Im ersten Winter nach dem Zweiten Weltkrieg findet sich eine illustre Gesellschaft aus Diplomaten und Honoratioren regelmäßig im Palmenhaus einer nordeuropäischen Hauptstadt ein - angezogen von Blüten bei Kerzenlicht, vor allem aber von Wärme. Denn das Palmenhaus gehört zu den wenigen öffentlichen Orten, die beheizt werden. Leon, der Kurator des Hauses, überwacht die bunten Schmetterlinge, gibt Auskunft, hält sich am Rand.
Nur mit einer ostasiatischen Schönen redet er oft und lang. Sie erinnert den Einzelgänger an Kou Min, ein Mädchen aus dem Fernen Osten, die dem verwaisten Jungen im Troß eines Meeresforschers über den Weg lief. Es war Liebe auf den ersten Blick, die unerfüllt noch immer in ihm rumort.
In seiner Einsamkeit spricht Leon mit den Pflanzen - und die mit ihm. Einmal rettet er einen Zigeunerjungen von 'draußen' und nimmt ihn zu sich, heimlich, in den Heizungsanbau. Er liebt den Sprachlosen, den er Felix nennt, er benutzt ihn. Am Ende, bevor er in ein Krankenhaus ein gewiesen und bevor die Zukunft des Botanischen Gartens, der mitten in der Stadt auf bestem Bauland liegt, besiegelt wird, rächt der Gerettete sich schrecklich. Eine Tamarinde, Leons Lieblingsbaum, spricht den Nachruf.
Nur mit einer ostasiatischen Schönen redet er oft und lang. Sie erinnert den Einzelgänger an Kou Min, ein Mädchen aus dem Fernen Osten, die dem verwaisten Jungen im Troß eines Meeresforschers über den Weg lief. Es war Liebe auf den ersten Blick, die unerfüllt noch immer in ihm rumort.
In seiner Einsamkeit spricht Leon mit den Pflanzen - und die mit ihm. Einmal rettet er einen Zigeunerjungen von 'draußen' und nimmt ihn zu sich, heimlich, in den Heizungsanbau. Er liebt den Sprachlosen, den er Felix nennt, er benutzt ihn. Am Ende, bevor er in ein Krankenhaus ein gewiesen und bevor die Zukunft des Botanischen Gartens, der mitten in der Stadt auf bestem Bauland liegt, besiegelt wird, rächt der Gerettete sich schrecklich. Eine Tamarinde, Leons Lieblingsbaum, spricht den Nachruf.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.2003Bekenntnisse unter Palmen
Grüner Daumen: James Hamilton-Paterson spricht zu Pflanzen
Das Widersprüchliche am Leben ist ja, daß zuviel davon einem genauso schlecht bekommt wie zuwenig. Da ist zum Beispiel Leon, der sich vor seinem Leben und seiner Gegenwart in eine Welt geflüchtet hat, die so mit Vitalität protzt, daß es einem fast die Luft abschnürt. Leon lebt in einem Gewächshaus, er lebt in einem Gefängnis. Hier steht die Hitze, hier tropft es von der Glaskuppel, hier sprechen die Pflanzen. Draußen ist der Schnee, draußen ist das Jahr 1946, draußen ist die Liebe. Und als die in dieses fragile Gebilde einbricht, geht Leons Welt schnell zugrunde.
Eine recht zerbrechliche Metapher hat sich der englische Schriftsteller James Hamilton-Paterson ausgesucht für seinen Roman "Nachtblüte", dessen Titel im englischen Original schwärzer, schmerzvoller, sehnsüchtiger klingt: "Griefwork", eine Art Trauerarbeit also, die der so genialische wie ungelernte Gärtner Leon verrichtet: Wie fette Tropenpflanzen ranken sich die Erinnerungen um sein Herz, wild wuchern die Eindrücke und Beobachtungen - auch die Sprache gehorcht in diesem Buch botanischen Gesetzen, und James Hamilton-Paterson ist ihr Gärtner. Aber wo sonst eine Meeresbrise oder der Gestank von Manila durch seine Bücher zieht, da weht es einen hier eher süßlich an, so betörend wie betäubend. Denn das Glashaus, in dem Leons Leben gleichzeitig gedeiht und verdorrt, ist ein recht luftleerer Raum.
