Eine junge Frau, Ärztin in der chirurgischen Ambulanz, schlägt sich die Nächte mit Nachtdienst um die Ohren. Der stete Umgang mit Krankheit und Tod bringt sie an den Punkt, wo es kein Gefühl mehr gibt. Auch daß ihr Vater im Sterben liegt, bewegt sie kaum. Nur widerwillig löst sie seine Wohnung auf. Erst die Erinnerungen, die durch die Rückkehr in den österreichischen Heimatort aufsteigen, verändern ihren Blick. Melitta Brezniks dichte Erzählung über den Abschied vom Vater zeugt von großer sprachlicher Kraft. Mit entwaffnender Offenheit stellt sie sich den Themen Tod und Vergeblichkeit, ohne zu verschweigen, daß in jedem Leid auch die Chance zu einem Neubeginn liegt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1995Schnee im Oktober
Melitta Brezniks beeindruckender "Nachtdienst" / Von Hubert Spiegel
Bald wird der Vater tot sein. Er wird einen gewöhnlichen, modernen, einen zeitgemäßen Tod sterben: Allein in einem Krankenhausbett, unbemerkt von seinen Pflegern, alleingelassen von der Familie - "Es ist nicht mehr üblich, beim Sterben dabeizusein", hat die Erzählerin bereits auf den ersten Seiten gesagt, die von der Obduktion eines namenlosen Alkoholikers berichten, aber den Tod des Vaters meinen. Noch bevor der Vater vom Pflegeheim ins Krankenhaus überstellt wird, räumen die Kinder die Wohnung des Alten aus. Das mag voreilig scheinen, aber in der Familie, von der Melitta Brezniks Debüterzählung "Nachtdienst" berichtet, würde der Wille zur Pietät doch nur als Heuchelei empfunden.
Die Tochter sitzt auf dem Bett ihres früheren Zimmers und betrachtet das brüchig gewordene Linoleum auf dem Fußboden. Als sie dreizehn war, hat sie Stunden so verbracht: den Blick auf den Boden geheftet, versunken in den Versuch, in dem Gewirr aus "braunen kleinen Vierecken auf beigem Grund, zusammengewürfelt in größeren Karos", eine Ordnung zu finden, irgendeine Gesetzmäßigkeit. Das Muster im Teppich ist das Rätsel, das die Dreizehnjährige lösen muß, um die Welt aus dem Chaos zu erlösen. Vom Muster im Teppich hängt alles ab: "Dann würde ich Glück haben, Vater würde an diesem Abend nicht betrunken nach Hause kommen, Mutter würde trotz ihres Herzleidens steinalt und ich erhielte gute Noten oder ein Fahrrad zu Ostern." Was aber, wenn es gar kein Muster gibt?
Melitta Breznik verliert kein weiteres Wort über das Muster im Teppich. Sie sagt nicht, wann das Mädchen, das die Ich-Erzählerin einmal gewesen ist, aufgehört hat zu suchen, ob sie überhaupt je die Suche aufgegeben hat. Sie sagt nichts von der Leere, die den brütend auf dem Bett verbrachten Stunden gefolgt sein muß, nichts von der Verzweiflung, wenn der Vater wieder einmal betrunken nach Hause gekommen war, bevor sich das Muster gezeigt hatte. Sie versagt sich jede Anspielung auf Henry James' berühmte, erzähltheoretisch unterfütterte Erzählung "Das Muster im Teppich", amüsiert sich nicht über die kindlichen Versuche, Ordnung in eine heillose Welt zu bringen, und widersteht der Versuchung, jetzt, im Abstand von zwei Jahrzehnten, dem eigenen Leben eine Struktur zu geben, die es nie besessen hat. "Es stimmt nicht, daß mir das Schreiben genützt hat", so lautet ein Satz in Peter Handkes Erzählung "Wunschloses Unglück". Er könnte auch über Melitta Brezniks Erzählung stehen.
