Eine Nacht, eine Stadt und zwei Freunde, die wissen, dass es nichts Größeres gibt als die Wahrheit des Moments, in dem die Kneipe schließt. Von Bier zu Bier und von Geschichte zu Geschichte treibend erzählen zwei Nachtgestalten scharfsinnig, klug und mit subversivem Witz von der Tragik der Liebe, dem Wahnsinn des Lebens sowie den Spuren der Geschichte, die allem zugrunde liegt und nie ganz verschwindet.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jörg Plath kann dem in mattem Schwarz gehaltenen Comic von Jaroslav Rudis und Nicolas Mahler einiges abgewinnen. Dieses Kneipengespräch zwischen einem langen Dünnen und einem Kleinen mit Basecap ist laut Plath nämlich angenehm anders als die üblichen Bierdialoge, nämlich nicht von toxischer Männlichkeit erfüllt, sondern immer wieder von Schweigen und Selbsteinkehr, von Rhythmus, Gemütlichkeit und Humor a la Heinz Erhardt. Das Stilmittel der lockeren Verbindung von großen und kleinen Problemen haben die beiden Autoren gut im Griff, findet Plath.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.05.2021Immer wieder Sperrstunde
Mythos und Bierdunst der Prager Nacht: Der Comic „Nachtgestalten“ von
Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler ist so melancholisch wie komisch
VON FRITZ GÖTTLER
Es gibt doch Hoffnung auf dieser Welt, sagt der eine Mann zum andern, Hoffnung für dich und mich, für uns. Sie sitzen in einer Kneipe, dürr und stangenhaft der eine, der andere dick und gedrungen, zwei Gefährten der Nacht. Nach diesem Satz wird ihnen plötzlich das Licht abgedreht, Sperrstunde. Dann stehen sie auf der nächtlichen Straße und gucken, wie der Wirt das Rollo runterlässt. Also setzen sie sich in Bewegung, auf der Suche nach einer Kneipe, die noch nicht geschlossen hat. Und der Diskurs setzt sich fort. Das Prinzip Hoffnung.
Das unermüdliche Weiterundweiter macht den Drive dieses Buches aus, verleiht ihm eine angenehme, absurde Zielstrebigkeit. Immer wieder wird es ein Licht geben, das aus dem Fenster einer noch offenen Kneipe fällt. Ein street movie, durch das Biotop der Nacht. Die Stadtlandschaft, die die beiden Nachtgestalten durchwandern, hat etwas Stumpfes und Gedrungenes, schwarze Hausblöcke, Dächer, Schornsteine, nichts, das irgendwie Wohnlichkeit beschwören würde, ein Leben anderswo als am Kneipentisch. Der Mond dominiert alles in kosmischer Gleichgültigkeit, manchmal durchstoßen ihn zackige Wolken, porös und geradlinig zugleich.
Das Buch lässt uns heimisch werden in einem lebendigen Schwarz, das mit Weiß und Blau eine behutsame Farbigkeit entwickelt. Prager Noir, das heißt, es ist bei allen Anklängen von Nihilismus und Endzeitstimmung ungemein komisch – und der Mythos der Prager Nacht ist schon immer vom Bierdunst geschwängert. Jaroslav Rudiš, der den Nachtgestalten den Text liefert, hat sich in seinen Romanen in der Tradition von Jaroslav Hašek und Kafka bewährt – Hašek, der ins Wirtshaus ging, um Ideen fürs Schreiben zu kriegen, und dann schrieb, um mit dem verdienten Geld zurück ins Wirtshaus zu können. Nicolas Mahler, der die Bilder schuf, hat in seinen Comics Thomas Bernhard und F. W. Murnaus Filme beschworen, auch Musil, Joyce, Proust oder japanische Monsterfilme. Seine Figuren sind ohne individuelle Züge, die Nasen lang, die Arme eng an die Körper gelegt, außer wenn sie die Biergläser zum Mund heben. Manchmal halten sie inne, um sich eine Zigarette anzustecken, manchmal sieht man, wie über ihnen der Alkoholdunst evaporisiert.