Bekannt wurde Hamilton-Paterson in Deutschland mit seinen Essays über Ozeane und die dunklen Ecken der zivilisierten Welt - eine Schriftstellerexistenz als Fluchtreflex, ein Leben an den Rändern, auf den Philippinen und in der Toskana. "Wasserspiele", "Drei Meilen tief" oder "Die Geister von Manila" hießen diese Bücher, die auch die Grenzen des Erzählens auf eine Art und Weise austesteten, wie es die angelsächsischen Autoren vielleicht am besten beherrschen. Zwischen Welthunger und Selbstschau manövrierende Erzählessays und Reflexionsromane waren das, ausgereifte Werke, die von dem Widerhall eines mehr als bewegten Lebens berichteten. Ein Schriftstellerleben, vom Spätwerk aus betrachtet. "Nachtblüte" ist auf englisch bereits 1993 erschienen, ein melancholisches Zwischenwerk, das in seiner bildmächtigen und beobachtungssatten Sprache manchmal etwas hypertroph wirkt. Das Rascheln einer Biographie. Wie Efeu wächst diese Prosa die Welt zu, von der sie erzählt.
In Rückblenden entfaltet Hamilton-Paterson Leons Leben, von der Erinnerung an die Mutter, deren Fahrradspeichen immer "sprrixx" machten, bis sie von einem herabfallenden Spiegelsplitter vor einem Leuchtturm getötet wurde; von der Einsamkeit der Kindheit und der Sprache des Meeres und der Kühle der Küste; von der pubertären Verliebtheit in das asiatische Dienstmädchen Cou Min. Vor all diesen Erinnerungen und vor dem Krieg, der das Leben ist, und dem Krieg, den die Deutschen entfacht hatten, flüchtet sich Leon in das Palmenhaus einer nicht weiter differenzierten nordeuropäischen Stadt. Hier lebt Leon, hier spricht er mit seinen Pflanzen: "Hört ihr noch zu? In meinem Palmenhaus sind wir im Inneren der Uhr, wir beobachten das Wachstum, spüren die Zuneigung all dessen, was lebt, schnuppern die Verwesung." Die Welt als Vitrine. "Es ist bemerkenswert. Einige Dinge werden erst sichtbar, wenn man Glas darüber stülpt, was um so richtiger ist, je banaler diese Dinge sind."
James Hamilton-Paterson verwebt die Biographie Leons zu einem Porträt der modernistischen Sehnsucht des neunzehnten Jahrhunderts, die in ihrer Klassifizierungslust der Natur eine Form gab - und so traurig, wie der Autor auf dem Umschlagfoto um die Ecke schaut, so traurig blickt er auch auf diese untergegangene Zeit zurück. Die Heutigen sind Menschen ohne Wurzeln, ohne Sinn für das Werden und Entstehen; die Nachtblütler aus seinem Palmenhaus sind Dandys und Diplomaten, Bohemiens und Weltflüchtlinge, Menschen, die sich in der Künstlichkeit dieser Umgebung erst richtig erkennen. "In meinem Palmenhaus bin ich authentisch, wie auch das Palmenhaus authentisch ist", sagt Leon. Was natürlich ein Irrtum ist; und so ist Hamilton-Patersons Erzählung auch eine feingesponnene und nostalgische Abhandlung über das Wesen der Kunst. "Teil unserer Aufgabe, wie ich sie verstehe, ist es, das Publikum zum Verständnis zu erziehen", belehrt Leon einmal seinen Arbeitgeber, der das Palmenhaus modernisieren will. "Dieser Ort ist unbezahlbar. Weil er so unnatürlich ist, kann er Menschen dazu bringen, nachzudenken und ihre Ansichten zu ändern. Wir müssen es erhalten, koste es, was es wolle."
Doch schließlich ist es Leon selbst, der für den Einbruch des Lebens, der Luft, der Liebe verantwortlich ist. Seine Schwärmerei für die exotische Prinzessin ist noch von etwas lawrencehaft verlorener Erotik - seine Beschäftigung mit dem Zigeunerjungen Felix, dem er während des Zweiten Weltkriegs das Leben rettet, ist dagegen von durchaus handfester Art. Mehr oder weniger kunstvoll balanciert Hamilton-Paterson Kunst und Kitsch; die Menschen sind hier eigentlich nur eine weitere Spezies in einem üppig wuchernden Kosmos. Wie Leon pflegt der Autor seine kostbaren Sätze, seine seltenen Einblicke, seine raren Beobachtungen - weshalb das Buch auch eine gewisse, wenngleich sehr gepflegte, Langeweile ausstrahlt. Bei aller konstruierten Dramatik beschreibt Hamilton-Paterson selbst am besten den leicht sedierenden Eindruck, den die Lektüre hinterläßt: "Gepflegte Menschen schlenderten, sich leise unterhaltend, über den Kies oder standen in Grüppchen beisammen", heißt es einmal, "ihr Lachen kräuselte mit dem verbotenen Zigarettenrauch langsam hinauf in das Maßwerk der Eisenkonstruktion hoch über ihnen." Ein Buch, wie aus der Zeit gerutscht.
