Erzähl vom Ungeheuer, bittet das Kind am Abend den Vater. Zum ersten Mal sind Quint und sein Sohn Julian alleinauf Reisen; die Mutter, eine Übersetzerin, hat beruflich in Paris zu tun. Das Ziel ist Tunis, aber für Quint ist es keineUrlaubsreise: Er sucht Helen, die junge Frau, die ein Jahr auf Julian aufgepasst hat und dann plötzlich verschwand. EinzigesLebenszeichen ist eine Postkarte aus Tunis, wo sie in einem kleinen Hotel an der Medina wohnte und ein Heft mit Aufzeichnungen hinterließ. Quint bezieht mit seinem Sohn im selben Hotel ein Zimmer. Und während er Julian vom Ungeheuererzählt, dringt mehr und mehr das Ungeheure in seine Welt: Da ist die Wirtin des Hotels, Madame Melrose, der Quint ineinem unbedachten Moment erliegt, und ein unheimlicher Hotelgast, Dr. Branzger, nach eigener Aussage Exilant aus dernicht mehr existierenden DDR. Aber vor allem ist da das Heft von Helen, eine einzige Abrechnung mit Quint. Als immerwieder beschriebene Seiten unter der Tür von Quints Zimmer durchgeschoben werden, muss er das Schlimmste befürchten.Bodo Kirchhoff erzählt in seiner auf einem früheren Roman basierenden Novelle Nachtdiebe von einem Mann, der innerhalbweniger Tage und Nächte, in einem Schrecken ohne Ende, aus lebenslangem Kindertraum erwacht. Eine aberwitzige Hoffnung treibt ihn in die Medina von Tunis, wo er gespenstischen Menschen und einer unerwarteten Liebe begegnet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2023Revision und Verdichtung als Erfahrungsresultat
Bodo Kirchhoffs neue Novelle "Nachtdiebe"
Das aktuelle Buch von Bodo Kirchhoff bezieht seine Kraft aus einer Verdichtung. Verdichtung nämlich von Lebenserfahrung, die für diesen Autor immer Schreiberfahrung bedeutet, Herstellung von - dichterischer - Wirklichkeit. Es ließe sich für "Nachtdiebe" auch vom Akt einer Straffung reden. Die Novelle, so die Bezeichnung für die 150 Seiten, ist ein Konzentrat des 1992 erschienenen Kirchhoff-Romans "Der Sandmann", der beim Erscheinen auf geteilte Resonanz stieß.
Doch damalige Kritik war nicht Grund für Kirchhoffs - im Wortsinn - Revision. "Beim Wiederlesen des Romans ist mir aufgefallen", schreibt er im Nachwort, "dass in dem Buch von 212 Seiten im Grunde eine Novelle von der Hälfte des Umfanges steckt. Anlass, um eine Neufassung zu schreiben, die Novelle also aus dem Roman herauszuschälen." Es ist dieser Antrieb des Durcharbeitens, des Wiederaufnehmens einmal gefundener Motive, der zunehmenden Verfeinerung des Stoffs, der das Schreiben dieses Schriftstellers seit nun mehr als vier Jahrzehnten prägt.
Quint, ein Mann nicht mehr ganz jung, "Radiosprecher in Goethes Geburtsstadt", in komfortablen Verhältnissen lebend, reist nach Tunis. Die Ehe mit seiner Frau Christine, einer Übersetzerin, ist ziemlich ausgelaugt. Weil sie in Paris zu arbeiten hat, nimmt er den kleinen Sohn Julian mit. Quint will Helen suchen, die zuvor ein Jahr lang auf Julian aufgepasst hatte und dann plötzlich verschwand; ihr einziges Lebenszeichen: eine Postkarte aus Tunis. Quint findet das Haus in der Medina mit dem Namen "Petit Hôtel de la Tranquillité", in dem Helen bis vor kurzer Zeit gewohnt hatte, und mietet sich mit dem Kind dort ein.
Das "Kleine Hotel zur Ruhe" wird zum Zentrum verstörender Begegnungen in den folgenden Tagen. Und immer wieder werden Quint Seiten eines schreibmaschinengeschriebenen Tagebuchs unter der Tür durchgeschoben, die Helen verfasst zu haben scheint. Die Aufzeichnungen beginnen mit einem rätselhaften Satz: "Die folgende Geschichte ist wahr, so wahr wie die Erzählung eines Traums, der in Wahrheit, aber welcher, anders geträumt wurde." Mehr sei hier nicht offengelegt.
