Lissabon in einer Novembernacht 1942. Portugal hat ein britisches Ultimatum erhalten, in den Krieg einzutreten, doch der Machthaber Salazar zögert, noch liebäugelt er mit der faschistischen Achse. Angst vor dem Einmarsch der Nazis oder der Bombardierung durch die Alliierten bemächtigt sich der Stadt, die von Fremden wimmelt: Diplomaten in geheimer Mission, Spione beider Seiten, jüdische Flüchtlinge aus ganz Europa. Deren Hoffnung richtet sich auf die Boa Esperança, das letzte Schiff, das die Rettung vor der Deportation in die Konzentrationslager verspricht. In dieser angespannten Lage, wo jeder jeden verdächtigt, bangt der argentinische Konsul um die Ankunft einer großen Hilfslieferung aus Buenos Aires er weiß nur zu gut, welch gefährlichen Auftrag er damit verfolgt und warum er sich darauf eingelassen hat. Und ist es nicht der blutjunge, undurchsichtige Ricardo de Sanctis, "Auserwählter" des Lissabonner Kardinals, der in Wahrheit die Fäden zieht? Unterwegs in der Nacht ist auch der von seinen eigenen Dämonen getriebene Sekretär der Gesandtschaft; er soll seine Landsleute, die Tangokünstler Enrique Santos Discépolo und seine Ehefrau Tania, sicher durch die von Gerüchten aufgewühlte Stadt begleiten. Aber die beiden haben ihre eigenen Pläne, die nicht ans Licht wollen. Noch vor Mitternacht verlassen sie das Fadolokal Gondarém am Hafen, wo sich gegen alle Furcht die Lebenslust aufbäumt.
Sie alle, Akteure und Mitgerissene, tragen in dieser Nacht ihre Geheimnisse mit sich, ihre Ängste und Begierden, suchen Ohren für ihre Bekenntnisse, ringen mit ihren alten Geschichten. Schließlich explodiert auf der Boa Esperança eine Bombe, und die Ereignisse überstürzen sich.
Sie alle, Akteure und Mitgerissene, tragen in dieser Nacht ihre Geheimnisse mit sich, ihre Ängste und Begierden, suchen Ohren für ihre Bekenntnisse, ringen mit ihren alten Geschichten. Schließlich explodiert auf der Boa Esperança eine Bombe, und die Ereignisse überstürzen sich.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2010Die dunklen Seiten der hellsten Absichten
Ein Roman wie ein Kronleuchter: Leopoldo Brizuela verkuppelt in seinem Roman „Nacht über Lissabon“ den Tango und den Fado, spart nicht
mit Intrigen und Enthüllungen und macht die virtuos-maliziöse Erzählerstimme zur unwiderstehlichen Hauptfigur Von Jutta Person
So viel Glanz und Elend, Verschwörung, Spionage, Geständnis und Erlösung waren lange nicht mehr in einem Roman; und so viel Ironie, Charme und Kulissenschieberei auch nicht. Denn der argentinische Autor Leopoldo Brizuela, geboren 1963 in La Plata, ist ein Bühnenmeister, der seine hochtheatralischen Figuren mit einer Art Warnblinksystem ausstaffiert hat: „Alles geschauspielert“, leuchtet es aus jeder Szene dieses überbordenden 700-Seiten-Romans. „Nacht über Lissabon“ hat im Spanischen den Titel „Lisboa, un melodrama“, und das Melodramatische bringt die Kopplung von großem Gefühl und großem Auftritt genau auf den Punkt. Der belustigte Seitenblick ist dabei mit eingebaut, ohne dass die Figuren der Lächerlichkeit preisgegeben würden (einzige Ausnahme: ein Militärattaché in Galauniform) –, denn dafür ist das Spiel viel zu ernst.
Alles dreht sich um die Nacht vom 17. auf den 18. November 1942. Im Hafen von Lissabon liegen zwei Schiffe. Das eine ist die Boa Esperança , die den Flüchtlingen aus ganz Europa eine letzte Rettung nach Buenos Aires verspricht. Noch ist Portugal neutral, aber Diktator Salazar, der zwischen den Achsenmächten und den Alliierten laviert, soll in dieser Nacht zur Parteinahme gezwungen werden. Das zweite Schiff ist ein argentinischer Hilfsfrachter mit einer Ladung Weizen, die aber noch nicht gelöscht werden darf, weil die Adressaten nicht klar benannt sind. Ein Bombenanschlag auf die Boa Esperança lässt die Stadt im Chaos versinken: Flüchtlingsströme treiben durch die Hafengassen, und die Geheimagenten arbeiten auf Hochtouren.
