Zeitlebens hat Olof im Schatten seines selbstbewussten Bruders Carl gestanden. Carl war der Liebling der Mutter, der allerdings in Ungnade fiel, als er mit seiner Frau Klara (mit der Olof seine eigene Geschichte hat) und den beiden Söhnen in die USA auswanderte. Viele Jahre später treffen die ungleichen Brüder am Sterbebett der Mutter wieder aufeinander, in ihrem Landhaus in den südfinnischen Schären - und mit ihnen ihre Familien, alte Rivalitäten und Träume, Fehler und Versäumnisse. Es dauert nicht lange, bis der Frieden des Spätsommers, der über der Insel liegt, brüchig wird. Gerade noch rechtzeitig erkennt Olof, dass der Moment gekommen ist, um aus dem Schatten seines Bruders herauszutreten.Mit behutsamem Strich zeichnet Johan Bargum das Porträt einer Familie und lotet das Verhältnis zweier Brüder aus, die sich gegenseitig fremd geworden sind.'Nachsommer' ist ein leises Buch, das doch lange nachhallt, melancholisch und gleichzeitig voller Witz, abgründig und ebenso lebensbejahend.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2018Hört denn die Bruderrivalität nie auf?
Johan Bargum verschreibt sich in "Nachsommer" der Familienpsychologie
Familienstudien geraten gerne zu dicken Wälzern. In diesem Fall ist das anders. Das Büchlein "Nachsommer", das Johan Bargum, ein zur schwedischsprachigen Minderheit zählender finnischer Autor, im Original bereits 1993 vorlegte, ist kaum 140 Seiten lang und trotz des aufgesetzten philosophischen Auftakts so leicht erzählt, dass man es in wenigen Stunden durchliest.
Die Handlung spielt in einer Zeit, in der an der Ostseeküste die Stille einkehrt. Zwei Brüder, die sich lange nicht sahen und in einem schwierigen Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, treffen aufeinander. Ihr Leben wurde einst durch den frühen Tod ihres Vaters erschüttert, ohne dass "Onkel" Tom, ein gutmütiger Arzt, diese Lücke als Ersatzvater ausfüllen durfte: "Mutter und er waren nicht richtig zusammen, nicht so, wie sie und Papa es gewesen waren." Er hat es trotzdem versucht.
Nun ist die Mutter alt und todkrank. Sie wird aus dem Krankenhaus entlassen, um in ihrem Sommerhaus am Meer sterben zu können. Tom ist bei ihr. Auch eine strickende Krankenschwester namens Heidi. Vor allem aber die erwachsenen Söhne Olof, der die Geschichte erzählt, und Carl, der in Amerika lebt und etwas später eintrifft.
Diese Brüder könnten unterschiedlicher nicht sein. Hier der Geisteswissenschaftler, der sein Geld mit Konzertkritiken verdient, philosophisch veranlagt ist und daran knabbert, dass man das Leben nicht einmal rückwärts verstehen kann, aber vorwärts leben soll. Dort der betont rationale, bei einem amerikanischen Großkonzern arbeitende Computerexperte, ein Mann der neuen Zeit.
Olof ist der zögerliche Alleinstehende, der auch nach Jahren noch grübelt, weshalb er sich in bestimmten Situationen nicht verhalten hat, wie es für alle besser gewesen wäre. Carl wiederum ist der Familienvater, der gleich bei Ankunft die Modernisierung des alten Hauses durchdenkt und augenblicklich anpackt, sobald ihm die abblätternde Farbe am Fahnenmast auffällt: "Ich durfte den Handlanger spielen."
Momente wie dieser setzen Olof ordentlich zu. Er ist älter als Carl. Aber selbst körperlich hat ihn sein Bruder schon früh überholt; das dokumentieren etwa die Bleistiftstriche an der alten Kinderzimmertür. Carl wurde auch von Mutter immer bevorzugt (was nicht unbedingt heißt, dass das Verhältnis zwischen der Mutter und ihm unbeschwert wäre). Und auch Carls Verlobte Klara, mit der Olof mal im Bett gelandet ist, sah in diesem damals eher den kleinen als den großen Bruder. Damit war der Moment hin, in dem Olof seinen Minderwertigkeitskomplex für einige Minuten abgestreift hatte.
Klara begleitet ihren Mann ins Häuschen am Meer. Ihre Kinder streifen durch den verwachsenen Garten, während sich die Brüder begegnen, Olof in Erinnerungen versinkt und Carl, der Kühle, eine unterschwellige Aggressivität mit sich bringt, von der man weder weiß, ob sie wirklich ausbrechen wird, noch woher genau sie eigentlich stammt. Vielleicht hat diese Aggressivität mit Carls Kindheit mehr als mit Klara zu tun, mit Olofs Verhalten nach dem Tod des Vaters mehr als mit der Situation am Sterbebett der Mutter, die für jeden eine Herausforderung ist. Olof hat vor seinem Bruder jedenfalls "noch immer so eine Heidenangst". Und die Story damit sogar noch einen Hauch Spannung, der das stille Geschehen im Haus, im Garten und auf dem Wasser fortwährend durchzieht und die sterbende Mutter zu einer Hintergrundfigur werden lässt.