Diese Ereignisse haben ähnlich schon den Kern von "Der Sandmann" gebildet. Doch Kirchhoff erzählt keineswegs dieselbe Geschichte. Das liegt nicht nur an veränderten Formulierungen oder weggelassenem Beiwerk. Sondern "Nachtdiebe" ist ein fesselnder Trip in die dunkle Seite existenzieller Gegebenheiten, bei dem die Personen der Handlung andere Gewichtungen erfahren als zuvor. Der klassischen Novellenform trägt der Autor Rechnung mit einer "Tat", aber die eigentliche "unerhörte Begebenheit" enthüllt sich erst spät: "Und damit endete das so blässlich zu Papier Gebrachte eines Vorfalls, der nicht etwa erfunden war." Das Unheimliche, hinter dem laut Freud das Vertraute lauert, bricht mit der Lektüre jenes "Vorfalls" in Quints Gegenwart ein. Deutlich hatte "Der Sandmann" als Titel des Romans auf die Schwarze Romantik in E. T. A. Hoffmanns gleichnamiger Erzählung verwiesen. In "Nachtdiebe" geht es nun um die sukzessive Entbergung der verdrängten Realität des Ich-Erzählers.
Die Novellenform ist tatsächlich eine ureigene Domäne des bedeutenden Epikers Bodo Kirchhoff. Die Präzision, auch Härte, die dieses Format erfordert, kennt und beherrscht er wie kaum ein anderer Schriftsteller deutscher Sprache. Davon zeugen schon sein früher verstörender Text "Ohne Eifer, ohne Zorn" von 1979 oder auch "Gegen die Laufrichtung" von 1993. "Widerfahrnis" brachte ihm gar den Deutschen Buchpreis ein (F.A.Z. vom 13. September 2016). Über "Nachtdiebe" nun sagt Kirchhoff im Gespräch, er habe bewusst aus seiner "jetzigen Alterssituation heraus" schreiben wollen.
Daraus resultiert die entscheidende Differenz von Roman und Novelle, zwischen denen drei Jahrzehnte liegen: Während im Roman ein Autor, der grade Mitte vierzig ist, die Position eines bereits fünfzigjährigen Ich-Erzählers imaginiert, blickt in der Novelle ein Schriftsteller, selbst Mitte siebzig (heute feiert er einen halbrunden Geburtstag), auf einen 25 Jahre jüngeren Mann. Bodo Kirchhoff weiß jetzt mehr; ob er weiser geworden ist, sei dahingestellt (und ist vielleicht gar nicht wünschenswert), aber jedenfalls hellsichtiger. Von Beginn an insistiert in seinem Schreiben das Gefühl eines fundamentalen Mangels, der seine männlichen Protagonisten stigmatisiert: die ständige Furcht davor, ihr Sein zu verfehlen. Das macht sie zu Getriebenen.
So gebiert auch "Nachtdiebe" - wirklich und wirksam unheimlich - die Vorstellung, wie einem Menschen, einem Mann vom Schlage eines Quints, jede Selbstgewissheit entwunden werden kann. Durch Botschaften unter einem Türspalt, unter Mitwirkung eines Unbekannten, unter den Händen einer Frau.
In den Büchern Kirchhoffs kehrt über die Jahre hin ein markanter Name wieder: Branzger. Gleich in "Ohne Eifer, ohne Zorn" erschien er, als freier Mitarbeiter von Zeitschriften, für die er blasse psychologische Artikel schreibt - "unter seinem Pseudonym Branzger, so wie man es spricht". Er trat 2002 kurz im "Schundroman" auf und danach, dort als todessüchtiger Studienrat, in "Wo das Meer beginnt". Im "Sandmann" mutierte er, nun als Dr. Branzger, zum Ungeheuer, um in "Nachtdiebe" als mysteriöser Hotelgast und Exilant der untergegangenen DDR sein undurchschaubares Spiel zu treiben.
In den Mutationen dieser Figur gibt es gleichwohl eine Konstante: Branzger ist opake Verkörperung des Bösen, des ebenso Verführerischen wie Abseitigen. Zugleich steht seine fluide Identität für die ständige Gefährdung des Subjekts, mithin für jenes Thema, das Kirchhoffs Schreiben zum Basso continuo hat.