Den Weizen hat der argentinische Konsul Eduardo Cantilo, genannt „der Wohltäter“, mit seinem Privatvermögen finanziert. Dass er die Ladung den jüdischen Flüchtlingen spenden will, hat persönliche – kann man sagen: egoistische? – Gründe, weil Cantilo auch sein schlechtes Gewissen zu beruhigen versucht. Der Gedanke an einen verleugneten Sohn quält ihn, sein großes Lebensgeheimnis. Auf den ersten Seiten des Romans ist von „der dunklen Seite der guten Absichten“ die Rede, und weil jede der etwa zwanzig Hauptfiguren ein düsteres Geheimnis hat, geht es immer tiefer hinunter in seelische Abgründe.
In der Novembernacht wird Cantilo von einem dubiosen Dandy namens Ricardo zu einem Geheimtreffen entführt. Will Ricardo die jüdischen Flüchtlinge retten, ist er ein Naziagent oder ein wahnsinniger Doppelspieler? Und wie steht er zum Bischof von Lissabon, den er mit einem zärtlichen Spitznamen anspricht?
In der argentinischen Residenz werden derweil der Tango-Komponist Enrique Santos Discépolo und seine Frau Tania gefeiert. Zuvor hatte die prominente Runde in der Bordell-Bar „Gondarém“ der Fadosängerin Amália gelauscht, jetzt singt Tania den Tango „Secreto“. Ein gigantischer Lüster, granatrote Sofas, Kristallgläser, Champagner, Brillanten – vor die prächtig-schwülstige Kulisse schiebt sich jäh eine andere, die des Bombenattentats im Hafen.
Wie Leopoldo Brizuela im dann folgenden Geheimnisgewimmel aus Tango und Fado, Diplomaten, Anarchisten, Kriminellen, Spiritisten, Kastraten, Jesuiten, Lebedamen, schwulen Maestros und zwangsheterosexuellen Homo-Hassern die Grenzen einreißt – das lässt immer mehr an eine psychoaktive Barocktapete denken. Jedes seelische Ornament kräuselt sich nachtschattengewächsartig zum Verbrechen, hinter jeder ausladenden Spannungskurve folgt ein noch geheimeres Geheimnis. Der emotionale Wellengang erinnert an Filme von Pedro Almodóvar, und der deutlich ausgestellte Kulissenzauber nennt seine literarischen Vorbilder gleich selbst beim Namen: moderne Klassiker wie Luigi Pirandello zum Beispiel, der die Schauspieler als Schauspieler auftreten ließ.
Und noch einen klassisch-modernen Erzählkniff hat Brizuela parat, ähnlich wie in seinem vor sechs Jahren erschienenen Shakespeare-Roman „Inglaterra“: Zwischen Tatsachen und Fiktionen passt kein Blatt, auch hier soll alles im Nebulösen schwimmen. Brizuelas Konsul Eduardo Cantilo zum Beispiel gibt es nicht in der Wirklichkeit, wohl aber den (nicht genannten) argentinischen Außenminister José Maria Cantilo, der 1938 seine Diplomaten anwies, keine Visa an Juden und politische Flüchtlinge auszustellen. Diese Direktive wiederum liefert dem Roman ein historisches Grundmuster. Ähnlich die „Operation Willi“: 1940 sollte Edward VIII., der Herzog von Wales, in der Nähe von Lissabon entführt werden. Brizuela spinnt aus dieser bizarren, aber wenig bekannten Nazi-Intrige ein verschwörungstheoretisches Netz, bei dem der Klerus eine interessante Rolle spielt.
Die Beichte und der Geständniszwang werden zur literarischen Textmaschine, denn alle reden, als gäbe es kein Morgen. Bei siebenhundert Seiten ist die entsprechende Hörlust der Leser irgendwann erschlafft, könnte man meinen. Aber falsch gedacht. Es sind nicht die Dauerenthüllungen, die den Roman ausmachen, es ist die maliziöse Erzählstimme mit ihrer detailversessenen, noch das kleinste Nebengeräusch umschnörkelnden Sprechweise.