GEORG DIEZ
James Hamilton-Paterson: "Nachtblüte". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ebba D. Drolshagen. Insel Verlag Verlag, Frankfurt am Main 2002. 296 S., geb., 22,90 [Euro].
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Grüner Daumen: James Hamilton-Paterson spricht zu Pflanzen
Das Widersprüchliche am Leben ist ja, daß zuviel davon einem genauso schlecht bekommt wie zuwenig. Da ist zum Beispiel Leon, der sich vor seinem Leben und seiner Gegenwart in eine Welt geflüchtet hat, die so mit Vitalität protzt, daß es einem fast die Luft abschnürt. Leon lebt in einem Gewächshaus, er lebt in einem Gefängnis. Hier steht die Hitze, hier tropft es von der Glaskuppel, hier sprechen die Pflanzen. Draußen ist der Schnee, draußen ist das Jahr 1946, draußen ist die Liebe. Und als die in dieses fragile Gebilde einbricht, geht Leons Welt schnell zugrunde.
Eine recht zerbrechliche Metapher hat sich der englische Schriftsteller James Hamilton-Paterson ausgesucht für seinen Roman "Nachtblüte", dessen Titel im englischen Original schwärzer, schmerzvoller, sehnsüchtiger klingt: "Griefwork", eine Art Trauerarbeit also, die der so genialische wie ungelernte Gärtner Leon verrichtet: Wie fette Tropenpflanzen ranken sich die Erinnerungen um sein Herz, wild wuchern die Eindrücke und Beobachtungen - auch die Sprache gehorcht in diesem Buch botanischen Gesetzen, und James Hamilton-Paterson ist ihr Gärtner. Aber wo sonst eine Meeresbrise oder der Gestank von Manila durch seine Bücher zieht, da weht es einen hier eher süßlich an, so betörend wie betäubend. Denn das Glashaus, in dem Leons Leben gleichzeitig gedeiht und verdorrt, ist ein recht luftleerer Raum.
Bekannt wurde Hamilton-Paterson in Deutschland mit seinen Essays über Ozeane und die dunklen Ecken der zivilisierten Welt - eine Schriftstellerexistenz als Fluchtreflex, ein Leben an den Rändern, auf den Philippinen und in der Toskana. "Wasserspiele", "Drei Meilen tief" oder "Die Geister von Manila" hießen diese Bücher, die auch die Grenzen des Erzählens auf eine Art und Weise austesteten, wie es die angelsächsischen Autoren vielleicht am besten beherrschen. Zwischen Welthunger und Selbstschau manövrierende Erzählessays und Reflexionsromane waren das, ausgereifte Werke, die von dem Widerhall eines mehr als bewegten Lebens berichteten. Ein Schriftstellerleben, vom Spätwerk aus betrachtet. "Nachtblüte" ist auf englisch bereits 1993 erschienen, ein melancholisches Zwischenwerk, das in seiner bildmächtigen und beobachtungssatten Sprache manchmal etwas hypertroph wirkt. Das Rascheln einer Biographie. Wie Efeu wächst diese Prosa die Welt zu, von der sie erzählt.
In Rückblenden entfaltet Hamilton-Paterson Leons Leben, von der Erinnerung an die Mutter, deren Fahrradspeichen immer "sprrixx" machten, bis sie von einem herabfallenden Spiegelsplitter vor einem Leuchtturm getötet wurde; von der Einsamkeit der Kindheit und der Sprache des Meeres und der Kühle der Küste; von der pubertären Verliebtheit in das asiatische Dienstmädchen Cou Min. Vor all diesen Erinnerungen und vor dem Krieg, der das Leben ist, und dem Krieg, den die Deutschen entfacht hatten, flüchtet sich Leon in das Palmenhaus einer nicht weiter differenzierten nordeuropäischen Stadt. Hier lebt Leon, hier spricht er mit seinen Pflanzen: "Hört ihr noch zu? In meinem Palmenhaus sind wir im Inneren der Uhr, wir beobachten das Wachstum, spüren die Zuneigung all dessen, was lebt, schnuppern die Verwesung." Die Welt als Vitrine. "Es ist bemerkenswert. Einige Dinge werden erst sichtbar, wenn man Glas darüber stülpt, was um so richtiger ist, je banaler diese Dinge sind."