"Nachtdiebe" entstand schon vor zwei Jahren, in der Zeit von Covid-19. Nun ist es Kirchhoffs letztes Buch geworden, das in der Frankfurter Verlagsanstalt erscheint. Nach gut zwei Jahrzehnten erfolgreicher Zusammenarbeit, die 2001 mit dem Roman "Parlando" begann, trennen sich die Wege. Der Verleger Joachim Unseld und der Autor gehen im Guten auseinander, das ist Kirchhoff wichtig. Sein nächster Roman ist bei dtv bereits für Januar 2024 angekündigt, der Titel lautet "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt". ROSE-MARIA GROPP
Bodo Kirchhoff: "Nachtdiebe". Novelle.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2023.
155 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bodo Kirchhoffs neue Novelle "Nachtdiebe"
Das aktuelle Buch von Bodo Kirchhoff bezieht seine Kraft aus einer Verdichtung. Verdichtung nämlich von Lebenserfahrung, die für diesen Autor immer Schreiberfahrung bedeutet, Herstellung von - dichterischer - Wirklichkeit. Es ließe sich für "Nachtdiebe" auch vom Akt einer Straffung reden. Die Novelle, so die Bezeichnung für die 150 Seiten, ist ein Konzentrat des 1992 erschienenen Kirchhoff-Romans "Der Sandmann", der beim Erscheinen auf geteilte Resonanz stieß.
Doch damalige Kritik war nicht Grund für Kirchhoffs - im Wortsinn - Revision. "Beim Wiederlesen des Romans ist mir aufgefallen", schreibt er im Nachwort, "dass in dem Buch von 212 Seiten im Grunde eine Novelle von der Hälfte des Umfanges steckt. Anlass, um eine Neufassung zu schreiben, die Novelle also aus dem Roman herauszuschälen." Es ist dieser Antrieb des Durcharbeitens, des Wiederaufnehmens einmal gefundener Motive, der zunehmenden Verfeinerung des Stoffs, der das Schreiben dieses Schriftstellers seit nun mehr als vier Jahrzehnten prägt.
Quint, ein Mann nicht mehr ganz jung, "Radiosprecher in Goethes Geburtsstadt", in komfortablen Verhältnissen lebend, reist nach Tunis. Die Ehe mit seiner Frau Christine, einer Übersetzerin, ist ziemlich ausgelaugt. Weil sie in Paris zu arbeiten hat, nimmt er den kleinen Sohn Julian mit. Quint will Helen suchen, die zuvor ein Jahr lang auf Julian aufgepasst hatte und dann plötzlich verschwand; ihr einziges Lebenszeichen: eine Postkarte aus Tunis. Quint findet das Haus in der Medina mit dem Namen "Petit Hôtel de la Tranquillité", in dem Helen bis vor kurzer Zeit gewohnt hatte, und mietet sich mit dem Kind dort ein.
Das "Kleine Hotel zur Ruhe" wird zum Zentrum verstörender Begegnungen in den folgenden Tagen. Und immer wieder werden Quint Seiten eines schreibmaschinengeschriebenen Tagebuchs unter der Tür durchgeschoben, die Helen verfasst zu haben scheint. Die Aufzeichnungen beginnen mit einem rätselhaften Satz: "Die folgende Geschichte ist wahr, so wahr wie die Erzählung eines Traums, der in Wahrheit, aber welcher, anders geträumt wurde." Mehr sei hier nicht offengelegt.
Diese Ereignisse haben ähnlich schon den Kern von "Der Sandmann" gebildet. Doch Kirchhoff erzählt keineswegs dieselbe Geschichte. Das liegt nicht nur an veränderten Formulierungen oder weggelassenem Beiwerk. Sondern "Nachtdiebe" ist ein fesselnder Trip in die dunkle Seite existenzieller Gegebenheiten, bei dem die Personen der Handlung andere Gewichtungen erfahren als zuvor. Der klassischen Novellenform trägt der Autor Rechnung mit einer "Tat", aber die eigentliche "unerhörte Begebenheit" enthüllt sich erst spät: "Und damit endete das so blässlich zu Papier Gebrachte eines Vorfalls, der nicht etwa erfunden war." Das Unheimliche, hinter dem laut Freud das Vertraute lauert, bricht mit der Lektüre jenes "Vorfalls" in Quints Gegenwart ein. Deutlich hatte "Der Sandmann" als Titel des Romans auf die Schwarze Romantik in E. T. A. Hoffmanns gleichnamiger Erzählung verwiesen. In "Nachtdiebe" geht es nun um die sukzessive Entbergung der verdrängten Realität des Ich-Erzählers.