Thomas Brovots schwungvolle Übersetzung kennt „japsende Dickenstimmen“, bescheinigt den Lissabonnern „hummelige Geschäftigkeit“ und lässt den Konsul „im Klingklang von Tassen und Löffeln“ innehalten. Alltagsphysik hört sich so an: „Das Wasser im Kessel begann zögernd und dann immer rascher zu brodeln, wie eine Katze, die man aus dem Schlaf heraus zum Schnurren bringt.“ In Brizuelas „Nacht über Lissabon“ wird selbst noch der Wasserkocher mit Pelz umkleidet, und genau darin, in der kalkulierten Übertreibung, liegt der Reiz dieses Geräuschtheaters.
Leopoldo Brizuela
Nacht über Lissabon
Roman. Aus dem Spanischen von
Thomas Brovot. Insel Verlag,
Berlin 2010. 724 Seiten, 24,90 Euro.
Der emotionale Wellengang
in diesem Roman erinnert an
Filme von Pedro Almodóvar
Durch das
Geräuschtheater
in Leopoldo Brizuelas turbulentem Lissabon-Roman hallt das Echo „japsender
Dickenstimmen“, die Bewohner der Stadt sind von „hummeliger
Geschäftigkeit“
getrieben, und das brodelnde Wasser im Kessel klingt „wie eine Katze, die man aus dem Schlaf heraus zum Schnurren bringt“. In unserer Abbildung fällt der Blick
auf Alfama, den ältesten Stadtteil Lissabons.
Foto: Rudolf
Dietrich
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Roman wie ein Kronleuchter: Leopoldo Brizuela verkuppelt in seinem Roman „Nacht über Lissabon“ den Tango und den Fado, spart nicht
mit Intrigen und Enthüllungen und macht die virtuos-maliziöse Erzählerstimme zur unwiderstehlichen Hauptfigur Von Jutta Person
So viel Glanz und Elend, Verschwörung, Spionage, Geständnis und Erlösung waren lange nicht mehr in einem Roman; und so viel Ironie, Charme und Kulissenschieberei auch nicht. Denn der argentinische Autor Leopoldo Brizuela, geboren 1963 in La Plata, ist ein Bühnenmeister, der seine hochtheatralischen Figuren mit einer Art Warnblinksystem ausstaffiert hat: „Alles geschauspielert“, leuchtet es aus jeder Szene dieses überbordenden 700-Seiten-Romans. „Nacht über Lissabon“ hat im Spanischen den Titel „Lisboa, un melodrama“, und das Melodramatische bringt die Kopplung von großem Gefühl und großem Auftritt genau auf den Punkt. Der belustigte Seitenblick ist dabei mit eingebaut, ohne dass die Figuren der Lächerlichkeit preisgegeben würden (einzige Ausnahme: ein Militärattaché in Galauniform) –, denn dafür ist das Spiel viel zu ernst.
Alles dreht sich um die Nacht vom 17. auf den 18. November 1942. Im Hafen von Lissabon liegen zwei Schiffe. Das eine ist die Boa Esperança , die den Flüchtlingen aus ganz Europa eine letzte Rettung nach Buenos Aires verspricht. Noch ist Portugal neutral, aber Diktator Salazar, der zwischen den Achsenmächten und den Alliierten laviert, soll in dieser Nacht zur Parteinahme gezwungen werden. Das zweite Schiff ist ein argentinischer Hilfsfrachter mit einer Ladung Weizen, die aber noch nicht gelöscht werden darf, weil die Adressaten nicht klar benannt sind. Ein Bombenanschlag auf die Boa Esperança lässt die Stadt im Chaos versinken: Flüchtlingsströme treiben durch die Hafengassen, und die Geheimagenten arbeiten auf Hochtouren.