James Hamilton-Paterson verwebt die Biographie Leons zu einem Porträt der modernistischen Sehnsucht des neunzehnten Jahrhunderts, die in ihrer Klassifizierungslust der Natur eine Form gab - und so traurig, wie der Autor auf dem Umschlagfoto um die Ecke schaut, so traurig blickt er auch auf diese untergegangene Zeit zurück. Die Heutigen sind Menschen ohne Wurzeln, ohne Sinn für das Werden und Entstehen; die Nachtblütler aus seinem Palmenhaus sind Dandys und Diplomaten, Bohemiens und Weltflüchtlinge, Menschen, die sich in der Künstlichkeit dieser Umgebung erst richtig erkennen. "In meinem Palmenhaus bin ich authentisch, wie auch das Palmenhaus authentisch ist", sagt Leon. Was natürlich ein Irrtum ist; und so ist Hamilton-Patersons Erzählung auch eine feingesponnene und nostalgische Abhandlung über das Wesen der Kunst. "Teil unserer Aufgabe, wie ich sie verstehe, ist es, das Publikum zum Verständnis zu erziehen", belehrt Leon einmal seinen Arbeitgeber, der das Palmenhaus modernisieren will. "Dieser Ort ist unbezahlbar. Weil er so unnatürlich ist, kann er Menschen dazu bringen, nachzudenken und ihre Ansichten zu ändern. Wir müssen es erhalten, koste es, was es wolle."
Doch schließlich ist es Leon selbst, der für den Einbruch des Lebens, der Luft, der Liebe verantwortlich ist. Seine Schwärmerei für die exotische Prinzessin ist noch von etwas lawrencehaft verlorener Erotik - seine Beschäftigung mit dem Zigeunerjungen Felix, dem er während des Zweiten Weltkriegs das Leben rettet, ist dagegen von durchaus handfester Art. Mehr oder weniger kunstvoll balanciert Hamilton-Paterson Kunst und Kitsch; die Menschen sind hier eigentlich nur eine weitere Spezies in einem üppig wuchernden Kosmos. Wie Leon pflegt der Autor seine kostbaren Sätze, seine seltenen Einblicke, seine raren Beobachtungen - weshalb das Buch auch eine gewisse, wenngleich sehr gepflegte, Langeweile ausstrahlt. Bei aller konstruierten Dramatik beschreibt Hamilton-Paterson selbst am besten den leicht sedierenden Eindruck, den die Lektüre hinterläßt: "Gepflegte Menschen schlenderten, sich leise unterhaltend, über den Kies oder standen in Grüppchen beisammen", heißt es einmal, "ihr Lachen kräuselte mit dem verbotenen Zigarettenrauch langsam hinauf in das Maßwerk der Eisenkonstruktion hoch über ihnen." Ein Buch, wie aus der Zeit gerutscht.
GEORG DIEZ
James Hamilton-Paterson: "Nachtblüte". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ebba D. Drolshagen. Insel Verlag Verlag, Frankfurt am Main 2002. 296 S., geb., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Georg Diez kultiviert dieser bereits 1993 erschienene Roman des Briten Hamilton-Paterson "gepflegte Langeweile", was nicht unbedingt negativ gemeint ist. Dazu später. Hamilton-Paterson sei hierzulande mit seinen Ozeanessays und Reiseberichten bekannt geworden, die sein bewegtes Leben in Manila oder in der Toskana reflektierten. Der Roman "Nachtblüte", im Original "Griefwork" betitelt, was für Diez schwärzer, sehnsüchtiger klingt, erscheint dem Rezensenten "wie aus der Zeit gerutscht". Er schildert das Porträt eines jungen Mannes, der mit seiner "Klassifizierungslust der Natur" die Sehnsüchte des 19. Jahrhunderts spiegelt. Leon lebt in einem Gewächshaus, in das er sich vor den Deutschen zurückgezogen hat, in einer künstliche Welt der Zuchtpflanzen, die sofort zusammenfällt, lautet die Analyse des Rezensenten, als Luft, Leben, Liebe dort einbrechen. Wild wächst die Botanik, schreibt Diez, und wild wuchere auch die Prosa Hamilton-Patersons, von der diesmal ein leicht süßlicher Duft ausgehe statt wie sonst die herbe Meeresbrise. Die Menschen sind nur eine Spezies unter anderen in diesem botanischen Kosmos, befindet Diez, vom Autor aufmerksam und mit jener britischen gepflegten Langeweile betrachtet, die Kitsch und Kunst stilvoll miteinander zu verbinden wisse.
© Perlentaucher Medien GmbH
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