Die Novellenform ist tatsächlich eine ureigene Domäne des bedeutenden Epikers Bodo Kirchhoff. Die Präzision, auch Härte, die dieses Format erfordert, kennt und beherrscht er wie kaum ein anderer Schriftsteller deutscher Sprache. Davon zeugen schon sein früher verstörender Text "Ohne Eifer, ohne Zorn" von 1979 oder auch "Gegen die Laufrichtung" von 1993. "Widerfahrnis" brachte ihm gar den Deutschen Buchpreis ein (F.A.Z. vom 13. September 2016). Über "Nachtdiebe" nun sagt Kirchhoff im Gespräch, er habe bewusst aus seiner "jetzigen Alterssituation heraus" schreiben wollen.
Daraus resultiert die entscheidende Differenz von Roman und Novelle, zwischen denen drei Jahrzehnte liegen: Während im Roman ein Autor, der grade Mitte vierzig ist, die Position eines bereits fünfzigjährigen Ich-Erzählers imaginiert, blickt in der Novelle ein Schriftsteller, selbst Mitte siebzig (heute feiert er einen halbrunden Geburtstag), auf einen 25 Jahre jüngeren Mann. Bodo Kirchhoff weiß jetzt mehr; ob er weiser geworden ist, sei dahingestellt (und ist vielleicht gar nicht wünschenswert), aber jedenfalls hellsichtiger. Von Beginn an insistiert in seinem Schreiben das Gefühl eines fundamentalen Mangels, der seine männlichen Protagonisten stigmatisiert: die ständige Furcht davor, ihr Sein zu verfehlen. Das macht sie zu Getriebenen.
So gebiert auch "Nachtdiebe" - wirklich und wirksam unheimlich - die Vorstellung, wie einem Menschen, einem Mann vom Schlage eines Quints, jede Selbstgewissheit entwunden werden kann. Durch Botschaften unter einem Türspalt, unter Mitwirkung eines Unbekannten, unter den Händen einer Frau.
In den Büchern Kirchhoffs kehrt über die Jahre hin ein markanter Name wieder: Branzger. Gleich in "Ohne Eifer, ohne Zorn" erschien er, als freier Mitarbeiter von Zeitschriften, für die er blasse psychologische Artikel schreibt - "unter seinem Pseudonym Branzger, so wie man es spricht". Er trat 2002 kurz im "Schundroman" auf und danach, dort als todessüchtiger Studienrat, in "Wo das Meer beginnt". Im "Sandmann" mutierte er, nun als Dr. Branzger, zum Ungeheuer, um in "Nachtdiebe" als mysteriöser Hotelgast und Exilant der untergegangenen DDR sein undurchschaubares Spiel zu treiben.
In den Mutationen dieser Figur gibt es gleichwohl eine Konstante: Branzger ist opake Verkörperung des Bösen, des ebenso Verführerischen wie Abseitigen. Zugleich steht seine fluide Identität für die ständige Gefährdung des Subjekts, mithin für jenes Thema, das Kirchhoffs Schreiben zum Basso continuo hat.
"Nachtdiebe" entstand schon vor zwei Jahren, in der Zeit von Covid-19. Nun ist es Kirchhoffs letztes Buch geworden, das in der Frankfurter Verlagsanstalt erscheint. Nach gut zwei Jahrzehnten erfolgreicher Zusammenarbeit, die 2001 mit dem Roman "Parlando" begann, trennen sich die Wege. Der Verleger Joachim Unseld und der Autor gehen im Guten auseinander, das ist Kirchhoff wichtig. Sein nächster Roman ist bei dtv bereits für Januar 2024 angekündigt, der Titel lautet "Seit er sein Leben mit einem Tier teilt". ROSE-MARIA GROPP
Bodo Kirchhoff: "Nachtdiebe". Novelle.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2023.
155 S., geb., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
"Nachtdiebe" ist eine Novelle, die Bodo Kirchhoff aus seinem 1992 erschienenen Roman "Der Sandmann" "herausgeschält" hat, erzählt Rezensentin Mara Delius. Überhaupt tauchen hier Figuren, Themen und Motive aus älteren Büchern Kirchhoffs auf, erfahren wir. Hier also folgt ein Mann namens Quint mit seinem kleinen Sohn einer Frau, mit der er vor Jahren eine Affäre hatte, nach Tunis. Andere Figuren tauchen auf, das ganze wird zur "Schnitzeljagd", über der Quint seinen sohn zu verlieren droht, so die Kritikerin, die dem Sog der "traumartig überpräzisen Wirklichkeit" von Tunis offenbar erlegen ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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