Den Weizen hat der argentinische Konsul Eduardo Cantilo, genannt „der Wohltäter“, mit seinem Privatvermögen finanziert. Dass er die Ladung den jüdischen Flüchtlingen spenden will, hat persönliche – kann man sagen: egoistische? – Gründe, weil Cantilo auch sein schlechtes Gewissen zu beruhigen versucht. Der Gedanke an einen verleugneten Sohn quält ihn, sein großes Lebensgeheimnis. Auf den ersten Seiten des Romans ist von „der dunklen Seite der guten Absichten“ die Rede, und weil jede der etwa zwanzig Hauptfiguren ein düsteres Geheimnis hat, geht es immer tiefer hinunter in seelische Abgründe.
In der Novembernacht wird Cantilo von einem dubiosen Dandy namens Ricardo zu einem Geheimtreffen entführt. Will Ricardo die jüdischen Flüchtlinge retten, ist er ein Naziagent oder ein wahnsinniger Doppelspieler? Und wie steht er zum Bischof von Lissabon, den er mit einem zärtlichen Spitznamen anspricht?
In der argentinischen Residenz werden derweil der Tango-Komponist Enrique Santos Discépolo und seine Frau Tania gefeiert. Zuvor hatte die prominente Runde in der Bordell-Bar „Gondarém“ der Fadosängerin Amália gelauscht, jetzt singt Tania den Tango „Secreto“. Ein gigantischer Lüster, granatrote Sofas, Kristallgläser, Champagner, Brillanten – vor die prächtig-schwülstige Kulisse schiebt sich jäh eine andere, die des Bombenattentats im Hafen.
Wie Leopoldo Brizuela im dann folgenden Geheimnisgewimmel aus Tango und Fado, Diplomaten, Anarchisten, Kriminellen, Spiritisten, Kastraten, Jesuiten, Lebedamen, schwulen Maestros und zwangsheterosexuellen Homo-Hassern die Grenzen einreißt – das lässt immer mehr an eine psychoaktive Barocktapete denken. Jedes seelische Ornament kräuselt sich nachtschattengewächsartig zum Verbrechen, hinter jeder ausladenden Spannungskurve folgt ein noch geheimeres Geheimnis. Der emotionale Wellengang erinnert an Filme von Pedro Almodóvar, und der deutlich ausgestellte Kulissenzauber nennt seine literarischen Vorbilder gleich selbst beim Namen: moderne Klassiker wie Luigi Pirandello zum Beispiel, der die Schauspieler als Schauspieler auftreten ließ.
Und noch einen klassisch-modernen Erzählkniff hat Brizuela parat, ähnlich wie in seinem vor sechs Jahren erschienenen Shakespeare-Roman „Inglaterra“: Zwischen Tatsachen und Fiktionen passt kein Blatt, auch hier soll alles im Nebulösen schwimmen. Brizuelas Konsul Eduardo Cantilo zum Beispiel gibt es nicht in der Wirklichkeit, wohl aber den (nicht genannten) argentinischen Außenminister José Maria Cantilo, der 1938 seine Diplomaten anwies, keine Visa an Juden und politische Flüchtlinge auszustellen. Diese Direktive wiederum liefert dem Roman ein historisches Grundmuster. Ähnlich die „Operation Willi“: 1940 sollte Edward VIII., der Herzog von Wales, in der Nähe von Lissabon entführt werden. Brizuela spinnt aus dieser bizarren, aber wenig bekannten Nazi-Intrige ein verschwörungstheoretisches Netz, bei dem der Klerus eine interessante Rolle spielt.
Die Beichte und der Geständniszwang werden zur literarischen Textmaschine, denn alle reden, als gäbe es kein Morgen. Bei siebenhundert Seiten ist die entsprechende Hörlust der Leser irgendwann erschlafft, könnte man meinen. Aber falsch gedacht. Es sind nicht die Dauerenthüllungen, die den Roman ausmachen, es ist die maliziöse Erzählstimme mit ihrer detailversessenen, noch das kleinste Nebengeräusch umschnörkelnden Sprechweise.
Thomas Brovots schwungvolle Übersetzung kennt „japsende Dickenstimmen“, bescheinigt den Lissabonnern „hummelige Geschäftigkeit“ und lässt den Konsul „im Klingklang von Tassen und Löffeln“ innehalten. Alltagsphysik hört sich so an: „Das Wasser im Kessel begann zögernd und dann immer rascher zu brodeln, wie eine Katze, die man aus dem Schlaf heraus zum Schnurren bringt.“ In Brizuelas „Nacht über Lissabon“ wird selbst noch der Wasserkocher mit Pelz umkleidet, und genau darin, in der kalkulierten Übertreibung, liegt der Reiz dieses Geräuschtheaters.
