diktatur. Es fehlt nicht an harten Worten über den "mittelalterlichen Stalinismus" und "die finsteren Labyrinthe der Politik". 1972 fragt er sich, ob er nicht aus der Partei austreten solle, verwirft jedoch den Gedanken. Von den Dissidenten hält er sich fern, seine Loyalität zur DDR kündigt er nicht auf. Aber innerlich zieht er sich mehr und mehr vom Marxismus und der kollektiven Vereinnahmung des Bewusstseins zurück. Freilich liest man auch befremdliche Urteile, nicht zuletzt über andere Autoren. Allzu verwunderlich ist das nicht, Idiosynkrasien unter Schriftstellern sind ein Naturgesetz.
Apropos Natur. Wie die "Histoires naturelles" in Jules Renards berühmtem Tagebuch die Juwelen sind, so die Tier- und Landschaftsschilderungen in Strittmatters Diarium. Hier ist der Autor ganz in seinem Element. Überall eindrucksvolle Beschreibungen der ihn umgebenden, tragenden, heilenden, tröstenden und immer erfreuenden Natur. Und auch die Schilderung seines eigenen, für ihn selbst wie für andere schwierigen Naturells, seiner Schwermut, seiner Launen, seines Jähzorns, ist beeindruckend.
All das kommt auch in Annette Leos Biographie zur Sprache. Ihre besondere Leistung liegt darin, dass sie Licht ins Dunkel der Kriegsjahre bringt. Um es kurz zu machen: Strittmatter war kein SS-Mann, auch wenn dem Polizei-Gebirgsjägerregiment 18, dem er seit 1942 als Oberwachtmeister angehörte, 1943 das SS-Kürzel vorangestellt wurde. Auch in anderer Hinsicht bietet die gut geschriebene und recherchierte Lebenserzählung Interessantes: Erschließen unbekannter Dokumente, Befragen von Zeitzeugen, Kontrastieren von Dichtung und Wahrheit in den autobiographischen Texten, Bemühen, Werk und Leben Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wie bei einer Historikerin nicht überraschend, dominieren die politischen Aspekte der Darstellung. Das ästhetisch-philosophische Profil des Autors kommt ein wenig zu kurz.
Vielleicht war das angesichts der immer noch andauernden Diskussionen um ihn richtig, weil es letztlich zu einer guten Mischung aus Empathie und Distanz geführt hat. Nur bei den Pferden hat Annette Leo es mit der Distanz übertrieben. "Schwer erträglich" findet sie Strittmatters "hingebungsvolle Zuwendung zu den Pferden, die aus beinahe jeder Seite des Tagebuchs spricht. Da beschreibt er, wie ihm keine Mühe zu groß ist, dass er auf das leiseste Schnauben reagiert, dass er mehrmals nachts nach einem kranken Tier schaut, und welche Geduld er bei der Dressur aufbringt". Dass es ihm an dieser Geduld mit der Familie fehlte, ist ein offenes Geheimnis, zumal wir reichlich Zeugnisse von Eva Strittmatter haben, in denen das Bild ihres Mannes weder geschönt noch geschont wird. Leos Unmut gegen den pater familias wäre leichter hinzunehmen, wenn sie sich mit derselben Verve für die Anmut des Werks stark gemacht hätte. Wie Strittmatter dachte, ist eben oft in solchen Beobachtungen zu finden: "Ich denke an jene naive Dame, die mir sagte: ,Sehn Sie, wie mich mein Pony liebt!' Ich sagte ihr das, was ich allen sage, die mir erzählen, dass ihre Haustiere sie lieben: ,Zeigen Sie mir Ihre Taschen, Madame!'"
Strittmatter war ein Dichter der Ländlichkeit, der Erde verhaftet und dem Himmel zugewandt, ein wahrer Zauberer des poetischen Erzählens. Seine Fabulierlust, die Musikalität seines Satzbaus, der warmherzige Ton, der Humor, das bildhafte Sehen, das Träumerische und das Närrische seiner Geschichten und Romane, die kauzige Ironie - all das gehört zur Signatur seines Werks. Nicht selten wurde es unter Verdacht gestellt: Idylle, Heimatdichtung, bewaldetes Biedermeier, intellektuelle Dürftigkeit. Ob es die Zeiten überdauern wird, können wir nicht wissen. Es hat aber gute Aussichten, nicht im Meer der Vergessenheit zu verschwinden. Und falls es doch einmal untertauchen sollte, wird es wieder auftauchen. Der Grund dafür liegt in Strittmatters poetischer Eindringlichkeit - dem schwierigsten Kapitel der Erzählkunst überhaupt -, in den vielen Facetten seiner agrarischen Welt, in seiner Philosophie der naturnahen Existenz in kleinen Ordnungen und des genossenschaftlich gestützten Selbsthelfertums des Einzelnen. All das könnte eines vielleicht nicht allzu fernen Tages wieder aktuell sein.