Der Auseinandersetzung mit den Eltern, den Abschieden und Abrechnungen, Abnabelungen und Wiederannäherungen ist in der Literaturgeschichte der Bundesrepublik ein eigenes Kapitel gewidmet. Man findet es unter den Überschriften "Väterliteratur", "Bewältigungsliteratur" oder auch "Subjektivität und Autobiographie". Der "Abschied von den Eltern", den sich Peter Weiss 1961 erschrieben hatte, gehörte in den siebziger Jahren zum Pflichtprogramm einer Literatur, die mit dem Schlagwort von der "Neuen Innerlichkeit" so übel nicht charakterisiert war. Von Handke und Bernward Vespers "Reise" über Härtlings "Nachgetragene Liebe" und Elisabeth Plessens "Mitteilung an den Adel" bis zu Christoph Meckels "Suchbild" hatten viele dieser Bücher neben formalen und ästhetischen Gemeinsamkeiten oft auch einen gemeinsamen Anlaß: Es war, mit Peter Weiss zu sprechen, "die Erkenntnis eines gänzlich mißglückten Versuchs von Zusammenleben, in dem die Mitglieder einer Familie ein paar Jahrzehnte beieinander ausgeharrt hatten".
Wer sich heute an den literarischen Abschied von den Eltern wagt, muß zum einen die Vorurteile überwinden, die Anfang der achtziger Jahre aufkamen, als man der Exkursionen ins Private, vorgeblich Authentische, der Innerlichkeit und ihrer oft nur allzu extrovertierten Bewältigungsgymnastik überdrüssig geworden war. Zum anderen aber muß er sich an Vorbildern messen lassen, die durchaus einschüchtern können. Handke und Peter Weiss, Meckels "Suchbild" oder Härtlings "Nachgetragene Liebe" gehören zum bundesrepublikanischen Kanon. Man darf annehmen, daß die Österreicherin Melitta Breznik, Jahrgang 1961, diesen Kanon kennt, und sicherlich ließe sich auch mancher Einfluß belegen. Aber neben der Präzision der Sprache, der Intensität der Darstellung und der Virtuosität, mit der Melitta Breznik ihre erzählerischen Mittel handhabt, ist es nicht zuletzt die souveräne Eigenständigkeit, die an diesem Debüt zu beeindrucken vermag.
Sein besonderer Kunstgriff liegt in der Parallelführung zweier Erzählperspektiven. Die Ich-Erzählerin, eine junge Ärztin, erinnert sich an die von Anbeginn unglückliche Ehe der Eltern, an die eigne Kindheit und Jugend, und berichtet zugleich von ihrem Beruf, dem Alltag im Krankenhaus und dem Umgang mit den Patienten. So ist der individuelle Tod des Vaters stets mit dem allgemeinen, anonymen Tod im Krankenhaus verknüpft. Daß der Tod des Vaters nicht als persönliches, unmittelbar empfundenes Einzelschicksal erscheint, liegt aber nicht nur am kalten Blick der Krankenhausärztin. Die Ich-Erzählerin ist in einer österreichischen Kleinstadt aufgewachsen, die in vielem an die muffig-kleinbürgerlichen, fast vormodern wirkenden Verhältnisse erinnert, die Handke im "Wunschlosen Unglück" beschreibt. Die Verhältnisse, die das Leben geprägt haben, drücken auch dem Tod ihren Stempel auf. Wo alles Persönliche von den Riten des Alltags aufgezehrt wird, wo der Begriff Individuum nur "als ein Schimpfwort" bekannt ist, wie es bei Handke heißt, kann auch der Tod keine besonderen Züge tragen. "Es war ein früher Schnee in der Nacht im Oktober, als Vater starb. Ich war nicht da, ich hatte Nachtdienst", heißt es auf der vorletzten von kaum mehr als hundert Seiten.
Man liest dieses Debüt mit dem eigentümlichen Gefühl, das Destillat eines um viele Seiten stärkeren Manuskripts in Händen zu halten - so durchgearbeitet, so dicht und auf das Wesentlichste beschränkt ist diese Prosa. "Später werde ich über das alles Genaueres schreiben", lautet der berühmte letzte Satz im "Wunschlosen Unglück". In Melitta Brezniks Erzählung wäre er fehl am Platz.