Leopoldo Brizuela
Nacht über Lissabon
Roman. Aus dem Spanischen von
Thomas Brovot. Insel Verlag,
Berlin 2010. 724 Seiten, 24,90 Euro.
Der emotionale Wellengang
in diesem Roman erinnert an
Filme von Pedro Almodóvar
Durch das
Geräuschtheater
in Leopoldo Brizuelas turbulentem Lissabon-Roman hallt das Echo „japsender
Dickenstimmen“, die Bewohner der Stadt sind von „hummeliger
Geschäftigkeit“
getrieben, und das brodelnde Wasser im Kessel klingt „wie eine Katze, die man aus dem Schlaf heraus zum Schnurren bringt“. In unserer Abbildung fällt der Blick
auf Alfama, den ältesten Stadtteil Lissabons.
Foto: Rudolf
Dietrich
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2011Spione bitten zum Tanz
Nur wenige Stunden, aber was für eine Fülle an Figuren und Themen: In seinem Roman "Nacht über Lissabon" erzählt Leopoldo Brizuela von Portugals Hafenstadt als Bühne für dramatische Emigrantenschicksale während der Nazi-Zeit.
Der Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann." Der das sagte, Enrique Santos Discépolo, hat viele erfolgreiche Tango-Lieder geschrieben und ist eine der Hauptfiguren im Roman "Nacht über Lissabon" des argentinischen Schriftstellers Leopoldo Brizuela. Brizuela hat in Lissabon gelebt und eine andere tieftraurige Musik, den portugiesischen Fado, studiert. Der Fado, "melancholische Asche der Erinnerung", steht für ihn gleich neben dem Tango. Und Amalia Rodrigues, die bedeutendste Fado-Sängerin ihrer Zeit, stellt er in eine Reihe mit den "Milongueras" aus seiner Heimat am Río de la Plata, den leichtlebigen und früh verführten, aus den Vorstädten und der Pampa nach Buenos Aires gekommenen Nachtclubtänzerinnen.
Der Roman spielt in einer einzigen Nacht in der portugiesischen Hauptstadt. Sie war 1942 der letzte Hafen für Zehntausende von den Nazis Verfolgte aus Mittel- und Osteuropa, die auf ein Schiff warten, das sie in der Nacht vom 18. November aufnehmen und sie zum rettenden anderen Atlantikufer nach Argentinien bringen sollte.
Das Schiff "Boa Esperanza", mit argentinischem Weizen in das hungernde Portugal geschickt, will für die Rückreise nach Argentinien Flüchtlinge aufnehmen. Die langen Dialoge in der wolkenschweren Nacht des 18. November 1942 in Lissabon kreisen um Fragen der Weltpolitik wie um den Fado und den Tango. Großbritannien versucht den zaudernden Diktator Salazar in den Krieg gegen die Nazis zu treiben, Salazar beharrt auf Portugals Neutralität. Deutsche Rundfunksender strahlen zum Ärger der Immigranten Propaganda für Hitler in den Lissabonner Tavernen und Cafés aus. Die Hauptstadt und noch mehr der nahe Badeort Estoril am Atlantik steckten während des Zweiten Weltkriegs voller Spione und Diplomaten mit Sonderaufträgen. Die Barkeeper in den teuren Hotels in Estoril erzählten noch in den fünfziger und sechziger Jahren von den britischen und deutschen Agenten, die in den Kriegsjahren an ihren Theken zu stehen pflegten. Viele deutsche Nazis sind nach der Niederlage Deutschlands in Lissabon geblieben, wo sie unter dem Schutz der Salazar-Regierung ihre Kenntnisse Portugals großen deutschen Firmen für gutes Geld zur Verfügung stellten.