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT
Erwin Strittmatter: "Nachrichten aus meinem Leben". Aus den Tagebüchern 1954 - 1973. Hrsg. Almut Giesecke. Aufbau Verlag, Berlin 2012. 601 S., geb., 24,99 [Euro].
Annette Leo: "Erwin Strittmatter".
Die Biographie.
Aufbau Verlag, Berlin 2012. 448 S., Abb., geb., 25,70 [Euro].
Joachim Jahns: "Erwin Strittmatter und der böse Krieg". Biografische Nachträge.
Dingsda-Verlag, Querfurt 2012. 20 S., br., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Protokolle aus der Geheimwelt: Erwin Strittmatter hinterließ neben dem literarischen Werk auch Tagebücher. Zum 100. Geburtstag erscheinen Auszüge daraus. Dunkle Punkte verschwieg er allerdings.
Wann ist ein Tagebuch interessant? Viele werden sagen, wenn es Geheimnisse ausplaudert, Geständnisse ablegt, Sünden beichtet, Invektiven ausfaucht, wenn es schonungslos Buch führt über die bezahlten und unbezahlten Rechnungen des Lebens. Strittmatters Tagebücher sind interessant, weil sie von einem interessanten Menschen stammen. Weil dieser Mensch eine starke, entschiedene, mitteilsame Persönlichkeit war, originäre Vorstellungen von sich und der Welt hatte, einen ruhigen und festen Begriff von seiner Aufgabe besaß. Lebenslang führte er Tagebuch. Sein Schreiben endete erst mit dem Tod am 31. Januar 1994.
Aus dem über Jahrzehnte gewachsenen Lebensprotokoll, Strittmatters Geheimwelt, wie seine Frau Eva es nannte, hat jetzt Almut Giesecke zum 100. Geburtstag des Autors eine Auswahl getroffen. Sie umfasst die Jahre 1954 bis 1973. Ein zweiter Band ist in Vorbereitung. Als Strittmatter die Aufzeichnungen begann, war er zweiundvierzig. Er lebte seit kurzem in Schulzenhof, einem Vorwerk von sieben Häusern, gelegen in einem sonnendurchfluteten, umwaldeten Wiesental nahe Rheinsberg im Ruppiner Land. Das Journal zeichnet ein facettenreiches Bild seiner Doppelexistenz als Autor und Pferdezüchter. Allein schon der Tagesbeginn macht staunen. 9./10. Juli 1956: "Wie gewöhnlich 4.30 hoch. Eine halbe Stunde im Garten bei Pflanzen und Tieren. Atemübungen. Die Unruhe beginnt zu weichen, das innere Gepeitschtsein lässt nach. Ich schreibe wieder. Um 7h beginnt Geklapper und Gewese im Hause. Dann liegen meist drei neue Seiten vor mir."
Für einige Jahre geriet die Doppel- zur Dreifachexistenz. Strittmatter wurde hauptamtlicher Sekretär des DDR-Schriftstellerverbands. Die Nähe zur Macht öffnete ihm die Augen. Sein naiver politischer Optimismus, die Wonnen der Bekehrung und Selbstbekehrung, sein Vertrauen in die neue Ordnung, all das bekam einen Dämpfer. Nach und nach wurde ihm bewusst, dass sein ungetrübter marxistischer Zukunftsglaube auch literarisch nicht immer nur zum Vorteil gewirkt hat.
