Produktdetails
- rororo Taschenbücher Nr.22525
- Verlag: Rowohlt TB.
- Originaltitel: St. Burl's Obituary
- 1. Auflage
- Seitenzahl: 448
- Deutsch
- Abmessung: 190mm x 115mm
- Gewicht: 302g
- ISBN-13: 9783499225253
- ISBN-10: 3499225255
- Artikelnr.: 08229673
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.1998Der Dünne, der im Dicken steckt
Opulent: Daniel Akst und sein "Nachruf auf den heiligen B."
Die Leser werden nicht zahlreicher, aber immer mehr Romane konkurrieren um ihre Gunst. Da mag das zielgruppenorientierte Buch - der Roman für Raucher, der Frauen-Krimi, die Novelle für Fußballfreunde oder Toskanaliebhaber - eine Möglichkeit sein, durchzudringen. Der in Hollywood lebende Journalist Daniel Akst scheint mit seinem ersten Roman "Nachruf auf den heiligen B." ein solches Buch geschrieben zu haben: für alle, denen das eigene Gewicht zum Problem geworden ist, vom Pölsterchen bis zur Fettleibigkeit. Burl Bennett, der Held des Buches, bringt es zwischenzeitlich auf knapp fünfhundert Pfund. Dicke Hauptfiguren gibt es öfter; selten aber wurde Körperfülle zum Zentralereignis eines Romans, sind Lust und Last des ohne Unterlaß Essenden derart ausschweifend beschrieben worden - mit einem literarischen Können, das schnell hinausführt über die Zielgruppenverständigung.
Der Stoff bietet, da ist der Name des Helden Programm, viel Burleskes. Gelegentlich bleibt Burl zur Rush-hour im U-Bahn-Drehkreuz stecken, oder er klemmt in einer Hotelzimmertür fest, woraus ihn die Feuerwehr mit der Elektrosäge befreien muß. Aber Burl ist keine Karikatur. Seine Eßsucht wird, bei aller Komik, nicht als Comedy-Nummer, sondern als eine Passion inszeniert; seine exzessiven und sublimen Mahlzeiten sind Räusche, die Erniedrigung und Selbstverachtung nach sich ziehen. Burl verfügt über virtuose Geschmackssinne und einen Bauch von erstaunlichem Fassungsvermögen, aber auch über einen denkenden Kopf. Er ist Journalist und Sachbuchautor, Spezialist für Nachrufe bei einer New Yorker Zeitung, und er hat literarische Ambitionen. Dieser Verfressene ist keine Witzfigur, er ist ein der Sinnlichkeit verfallener Intellektueller, dem das eigene Gewicht zum Rätsel wird.
Die Sinnlichkeit jenseits des Tellerrands hält für ihn Kummer bereit. Er findet es "bestürzend, daß der einzige Mensch, den es je nach ihm gelüstet hatte, ein Mann und Fett-Fetischist war". Immerhin, eine befreundete Redaktionskollegin möchte mit ihm schlafen, wenn er hundert Pfund abnimmt. Durch eine hingebungsvolle Hungerkur kommt Burl wieder in den Meßbereich der Badezimmerwaage und erleidet dann einen verheerenden Rückfall in die Gefräßigkeit. Es bleibt nicht bei solchen Skizzen aus dem übergewichtigen Alltag. Eines Tages stößt Burl beim Betreten eines Restaurants mit einem Mann zusammen, ein Mafia-Killer, der gerade drei Gäste erschossen hat. Burl erklärt sich vorschnell bereit zu Zeugenaussage und Täter-Identifizierung. Bald schon geschieht Merkwürdiges; sein Auto explodiert bei Nacht, in einer Kneipe stellt sich ein Unbekannter als "Sensenmann" vor und bläst ihm mit einem Atem "wie Müllgestank im Sommer" Drohungen ins Gesicht.
Nach der Thriller-Einlage entwickelt sich das Buch, typisch amerikanisch und doch auf bisher ungekannte Weise, zur "road novel". Burl verwischt die Spuren hinter sich und fährt ziellos Richtung Westen, von einem Restaurant zum anderen - die Vereinigten Staaten werden ihm zu einer "endlos langen Feinkostvitrine". Die Parallelisierung ist unmißverständlich. Der Zweihundert-Kilo-Mann mit dem ungeheuren Appetit soll als Allegorie auf die Vereinigten Staaten verstanden werden.