Brizuelas Buch hat die drei klassischen Einheiten bewahrt: die der Zeit (die Nacht des 18. November 1942), die des Ortes (das Hafenviertel von Lissabon) und die der Handlung: das Warten auf das Schiff der Rettung. In dem über 700 Seiten starken Roman läuft alles auf die tragischen Ereignisse und die unerwarteten Zusammenkünfte in jener Nacht von Lissabon zu. Die vielen Figuren des Romans erzählen sich zahlreiche Lebensgeschichten, die gewöhnlich Leidensberichte, manchmal aber auch recht bizarre Liebesfabeln sind. Die Protagonisten sind teils erfundene Personen, zum anderen aber auch Akteure der jüngeren Geschichte wie ebenjene berühmte Sängerin Amalia Rodrigues, der rumänische Schriftsteller und Diplomat Mircea Eliade, der Kardinalpatriarch von Lissabon und der Tangotexter und -komponist Discépolo. Um sie herum bewegen sich die Diplomaten und Spione, die oft zwielichtigen Mitglieder der katholischen Hierarchie, dazu Tänzerinnen und Prostituierte aus den Nacht- und Hafenlokalen.
Lissabon steckt voller Geschichten, manchmal tragische, fast immer humorvolle. Sie machen die Lektüre der 700 Seiten abwechslungsreich und spannend. Die Beschreibung vom Leben in der nächtlichen Metropole und die Erinnerungen an die Tangoschauplätze am Rio de la Plata sind von Sympathie und Nostalgie geprägt. Die diversen Figuren sind durch ihre unterschiedliche Art zu sprechen und durch ihren Wortgebrauch leicht voneinander zu unterscheiden. Leopoldo Brizuela hat das Glück gehabt, für die erst ein halbes Jahr zuvor erschienene spanische Originalausgabe mit Thomas Brovot einen der derzeit besten Übersetzer aus dem Spanischen ins Deutsche zu finden. Brovot hat den Reichtum des Wortschatzes und die elegante Struktur der Dialoge in einem gleichwertigen Deutsch wiedergegeben.
Erich Maria Remarque hatte 1962 einen Roman mit ähnlichem Titel - "Die Nacht von Lissabon" - und der gleichen Thematik - die Flucht der von den Nazis Verfolgten über Lissabon - veröffentlicht. Es ist ebenfalls die Nacht des 18. November 1942. Remarque hat eine spannende Geschichte über die Flucht und Resignation eines Mannes aus Osnabrück geschrieben, die gleichzeitig die Schilderung einer lebenslang andauernden Liebe ist.
Brizuelas Buch ist immer wieder von neuem aufzublättern, um sich bei jeder der zufällig gefundenen Passagen an der schönen, manchmal durchaus gesuchten Sprache zu erfreuen. Zum sprachlichen Lesevergnügen kommen überraschende Einsichten hinzu, nicht nur zu Fado und Tango, auch über Portugal und Argentinien und die grausige Höllenhöhle, die Boca do Inferno am Strand von Lissabon, oder die Verwandlung des Fado in einen Totentanz. Brizuela schreibt ein gepflegtes und vielseitiges Spanisch, er ist heute wohl einer der literarisch interessantesten Autoren Argentiniens.
Die Idee zu "Lisboa, un melodrama", wie der Roman im Original heißt, mit dem argentinischen Wahlkonsul Cantilo als eine der Hauptfiguren kam Brizuela übrigens, als er in einem Hotel der Provinz Corrientes im selben Zimmer übernachtete, in dem vorher Graham Greene geschlafen hatte. Greene suchte damals Material für den Roman "Der Wahlkonsul", der in Corrientes, in dem Dreiländereck zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay, spielt.
Wo immer man das Buch aufschlägt, findet man einen anregenden Dialog, eine unterhaltsame Lebensanekdote. Besonders treffend gelingt Brizuela die Darstellung der Frauengestalten, die in dieser Nacht von Lissabon eine wichtige Rolle spielen, wie die Sängerin Tania oder die junge Amalia.
"Nacht über Lissabon" ist ein amüsantes, doch keineswegs oberflächliches Buch - vor allem geeignet zur Lektüre in den langen europäischen Winter- und Frühjahrsnächten.
WALTER HAUBRICH
Leopoldo Brizuela: "Nacht über Lissabon". Roman.