Wiederholt taucht das Motiv des Kriegs auf. Strittmatter hat nicht nur Schuld auf sich geladen, wie wohl alle deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, er hat sie auch aus der Unruhe des Gewissens heraus vielfach reflektiert. Gleichwohl verschwieg er einige heikle Punkte nach 1945, so die Tatsache, dass er 1940 einen Aufnahmeantrag in die Waffen-SS gestellt hatte, indes trotz Tauglichkeit nicht genommen wurde: Die kriegswichtige, ihm verhasste Zellwolle AG Schwarza, in der er seit Oktober 1938 an hochgiftigen Rührbottichen arbeitete, stellte ihn nicht frei. Der Umstand wird in den Tagebüchern nicht erwähnt. Annette Leo teilt ihn in ihrer neuen Biographie mit. Inzwischen hat Joachim Jahns herausgefunden, dass Strittmatter seine Freiwilligenmeldung schon kurze Zeit später widerrief. Er wollte nicht an die Front geschickt werden.
Auch seine Bereitschaft, sich eine Zeitlang (1958 bis 1961) als Stasi-Informant einspannen zu lassen, wird im Tagebuch nicht verzeichnet. Der Zusammenhang von Mitläufertum vor 1945 und kommunistischer Parteinahme nach 1945 ist nicht nur bei Strittmatter evident; hier liegt auch ein Schlüssel zum Verständnis der DDR und ihrer inneren Unfreiheit. Die Generation, die den Aufbau des neuen Staates ins Werk setzte, war mehrheitlich in einem schlechten Gewissen gefangen. Viele waren mitschuldig geworden und wollten wiedergutmachen, traten in die Partei ein und wagten es nicht, den auf die Sowjetunion schwörenden Emigranten respektive Widerständlern zu widersprechen. Strittmatter hat das Dilemma von Schulddruck und Feigheit als einer der Ersten gesehen. Und nicht nur das. Am 4. Oktober 1968 schreibt er: "Ihr lehrtet uns die Unmenschlichkeit des Faschismus begreifen. Ihr führtet uns vor Augen, was für Grausamkeiten wir mit Konzentrationslagern und dem Töten und Totquälen politischer Gegner durch unser Schweigen und durch Mangel an Aufbegehren duldeten. Wir sahen ein und waren den Genossen Lehrern, die ihr schicktet, uns einsehend und einsichtig zu machen, dankbar. Wir wirkten von Stund an in eurem Sinne. Als wir uns nach einiger Zeit nach unseren Genossen Lehrern erkundigten, hieß es, sie seien in einem Lager ... Was sollen wir denken? Werdet ihr sie auch töten, unsere damaligen Lehrer? Ihr seid nicht ungeübt darin, wie wir inzwischen erfuhren. Was sollen wir von euch denken, da ihr nicht politische Gegner umbrachtet, sondern gute und beste Genossen. Seid ihr da nicht im Inhumanen über die hinausgegangen, die ihr uns hassen lehrtet?"
Strittmatters Tagebuch bietet lehrreiche Innenansichten der zweiten deutschen Diktatur. Es fehlt nicht an harten Worten über den "mittelalterlichen Stalinismus" und "die finsteren Labyrinthe der Politik". 1972 fragt er sich, ob er nicht aus der Partei austreten solle, verwirft jedoch den Gedanken. Von den Dissidenten hält er sich fern, seine Loyalität zur DDR kündigt er nicht auf. Aber innerlich zieht er sich mehr und mehr vom Marxismus und der kollektiven Vereinnahmung des Bewusstseins zurück. Freilich liest man auch befremdliche Urteile, nicht zuletzt über andere Autoren. Allzu verwunderlich ist das nicht, Idiosynkrasien unter Schriftstellern sind ein Naturgesetz.
Apropos Natur. Wie die "Histoires naturelles" in Jules Renards berühmtem Tagebuch die Juwelen sind, so die Tier- und Landschaftsschilderungen in Strittmatters Diarium. Hier ist der Autor ganz in seinem Element. Überall eindrucksvolle Beschreibungen der ihn umgebenden, tragenden, heilenden, tröstenden und immer erfreuenden Natur. Und auch die Schilderung seines eigenen, für ihn selbst wie für andere schwierigen Naturells, seiner Schwermut, seiner Launen, seines Jähzorns, ist beeindruckend.