Dabei wird das amerikanische Panorama in einer Doppelperspektive gegeben. Das Profane verlangt nach dem Heiligen, die Sinnlichkeit nach dem Sinn; erst kommt das Essen, dann die Religion. Amerika ist nicht nur das Land der Übergewichtigen, sondern auch das der eintausendvierhundert Sekten. Daß Burl mit seiner Eßsucht ein höheres Ungenügen beschwichtigt, daß er mit den Dreifach-Portionen nicht nur die Leere seines Magens füllt, macht der Roman durch eine verzweigte religiöse Motivik deutlich. Alltagssprachliche Floskeln ("es ist schwer, in der Stadt ein Heiliger zu sein") lassen bald ebenso aufhorchen wie die sprechenden Namen; wichtige Personen, denen Burl auf seiner Reise begegnet, heißen "Engel" oder "Wanda" (wonder). Akst stellte dem Roman eine Sentenz aus John Bunyans "Pilgrim's Progress" voran: Die Reise durch Amerika ist eine moderne Pilgerfahrt, ein komödienhaftes und ernstes Wechselspiel von Spiritualität und Erdenschwere.
Burls eigenwilligstes literarisches Projekt ist entsprechend ein episches Gedicht über Joseph Smith, den Gründer der Mormonen-Sekte, das die "Rolle des Propheten in der modernen Welt" beschreiben soll. Jetzt sieht Burl die Gelegenheit gekommen, Smiths Spuren zu folgen und der Route des Mormonen-Trecks nachzufahren, der nach einer Flucht über den halben Kontinent in der Salzwüste hinter den Rocky Mountains sein Land der Verheißung fand. Den Gegensätzen zuliebe erfolgt vor Burls Ankunft in Salt Lake City - "ein Ort mit einem Heiligenschein, es lag etwas Himmlisches in der Luft" - noch ein Abstecher in den Sündenpfuhl. Las Vegas, die Heimstätte von Habgier, Egoismus und Lust, "schaffte es, menschliche Gelüste uninteressant zu machen. Nach einer Weile war Burl nicht mal mehr hungrig."
In jedem Dicken steckt ein Dünner, der herauswill. In Salt Lake City entschließt sich Burl zur chirurgischen Magenverkleinerung. In kurzer Zeit wird er um ein volles Männergewicht leichter; die Suche aber ist nicht zu Ende. Nachdem die überschüssigen Hautlappen, die ihn "wie eine schmelzende Kerze" aussehen lassen, wegoperiert sind, geht er eine Beziehung mit einer Frau ein und gerät dabei in eine kuriose kleine Abweichler-Sekte, sozusagen die Mormonen der Mormonen. Angeführt wird der Kult von einer gewissen Mutter Witness, "Witwe eines Vertreters für Badewannen-Verkleidungen". Auch in diesem Milieu wird Burl nicht heimisch.
Er lebt eine Weile unter Obdachlosen auf der Straße, dann legt er sich eine neue Identität zu und inszeniert den Tod von Burl Bennett. Wieder in New York, ist er auf seiner eigenen Beerdigung der geheimnisvolle sonnenbebrillte Gast, den die Verwandten für einen Freund, die Freunde für einen Verwandten halten. Weiterhin unerkannt, erobert er Norma, jene Frau, für die Burl einst vergeblich hungerte. Auch diese Beziehung läuft bald aus dem Ruder. Nun ist es Norma, die rachsüchtig-liebevoll in die Freßsucht getrieben wird und nachts mit glasigen Augen vor dem Kühlschrank hockt.
Es folgen Verwicklungen und ihre Auflösung; auf den letzten hundert Seiten ist der Roman allzu erfinderisch, allzu verwandlungsreich, die Identitäten verrutschen leicht, die Todes- und Auferstehungsmotivik wird überstrapaziert. Unbefriedigend auch, wenn nach der religiösen Pilgerfahrt zur Psychologie gewechselt und der Fahrstuhl in die frühe Kindheit bestiegen wird, wo lebensprägende, das Rätsel des Übergewichts auflösende Geheimnisse der Aufdeckung harren.
Man kann Daniel Akst vorwerfen, daß er zuviel will. Sein Buch soll "road novel" sein und Familiendrama, Kriminalstory und Passionsspiel, Großstadtroman und Exkursion in die Provinzen der Sektierer, Satire auf den Schlankheitswahn und religiöse Allegorie und noch eine vertrackte Liebesgeschichte. Das Heterogene wird nicht immer glücklich verschmolzen. Aber zuviel ist, mit Burl gesprochen, besser als zuwenig. Akst hat, modische Körpertheorie glücklich vermeidend, ein überzeugendes Buch über den Körper, die Extreme der Körpererfahrung und den Kampf mit dem eigenen Körper geschrieben, ein sinnliches und welthaltiges, ein eindringliches und ungewöhnliches Debüt. WOLFGANG SCHNEIDER
Daniel Akst: "Nachruf auf den heiligen B.". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Strand. Deuticke Verlag, Wien 1998. 399 S., geb., 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Opulent: Daniel Akst und sein "Nachruf auf den heiligen B."