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Insel Verlag, Berlin 2010. 728 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nur wenige Stunden, aber was für eine Fülle an Figuren und Themen: In seinem Roman "Nacht über Lissabon" erzählt Leopoldo Brizuela von Portugals Hafenstadt als Bühne für dramatische Emigrantenschicksale während der Nazi-Zeit.
Der Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann." Der das sagte, Enrique Santos Discépolo, hat viele erfolgreiche Tango-Lieder geschrieben und ist eine der Hauptfiguren im Roman "Nacht über Lissabon" des argentinischen Schriftstellers Leopoldo Brizuela. Brizuela hat in Lissabon gelebt und eine andere tieftraurige Musik, den portugiesischen Fado, studiert. Der Fado, "melancholische Asche der Erinnerung", steht für ihn gleich neben dem Tango. Und Amalia Rodrigues, die bedeutendste Fado-Sängerin ihrer Zeit, stellt er in eine Reihe mit den "Milongueras" aus seiner Heimat am Río de la Plata, den leichtlebigen und früh verführten, aus den Vorstädten und der Pampa nach Buenos Aires gekommenen Nachtclubtänzerinnen.
Der Roman spielt in einer einzigen Nacht in der portugiesischen Hauptstadt. Sie war 1942 der letzte Hafen für Zehntausende von den Nazis Verfolgte aus Mittel- und Osteuropa, die auf ein Schiff warten, das sie in der Nacht vom 18. November aufnehmen und sie zum rettenden anderen Atlantikufer nach Argentinien bringen sollte.
Das Schiff "Boa Esperanza", mit argentinischem Weizen in das hungernde Portugal geschickt, will für die Rückreise nach Argentinien Flüchtlinge aufnehmen. Die langen Dialoge in der wolkenschweren Nacht des 18. November 1942 in Lissabon kreisen um Fragen der Weltpolitik wie um den Fado und den Tango. Großbritannien versucht den zaudernden Diktator Salazar in den Krieg gegen die Nazis zu treiben, Salazar beharrt auf Portugals Neutralität. Deutsche Rundfunksender strahlen zum Ärger der Immigranten Propaganda für Hitler in den Lissabonner Tavernen und Cafés aus. Die Hauptstadt und noch mehr der nahe Badeort Estoril am Atlantik steckten während des Zweiten Weltkriegs voller Spione und Diplomaten mit Sonderaufträgen. Die Barkeeper in den teuren Hotels in Estoril erzählten noch in den fünfziger und sechziger Jahren von den britischen und deutschen Agenten, die in den Kriegsjahren an ihren Theken zu stehen pflegten. Viele deutsche Nazis sind nach der Niederlage Deutschlands in Lissabon geblieben, wo sie unter dem Schutz der Salazar-Regierung ihre Kenntnisse Portugals großen deutschen Firmen für gutes Geld zur Verfügung stellten.
Brizuelas Buch hat die drei klassischen Einheiten bewahrt: die der Zeit (die Nacht des 18. November 1942), die des Ortes (das Hafenviertel von Lissabon) und die der Handlung: das Warten auf das Schiff der Rettung. In dem über 700 Seiten starken Roman läuft alles auf die tragischen Ereignisse und die unerwarteten Zusammenkünfte in jener Nacht von Lissabon zu. Die vielen Figuren des Romans erzählen sich zahlreiche Lebensgeschichten, die gewöhnlich Leidensberichte, manchmal aber auch recht bizarre Liebesfabeln sind. Die Protagonisten sind teils erfundene Personen, zum anderen aber auch Akteure der jüngeren Geschichte wie ebenjene berühmte Sängerin Amalia Rodrigues, der rumänische Schriftsteller und Diplomat Mircea Eliade, der Kardinalpatriarch von Lissabon und der Tangotexter und -komponist Discépolo. Um sie herum bewegen sich die Diplomaten und Spione, die oft zwielichtigen Mitglieder der katholischen Hierarchie, dazu Tänzerinnen und Prostituierte aus den Nacht- und Hafenlokalen.