Überreste einer Liebesgeschichte blitzen in den Gesprächen auf. Hast du eigentlich mit Hana geschlafen?, fragt der Lange, und dass der andere mit Ja antwortet, irritiert ihn sehr. Er hat Hana wirklich geliebt, hat bei ihrer Hochzeit einen unliebsamen Zwischenfall verursacht. Aber gegen die Erinnerungen ist das Schweigen nicht hilfreich. „Sag jetzt nichts ...“
Eine Graphic Novel mag man die „Nachtgestalten“ nicht nennen, hier ist das Romanhafte auf seine Essenz reduziert, nur manchmal gibt es Ausbrüche von Action, von Spektakel: ein Wanderausflug auf den Mont Blanc, der in einem teuer bezahlten Rettungsflug im Hubschrauber endet; ein Onkel, der sein Haus in den Bergen in Brand steckt; die Erinnerung an eine große Schlacht der Weltgeschichte, in der schließlich hoffnungsvoll die Sonne durch den Nebel dringt, le beau soleil d’Austerlitz. Eine sanfte Monotonie herrscht ansonsten, wie man sie vom absurden Theater kennt, Beckett, Ionesco, Boris Vian, in den Fünfzigern, als die Schrecken des Weltkriegs noch in Erinnerung waren und sich mischten mit den Ängsten des Kalten Krieges. Die Zeit, da man glückliche Nächte beschwor!
Ich muss einen Magneten irgendwo tief in mir drinnen tragen, seufzt mal der Lange, der zieht die ganzen Katastrophen an. Im Hubschrauber, der ihn aus den Alpen holte, hatte ihm einer der Flieger die Formel vom Ende der Geschichte erzählt. Aber die große Geschichte, die Historie drängt sich in die persönliche oft hinterrücks. Die Kriege, der Terror, der Faschismus, so werden die „Nachtgestalten“ am Ende ein sehr politisches Buch. Der Lange hat über Austerlitz promoviert, aber plötzlich geht’s um seine eigene Geschichte, die seiner Familie, die kann man nicht studieren, die muss man erleben. Plötzlich kommt die Mauer eines KZs ins Bild, Stacheldraht und die Inschrift „Arbeit macht frei“ über dem Tor. Sein Seufzer: „Die Geschichte macht mich fertig ...“
„Winterbergs letzte Reise“ steckt in diesem Buch, so heißt der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch schrieb. Das war eine Reise durch Mitteleuropa, seine Schlachtfelder, Friedhöfe, Ruinen. Auch Austerlitz wird aufgesucht. In „Nachtgestalten“ ist das Reisen durch Erinnerungen blockiert. Über die Stadt Kolín kann man nur fahren mit einem großen Vorrat an Bier, denn in Kolín wird immer noch Zyklon B produziert. Sie nennen es jetzt Uragan D2. Nur die Natur könnte eine Fluchtmöglichkeit bieten, das Leben wie ein Wisent, in dem Ein- und Zwei- und Mehrsamkeit zeitlich in verschiedene Wochen aufgeteilt sind. Eine schöne, eine unnahbare Utopie.
Ein Magnet im Inneren zieht die
Katastrophen an: die der Liebe
und die der Weltgeschichte
So sieht die Zusammenarbeit von Nicolas Mahler und Jaroslav Rudiš aus: Gedanken evaporisieren.
Foto: Luchterhand
Jaroslav Rudiš,
Nicolas Mahler:
Nachtgestalten. Luchterhand, München 2020.
144 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mythos und Bierdunst der Prager Nacht: Der Comic „Nachtgestalten“ von
Jaroslav Rudiš und Nicolas Mahler ist so melancholisch wie komisch
VON FRITZ GÖTTLER
Es gibt doch Hoffnung auf dieser Welt, sagt der eine Mann zum andern, Hoffnung für dich und mich, für uns. Sie sitzen in einer Kneipe, dürr und stangenhaft der eine, der andere dick und gedrungen, zwei Gefährten der Nacht. Nach diesem Satz wird ihnen plötzlich das Licht abgedreht, Sperrstunde. Dann stehen sie auf der nächtlichen Straße und gucken, wie der Wirt das Rollo runterlässt. Also setzen sie sich in Bewegung, auf der Suche nach einer Kneipe, die noch nicht geschlossen hat. Und der Diskurs setzt sich fort. Das Prinzip Hoffnung.
Das unermüdliche Weiterundweiter macht den Drive dieses Buches aus, verleiht ihm eine angenehme, absurde Zielstrebigkeit. Immer wieder wird es ein Licht geben, das aus dem Fenster einer noch offenen Kneipe fällt. Ein street movie, durch das Biotop der Nacht. Die Stadtlandschaft, die die beiden Nachtgestalten durchwandern, hat etwas Stumpfes und Gedrungenes, schwarze Hausblöcke, Dächer, Schornsteine, nichts, das irgendwie Wohnlichkeit beschwören würde, ein Leben anderswo als am Kneipentisch. Der Mond dominiert alles in kosmischer Gleichgültigkeit, manchmal durchstoßen ihn zackige Wolken, porös und geradlinig zugleich.