Wie Johan Bargums "Septembernovelle", die 2014 auf Deutsch erschien, besticht auch "Nachsommer" durch eine sehr aufgeräumte, sehr klare und bewusst knapp gehaltene Sprache. Die Szenen sind prägnant, die psychologischen Beobachtungen fein. Und ja, der Schluss driftet etwas zu stark ins Gefühlige ab. Aber das ist eben so, im Spätsommer, wenn die Schatten länger und die Geräte in die Schuppen geräumt werden und selbst die Gänse angesichts der Kälte die Küste verlassen. Irgendwann muss man sich einen Ruck geben, abschließen und aufbrechen.
MATTHIAS HANNEMANN
Johan Bargum: "Nachsommer". Roman.
Aus dem Schwedischen von Karl-Ludwig Wetzig. Mare Verlag, Hamburg 2018. 144 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Johan Bargum verschreibt sich in "Nachsommer" der Familienpsychologie
Familienstudien geraten gerne zu dicken Wälzern. In diesem Fall ist das anders. Das Büchlein "Nachsommer", das Johan Bargum, ein zur schwedischsprachigen Minderheit zählender finnischer Autor, im Original bereits 1993 vorlegte, ist kaum 140 Seiten lang und trotz des aufgesetzten philosophischen Auftakts so leicht erzählt, dass man es in wenigen Stunden durchliest.
Die Handlung spielt in einer Zeit, in der an der Ostseeküste die Stille einkehrt. Zwei Brüder, die sich lange nicht sahen und in einem schwierigen Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, treffen aufeinander. Ihr Leben wurde einst durch den frühen Tod ihres Vaters erschüttert, ohne dass "Onkel" Tom, ein gutmütiger Arzt, diese Lücke als Ersatzvater ausfüllen durfte: "Mutter und er waren nicht richtig zusammen, nicht so, wie sie und Papa es gewesen waren." Er hat es trotzdem versucht.
Nun ist die Mutter alt und todkrank. Sie wird aus dem Krankenhaus entlassen, um in ihrem Sommerhaus am Meer sterben zu können. Tom ist bei ihr. Auch eine strickende Krankenschwester namens Heidi. Vor allem aber die erwachsenen Söhne Olof, der die Geschichte erzählt, und Carl, der in Amerika lebt und etwas später eintrifft.
Diese Brüder könnten unterschiedlicher nicht sein. Hier der Geisteswissenschaftler, der sein Geld mit Konzertkritiken verdient, philosophisch veranlagt ist und daran knabbert, dass man das Leben nicht einmal rückwärts verstehen kann, aber vorwärts leben soll. Dort der betont rationale, bei einem amerikanischen Großkonzern arbeitende Computerexperte, ein Mann der neuen Zeit.
Olof ist der zögerliche Alleinstehende, der auch nach Jahren noch grübelt, weshalb er sich in bestimmten Situationen nicht verhalten hat, wie es für alle besser gewesen wäre. Carl wiederum ist der Familienvater, der gleich bei Ankunft die Modernisierung des alten Hauses durchdenkt und augenblicklich anpackt, sobald ihm die abblätternde Farbe am Fahnenmast auffällt: "Ich durfte den Handlanger spielen."
Momente wie dieser setzen Olof ordentlich zu. Er ist älter als Carl. Aber selbst körperlich hat ihn sein Bruder schon früh überholt; das dokumentieren etwa die Bleistiftstriche an der alten Kinderzimmertür. Carl wurde auch von Mutter immer bevorzugt (was nicht unbedingt heißt, dass das Verhältnis zwischen der Mutter und ihm unbeschwert wäre). Und auch Carls Verlobte Klara, mit der Olof mal im Bett gelandet ist, sah in diesem damals eher den kleinen als den großen Bruder. Damit war der Moment hin, in dem Olof seinen Minderwertigkeitskomplex für einige Minuten abgestreift hatte.
Klara begleitet ihren Mann ins Häuschen am Meer. Ihre Kinder streifen durch den verwachsenen Garten, während sich die Brüder begegnen, Olof in Erinnerungen versinkt und Carl, der Kühle, eine unterschwellige Aggressivität mit sich bringt, von der man weder weiß, ob sie wirklich ausbrechen wird, noch woher genau sie eigentlich stammt. Vielleicht hat diese Aggressivität mit Carls Kindheit mehr als mit Klara zu tun, mit Olofs Verhalten nach dem Tod des Vaters mehr als mit der Situation am Sterbebett der Mutter, die für jeden eine Herausforderung ist. Olof hat vor seinem Bruder jedenfalls "noch immer so eine Heidenangst". Und die Story damit sogar noch einen Hauch Spannung, der das stille Geschehen im Haus, im Garten und auf dem Wasser fortwährend durchzieht und die sterbende Mutter zu einer Hintergrundfigur werden lässt.
Wie Johan Bargums "Septembernovelle", die 2014 auf Deutsch erschien, besticht auch "Nachsommer" durch eine sehr aufgeräumte, sehr klare und bewusst knapp gehaltene Sprache. Die Szenen sind prägnant, die psychologischen Beobachtungen fein. Und ja, der Schluss driftet etwas zu stark ins Gefühlige ab. Aber das ist eben so, im Spätsommer, wenn die Schatten länger und die Geräte in die Schuppen geräumt werden und selbst die Gänse angesichts der Kälte die Küste verlassen. Irgendwann muss man sich einen Ruck geben, abschließen und aufbrechen.
MATTHIAS HANNEMANN
Johan Bargum: "Nachsommer". Roman.
Aus dem Schwedischen von Karl-Ludwig Wetzig. Mare Verlag, Hamburg 2018. 144 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main