Melitta Breznik: "Nachtdienst." Eine Erzählung. Luchterhand Literaturverlag, München 1995. 115 S., geb., 29,80 DM.
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Melitta Brezniks beeindruckender "Nachtdienst" / Von Hubert Spiegel
Bald wird der Vater tot sein. Er wird einen gewöhnlichen, modernen, einen zeitgemäßen Tod sterben: Allein in einem Krankenhausbett, unbemerkt von seinen Pflegern, alleingelassen von der Familie - "Es ist nicht mehr üblich, beim Sterben dabeizusein", hat die Erzählerin bereits auf den ersten Seiten gesagt, die von der Obduktion eines namenlosen Alkoholikers berichten, aber den Tod des Vaters meinen. Noch bevor der Vater vom Pflegeheim ins Krankenhaus überstellt wird, räumen die Kinder die Wohnung des Alten aus. Das mag voreilig scheinen, aber in der Familie, von der Melitta Brezniks Debüterzählung "Nachtdienst" berichtet, würde der Wille zur Pietät doch nur als Heuchelei empfunden.
Die Tochter sitzt auf dem Bett ihres früheren Zimmers und betrachtet das brüchig gewordene Linoleum auf dem Fußboden. Als sie dreizehn war, hat sie Stunden so verbracht: den Blick auf den Boden geheftet, versunken in den Versuch, in dem Gewirr aus "braunen kleinen Vierecken auf beigem Grund, zusammengewürfelt in größeren Karos", eine Ordnung zu finden, irgendeine Gesetzmäßigkeit. Das Muster im Teppich ist das Rätsel, das die Dreizehnjährige lösen muß, um die Welt aus dem Chaos zu erlösen. Vom Muster im Teppich hängt alles ab: "Dann würde ich Glück haben, Vater würde an diesem Abend nicht betrunken nach Hause kommen, Mutter würde trotz ihres Herzleidens steinalt und ich erhielte gute Noten oder ein Fahrrad zu Ostern." Was aber, wenn es gar kein Muster gibt?
Melitta Breznik verliert kein weiteres Wort über das Muster im Teppich. Sie sagt nicht, wann das Mädchen, das die Ich-Erzählerin einmal gewesen ist, aufgehört hat zu suchen, ob sie überhaupt je die Suche aufgegeben hat. Sie sagt nichts von der Leere, die den brütend auf dem Bett verbrachten Stunden gefolgt sein muß, nichts von der Verzweiflung, wenn der Vater wieder einmal betrunken nach Hause gekommen war, bevor sich das Muster gezeigt hatte. Sie versagt sich jede Anspielung auf Henry James' berühmte, erzähltheoretisch unterfütterte Erzählung "Das Muster im Teppich", amüsiert sich nicht über die kindlichen Versuche, Ordnung in eine heillose Welt zu bringen, und widersteht der Versuchung, jetzt, im Abstand von zwei Jahrzehnten, dem eigenen Leben eine Struktur zu geben, die es nie besessen hat. "Es stimmt nicht, daß mir das Schreiben genützt hat", so lautet ein Satz in Peter Handkes Erzählung "Wunschloses Unglück". Er könnte auch über Melitta Brezniks Erzählung stehen.