Lissabon steckt voller Geschichten, manchmal tragische, fast immer humorvolle. Sie machen die Lektüre der 700 Seiten abwechslungsreich und spannend. Die Beschreibung vom Leben in der nächtlichen Metropole und die Erinnerungen an die Tangoschauplätze am Rio de la Plata sind von Sympathie und Nostalgie geprägt. Die diversen Figuren sind durch ihre unterschiedliche Art zu sprechen und durch ihren Wortgebrauch leicht voneinander zu unterscheiden. Leopoldo Brizuela hat das Glück gehabt, für die erst ein halbes Jahr zuvor erschienene spanische Originalausgabe mit Thomas Brovot einen der derzeit besten Übersetzer aus dem Spanischen ins Deutsche zu finden. Brovot hat den Reichtum des Wortschatzes und die elegante Struktur der Dialoge in einem gleichwertigen Deutsch wiedergegeben.
Erich Maria Remarque hatte 1962 einen Roman mit ähnlichem Titel - "Die Nacht von Lissabon" - und der gleichen Thematik - die Flucht der von den Nazis Verfolgten über Lissabon - veröffentlicht. Es ist ebenfalls die Nacht des 18. November 1942. Remarque hat eine spannende Geschichte über die Flucht und Resignation eines Mannes aus Osnabrück geschrieben, die gleichzeitig die Schilderung einer lebenslang andauernden Liebe ist.
Brizuelas Buch ist immer wieder von neuem aufzublättern, um sich bei jeder der zufällig gefundenen Passagen an der schönen, manchmal durchaus gesuchten Sprache zu erfreuen. Zum sprachlichen Lesevergnügen kommen überraschende Einsichten hinzu, nicht nur zu Fado und Tango, auch über Portugal und Argentinien und die grausige Höllenhöhle, die Boca do Inferno am Strand von Lissabon, oder die Verwandlung des Fado in einen Totentanz. Brizuela schreibt ein gepflegtes und vielseitiges Spanisch, er ist heute wohl einer der literarisch interessantesten Autoren Argentiniens.
Die Idee zu "Lisboa, un melodrama", wie der Roman im Original heißt, mit dem argentinischen Wahlkonsul Cantilo als eine der Hauptfiguren kam Brizuela übrigens, als er in einem Hotel der Provinz Corrientes im selben Zimmer übernachtete, in dem vorher Graham Greene geschlafen hatte. Greene suchte damals Material für den Roman "Der Wahlkonsul", der in Corrientes, in dem Dreiländereck zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay, spielt.
Wo immer man das Buch aufschlägt, findet man einen anregenden Dialog, eine unterhaltsame Lebensanekdote. Besonders treffend gelingt Brizuela die Darstellung der Frauengestalten, die in dieser Nacht von Lissabon eine wichtige Rolle spielen, wie die Sängerin Tania oder die junge Amalia.
"Nacht über Lissabon" ist ein amüsantes, doch keineswegs oberflächliches Buch - vor allem geeignet zur Lektüre in den langen europäischen Winter- und Frühjahrsnächten.
WALTER HAUBRICH
Leopoldo Brizuela: "Nacht über Lissabon". Roman.
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Insel Verlag, Berlin 2010. 728 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Walter Haubrich empfiehlt noch einmal Lektüre für kalte Winterabende. Leopoldo Brizuelas traditionell gestrickter Roman, meint er, bietet dazu passgenau: anregende Dialoge, unterhaltsame Anekdoten, Amüsement ohne Oberflächlichkeit, Einsichten über den Fado und den Tango, über Portugal und Argentinien und jede Menge sympathischer Nachtgestalten mit unverwechselbarem Idiom. Dass der Autor sich mit der Nacht vom 18. November 1942, als im Hafen von Lissabon das letzte Schiff Richtung Argentinien aufbricht, ein dankbares Datum für so einen Roman ausgesucht hat, ist dem Rezensenten dabei klar. Flüchtingsschicksale und Spionagegeschichten, teils erfunden, teils historisch belegbar, Nostalgisches aber auch Humorvolles kommen da zusammen und machen das dicke Buch für Haubrich zum abwechslungsreichen, spannenden Leseerlebnis.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Brizuelas Buch ist immer wieder von neuem aufzublättern, um sich bei jeder der zufällig gefundenen Passagen an der schönen, manchmal durchaus gesuchten Sprache zu erfreuen. ... Nacht über Lissabon ist ein amüsantes, doch keineswegs oberflächliches Buch - vor allem geeignet zur Lektüre in den langen europäischen Winter- und Frühjahrsnächten.«