Die Leser werden nicht zahlreicher, aber immer mehr Romane konkurrieren um ihre Gunst. Da mag das zielgruppenorientierte Buch - der Roman für Raucher, der Frauen-Krimi, die Novelle für Fußballfreunde oder Toskanaliebhaber - eine Möglichkeit sein, durchzudringen. Der in Hollywood lebende Journalist Daniel Akst scheint mit seinem ersten Roman "Nachruf auf den heiligen B." ein solches Buch geschrieben zu haben: für alle, denen das eigene Gewicht zum Problem geworden ist, vom Pölsterchen bis zur Fettleibigkeit. Burl Bennett, der Held des Buches, bringt es zwischenzeitlich auf knapp fünfhundert Pfund. Dicke Hauptfiguren gibt es öfter; selten aber wurde Körperfülle zum Zentralereignis eines Romans, sind Lust und Last des ohne Unterlaß Essenden derart ausschweifend beschrieben worden - mit einem literarischen Können, das schnell hinausführt über die Zielgruppenverständigung.
Der Stoff bietet, da ist der Name des Helden Programm, viel Burleskes. Gelegentlich bleibt Burl zur Rush-hour im U-Bahn-Drehkreuz stecken, oder er klemmt in einer Hotelzimmertür fest, woraus ihn die Feuerwehr mit der Elektrosäge befreien muß. Aber Burl ist keine Karikatur. Seine Eßsucht wird, bei aller Komik, nicht als Comedy-Nummer, sondern als eine Passion inszeniert; seine exzessiven und sublimen Mahlzeiten sind Räusche, die Erniedrigung und Selbstverachtung nach sich ziehen. Burl verfügt über virtuose Geschmackssinne und einen Bauch von erstaunlichem Fassungsvermögen, aber auch über einen denkenden Kopf. Er ist Journalist und Sachbuchautor, Spezialist für Nachrufe bei einer New Yorker Zeitung, und er hat literarische Ambitionen. Dieser Verfressene ist keine Witzfigur, er ist ein der Sinnlichkeit verfallener Intellektueller, dem das eigene Gewicht zum Rätsel wird.
Die Sinnlichkeit jenseits des Tellerrands hält für ihn Kummer bereit. Er findet es "bestürzend, daß der einzige Mensch, den es je nach ihm gelüstet hatte, ein Mann und Fett-Fetischist war". Immerhin, eine befreundete Redaktionskollegin möchte mit ihm schlafen, wenn er hundert Pfund abnimmt. Durch eine hingebungsvolle Hungerkur kommt Burl wieder in den Meßbereich der Badezimmerwaage und erleidet dann einen verheerenden Rückfall in die Gefräßigkeit. Es bleibt nicht bei solchen Skizzen aus dem übergewichtigen Alltag. Eines Tages stößt Burl beim Betreten eines Restaurants mit einem Mann zusammen, ein Mafia-Killer, der gerade drei Gäste erschossen hat. Burl erklärt sich vorschnell bereit zu Zeugenaussage und Täter-Identifizierung. Bald schon geschieht Merkwürdiges; sein Auto explodiert bei Nacht, in einer Kneipe stellt sich ein Unbekannter als "Sensenmann" vor und bläst ihm mit einem Atem "wie Müllgestank im Sommer" Drohungen ins Gesicht.
Nach der Thriller-Einlage entwickelt sich das Buch, typisch amerikanisch und doch auf bisher ungekannte Weise, zur "road novel". Burl verwischt die Spuren hinter sich und fährt ziellos Richtung Westen, von einem Restaurant zum anderen - die Vereinigten Staaten werden ihm zu einer "endlos langen Feinkostvitrine". Die Parallelisierung ist unmißverständlich. Der Zweihundert-Kilo-Mann mit dem ungeheuren Appetit soll als Allegorie auf die Vereinigten Staaten verstanden werden.