Der Auseinandersetzung mit den Eltern, den Abschieden und Abrechnungen, Abnabelungen und Wiederannäherungen ist in der Literaturgeschichte der Bundesrepublik ein eigenes Kapitel gewidmet. Man findet es unter den Überschriften "Väterliteratur", "Bewältigungsliteratur" oder auch "Subjektivität und Autobiographie". Der "Abschied von den Eltern", den sich Peter Weiss 1961 erschrieben hatte, gehörte in den siebziger Jahren zum Pflichtprogramm einer Literatur, die mit dem Schlagwort von der "Neuen Innerlichkeit" so übel nicht charakterisiert war. Von Handke und Bernward Vespers "Reise" über Härtlings "Nachgetragene Liebe" und Elisabeth Plessens "Mitteilung an den Adel" bis zu Christoph Meckels "Suchbild" hatten viele dieser Bücher neben formalen und ästhetischen Gemeinsamkeiten oft auch einen gemeinsamen Anlaß: Es war, mit Peter Weiss zu sprechen, "die Erkenntnis eines gänzlich mißglückten Versuchs von Zusammenleben, in dem die Mitglieder einer Familie ein paar Jahrzehnte beieinander ausgeharrt hatten".
Wer sich heute an den literarischen Abschied von den Eltern wagt, muß zum einen die Vorurteile überwinden, die Anfang der achtziger Jahre aufkamen, als man der Exkursionen ins Private, vorgeblich Authentische, der Innerlichkeit und ihrer oft nur allzu extrovertierten Bewältigungsgymnastik überdrüssig geworden war. Zum anderen aber muß er sich an Vorbildern messen lassen, die durchaus einschüchtern können. Handke und Peter Weiss, Meckels "Suchbild" oder Härtlings "Nachgetragene Liebe" gehören zum bundesrepublikanischen Kanon. Man darf annehmen, daß die Österreicherin Melitta Breznik, Jahrgang 1961, diesen Kanon kennt, und sicherlich ließe sich auch mancher Einfluß belegen. Aber neben der Präzision der Sprache, der Intensität der Darstellung und der Virtuosität, mit der Melitta Breznik ihre erzählerischen Mittel handhabt, ist es nicht zuletzt die souveräne Eigenständigkeit, die an diesem Debüt zu beeindrucken vermag.
Sein besonderer Kunstgriff liegt in der Parallelführung zweier Erzählperspektiven. Die Ich-Erzählerin, eine junge Ärztin, erinnert sich an die von Anbeginn unglückliche Ehe der Eltern, an die eigne Kindheit und Jugend, und berichtet zugleich von ihrem Beruf, dem Alltag im Krankenhaus und dem Umgang mit den Patienten. So ist der individuelle Tod des Vaters stets mit dem allgemeinen, anonymen Tod im Krankenhaus verknüpft. Daß der Tod des Vaters nicht als persönliches, unmittelbar empfundenes Einzelschicksal erscheint, liegt aber nicht nur am kalten Blick der Krankenhausärztin. Die Ich-Erzählerin ist in einer österreichischen Kleinstadt aufgewachsen, die in vielem an die muffig-kleinbürgerlichen, fast vormodern wirkenden Verhältnisse erinnert, die Handke im "Wunschlosen Unglück" beschreibt. Die Verhältnisse, die das Leben geprägt haben, drücken auch dem Tod ihren Stempel auf. Wo alles Persönliche von den Riten des Alltags aufgezehrt wird, wo der Begriff Individuum nur "als ein Schimpfwort" bekannt ist, wie es bei Handke heißt, kann auch der Tod keine besonderen Züge tragen. "Es war ein früher Schnee in der Nacht im Oktober, als Vater starb. Ich war nicht da, ich hatte Nachtdienst", heißt es auf der vorletzten von kaum mehr als hundert Seiten.
Man liest dieses Debüt mit dem eigentümlichen Gefühl, das Destillat eines um viele Seiten stärkeren Manuskripts in Händen zu halten - so durchgearbeitet, so dicht und auf das Wesentlichste beschränkt ist diese Prosa. "Später werde ich über das alles Genaueres schreiben", lautet der berühmte letzte Satz im "Wunschlosen Unglück". In Melitta Brezniks Erzählung wäre er fehl am Platz.
Melitta Breznik: "Nachtdienst." Eine Erzählung. Luchterhand Literaturverlag, München 1995. 115 S., geb., 29,80 DM.
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"Sie lässt, eine hohe Kunst, die Leser tief in die menschlichen Abgründe blicken." Die Weltwoche