All das kommt auch in Annette Leos Biographie zur Sprache. Ihre besondere Leistung liegt darin, dass sie Licht ins Dunkel der Kriegsjahre bringt. Um es kurz zu machen: Strittmatter war kein SS-Mann, auch wenn dem Polizei-Gebirgsjägerregiment 18, dem er seit 1942 als Oberwachtmeister angehörte, 1943 das SS-Kürzel vorangestellt wurde. Auch in anderer Hinsicht bietet die gut geschriebene und recherchierte Lebenserzählung Interessantes: Erschließen unbekannter Dokumente, Befragen von Zeitzeugen, Kontrastieren von Dichtung und Wahrheit in den autobiographischen Texten, Bemühen, Werk und Leben Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Wie bei einer Historikerin nicht überraschend, dominieren die politischen Aspekte der Darstellung. Das ästhetisch-philosophische Profil des Autors kommt ein wenig zu kurz.
Vielleicht war das angesichts der immer noch andauernden Diskussionen um ihn richtig, weil es letztlich zu einer guten Mischung aus Empathie und Distanz geführt hat. Nur bei den Pferden hat Annette Leo es mit der Distanz übertrieben. "Schwer erträglich" findet sie Strittmatters "hingebungsvolle Zuwendung zu den Pferden, die aus beinahe jeder Seite des Tagebuchs spricht. Da beschreibt er, wie ihm keine Mühe zu groß ist, dass er auf das leiseste Schnauben reagiert, dass er mehrmals nachts nach einem kranken Tier schaut, und welche Geduld er bei der Dressur aufbringt". Dass es ihm an dieser Geduld mit der Familie fehlte, ist ein offenes Geheimnis, zumal wir reichlich Zeugnisse von Eva Strittmatter haben, in denen das Bild ihres Mannes weder geschönt noch geschont wird. Leos Unmut gegen den pater familias wäre leichter hinzunehmen, wenn sie sich mit derselben Verve für die Anmut des Werks stark gemacht hätte. Wie Strittmatter dachte, ist eben oft in solchen Beobachtungen zu finden: "Ich denke an jene naive Dame, die mir sagte: ,Sehn Sie, wie mich mein Pony liebt!' Ich sagte ihr das, was ich allen sage, die mir erzählen, dass ihre Haustiere sie lieben: ,Zeigen Sie mir Ihre Taschen, Madame!'"
Strittmatter war ein Dichter der Ländlichkeit, der Erde verhaftet und dem Himmel zugewandt, ein wahrer Zauberer des poetischen Erzählens. Seine Fabulierlust, die Musikalität seines Satzbaus, der warmherzige Ton, der Humor, das bildhafte Sehen, das Träumerische und das Närrische seiner Geschichten und Romane, die kauzige Ironie - all das gehört zur Signatur seines Werks. Nicht selten wurde es unter Verdacht gestellt: Idylle, Heimatdichtung, bewaldetes Biedermeier, intellektuelle Dürftigkeit. Ob es die Zeiten überdauern wird, können wir nicht wissen. Es hat aber gute Aussichten, nicht im Meer der Vergessenheit zu verschwinden. Und falls es doch einmal untertauchen sollte, wird es wieder auftauchen. Der Grund dafür liegt in Strittmatters poetischer Eindringlichkeit - dem schwierigsten Kapitel der Erzählkunst überhaupt -, in den vielen Facetten seiner agrarischen Welt, in seiner Philosophie der naturnahen Existenz in kleinen Ordnungen und des genossenschaftlich gestützten Selbsthelfertums des Einzelnen. All das könnte eines vielleicht nicht allzu fernen Tages wieder aktuell sein.
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT
Erwin Strittmatter: "Nachrichten aus meinem Leben". Aus den Tagebüchern 1954 - 1973. Hrsg. Almut Giesecke. Aufbau Verlag, Berlin 2012. 601 S., geb., 24,99 [Euro].
Annette Leo: "Erwin Strittmatter".
Die Biographie.
Aufbau Verlag, Berlin 2012. 448 S., Abb., geb., 25,70 [Euro].
Joachim Jahns: "Erwin Strittmatter und der böse Krieg". Biografische Nachträge.
Dingsda-Verlag, Querfurt 2012. 20 S., br., 12,90 [Euro].
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» Akribisch genau schildert Strittmatter Umbrüche und Wandlungen. « » Man nimmt Teil an Schreibkrisen, erfährt von seinen Reisen nach Berlin, geht noch einmal mit Strittmatter durch die Natur und lernt genau die Familie, die Freunde und Feinde kennen. « Thomas Behlert Unbekanntes Medium 20120901