Dabei wird das amerikanische Panorama in einer Doppelperspektive gegeben. Das Profane verlangt nach dem Heiligen, die Sinnlichkeit nach dem Sinn; erst kommt das Essen, dann die Religion. Amerika ist nicht nur das Land der Übergewichtigen, sondern auch das der eintausendvierhundert Sekten. Daß Burl mit seiner Eßsucht ein höheres Ungenügen beschwichtigt, daß er mit den Dreifach-Portionen nicht nur die Leere seines Magens füllt, macht der Roman durch eine verzweigte religiöse Motivik deutlich. Alltagssprachliche Floskeln ("es ist schwer, in der Stadt ein Heiliger zu sein") lassen bald ebenso aufhorchen wie die sprechenden Namen; wichtige Personen, denen Burl auf seiner Reise begegnet, heißen "Engel" oder "Wanda" (wonder). Akst stellte dem Roman eine Sentenz aus John Bunyans "Pilgrim's Progress" voran: Die Reise durch Amerika ist eine moderne Pilgerfahrt, ein komödienhaftes und ernstes Wechselspiel von Spiritualität und Erdenschwere.
Burls eigenwilligstes literarisches Projekt ist entsprechend ein episches Gedicht über Joseph Smith, den Gründer der Mormonen-Sekte, das die "Rolle des Propheten in der modernen Welt" beschreiben soll. Jetzt sieht Burl die Gelegenheit gekommen, Smiths Spuren zu folgen und der Route des Mormonen-Trecks nachzufahren, der nach einer Flucht über den halben Kontinent in der Salzwüste hinter den Rocky Mountains sein Land der Verheißung fand. Den Gegensätzen zuliebe erfolgt vor Burls Ankunft in Salt Lake City - "ein Ort mit einem Heiligenschein, es lag etwas Himmlisches in der Luft" - noch ein Abstecher in den Sündenpfuhl. Las Vegas, die Heimstätte von Habgier, Egoismus und Lust, "schaffte es, menschliche Gelüste uninteressant zu machen. Nach einer Weile war Burl nicht mal mehr hungrig."
In jedem Dicken steckt ein Dünner, der herauswill. In Salt Lake City entschließt sich Burl zur chirurgischen Magenverkleinerung. In kurzer Zeit wird er um ein volles Männergewicht leichter; die Suche aber ist nicht zu Ende. Nachdem die überschüssigen Hautlappen, die ihn "wie eine schmelzende Kerze" aussehen lassen, wegoperiert sind, geht er eine Beziehung mit einer Frau ein und gerät dabei in eine kuriose kleine Abweichler-Sekte, sozusagen die Mormonen der Mormonen. Angeführt wird der Kult von einer gewissen Mutter Witness, "Witwe eines Vertreters für Badewannen-Verkleidungen". Auch in diesem Milieu wird Burl nicht heimisch.
Er lebt eine Weile unter Obdachlosen auf der Straße, dann legt er sich eine neue Identität zu und inszeniert den Tod von Burl Bennett. Wieder in New York, ist er auf seiner eigenen Beerdigung der geheimnisvolle sonnenbebrillte Gast, den die Verwandten für einen Freund, die Freunde für einen Verwandten halten. Weiterhin unerkannt, erobert er Norma, jene Frau, für die Burl einst vergeblich hungerte. Auch diese Beziehung läuft bald aus dem Ruder. Nun ist es Norma, die rachsüchtig-liebevoll in die Freßsucht getrieben wird und nachts mit glasigen Augen vor dem Kühlschrank hockt.
Es folgen Verwicklungen und ihre Auflösung; auf den letzten hundert Seiten ist der Roman allzu erfinderisch, allzu verwandlungsreich, die Identitäten verrutschen leicht, die Todes- und Auferstehungsmotivik wird überstrapaziert. Unbefriedigend auch, wenn nach der religiösen Pilgerfahrt zur Psychologie gewechselt und der Fahrstuhl in die frühe Kindheit bestiegen wird, wo lebensprägende, das Rätsel des Übergewichts auflösende Geheimnisse der Aufdeckung harren.
Man kann Daniel Akst vorwerfen, daß er zuviel will. Sein Buch soll "road novel" sein und Familiendrama, Kriminalstory und Passionsspiel, Großstadtroman und Exkursion in die Provinzen der Sektierer, Satire auf den Schlankheitswahn und religiöse Allegorie und noch eine vertrackte Liebesgeschichte. Das Heterogene wird nicht immer glücklich verschmolzen. Aber zuviel ist, mit Burl gesprochen, besser als zuwenig. Akst hat, modische Körpertheorie glücklich vermeidend, ein überzeugendes Buch über den Körper, die Extreme der Körpererfahrung und den Kampf mit dem eigenen Körper geschrieben, ein sinnliches und welthaltiges, ein eindringliches und ungewöhnliches Debüt. WOLFGANG SCHNEIDER
Daniel Akst: "Nachruf auf den heiligen B.". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Strand. Deuticke Verlag, Wien 1998. 399 S., geb., 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main