Das Buch lässt uns heimisch werden in einem lebendigen Schwarz, das mit Weiß und Blau eine behutsame Farbigkeit entwickelt. Prager Noir, das heißt, es ist bei allen Anklängen von Nihilismus und Endzeitstimmung ungemein komisch – und der Mythos der Prager Nacht ist schon immer vom Bierdunst geschwängert. Jaroslav Rudiš, der den Nachtgestalten den Text liefert, hat sich in seinen Romanen in der Tradition von Jaroslav Hašek und Kafka bewährt – Hašek, der ins Wirtshaus ging, um Ideen fürs Schreiben zu kriegen, und dann schrieb, um mit dem verdienten Geld zurück ins Wirtshaus zu können. Nicolas Mahler, der die Bilder schuf, hat in seinen Comics Thomas Bernhard und F. W. Murnaus Filme beschworen, auch Musil, Joyce, Proust oder japanische Monsterfilme. Seine Figuren sind ohne individuelle Züge, die Nasen lang, die Arme eng an die Körper gelegt, außer wenn sie die Biergläser zum Mund heben. Manchmal halten sie inne, um sich eine Zigarette anzustecken, manchmal sieht man, wie über ihnen der Alkoholdunst evaporisiert.
Überreste einer Liebesgeschichte blitzen in den Gesprächen auf. Hast du eigentlich mit Hana geschlafen?, fragt der Lange, und dass der andere mit Ja antwortet, irritiert ihn sehr. Er hat Hana wirklich geliebt, hat bei ihrer Hochzeit einen unliebsamen Zwischenfall verursacht. Aber gegen die Erinnerungen ist das Schweigen nicht hilfreich. „Sag jetzt nichts ...“
Eine Graphic Novel mag man die „Nachtgestalten“ nicht nennen, hier ist das Romanhafte auf seine Essenz reduziert, nur manchmal gibt es Ausbrüche von Action, von Spektakel: ein Wanderausflug auf den Mont Blanc, der in einem teuer bezahlten Rettungsflug im Hubschrauber endet; ein Onkel, der sein Haus in den Bergen in Brand steckt; die Erinnerung an eine große Schlacht der Weltgeschichte, in der schließlich hoffnungsvoll die Sonne durch den Nebel dringt, le beau soleil d’Austerlitz. Eine sanfte Monotonie herrscht ansonsten, wie man sie vom absurden Theater kennt, Beckett, Ionesco, Boris Vian, in den Fünfzigern, als die Schrecken des Weltkriegs noch in Erinnerung waren und sich mischten mit den Ängsten des Kalten Krieges. Die Zeit, da man glückliche Nächte beschwor!
Ich muss einen Magneten irgendwo tief in mir drinnen tragen, seufzt mal der Lange, der zieht die ganzen Katastrophen an. Im Hubschrauber, der ihn aus den Alpen holte, hatte ihm einer der Flieger die Formel vom Ende der Geschichte erzählt. Aber die große Geschichte, die Historie drängt sich in die persönliche oft hinterrücks. Die Kriege, der Terror, der Faschismus, so werden die „Nachtgestalten“ am Ende ein sehr politisches Buch. Der Lange hat über Austerlitz promoviert, aber plötzlich geht’s um seine eigene Geschichte, die seiner Familie, die kann man nicht studieren, die muss man erleben. Plötzlich kommt die Mauer eines KZs ins Bild, Stacheldraht und die Inschrift „Arbeit macht frei“ über dem Tor. Sein Seufzer: „Die Geschichte macht mich fertig ...“
„Winterbergs letzte Reise“ steckt in diesem Buch, so heißt der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch schrieb. Das war eine Reise durch Mitteleuropa, seine Schlachtfelder, Friedhöfe, Ruinen. Auch Austerlitz wird aufgesucht. In „Nachtgestalten“ ist das Reisen durch Erinnerungen blockiert. Über die Stadt Kolín kann man nur fahren mit einem großen Vorrat an Bier, denn in Kolín wird immer noch Zyklon B produziert. Sie nennen es jetzt Uragan D2. Nur die Natur könnte eine Fluchtmöglichkeit bieten, das Leben wie ein Wisent, in dem Ein- und Zwei- und Mehrsamkeit zeitlich in verschiedene Wochen aufgeteilt sind. Eine schöne, eine unnahbare Utopie.
Ein Magnet im Inneren zieht die
Katastrophen an: die der Liebe
und die der Weltgeschichte
So sieht die Zusammenarbeit von Nicolas Mahler und Jaroslav Rudiš aus: Gedanken evaporisieren.
Foto: Luchterhand
Jaroslav Rudiš,
Nicolas Mahler:
Nachtgestalten. Luchterhand, München 2020.
144 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2021Toxisch ist hier allenfalls das Bier
Die Kunst des Kneipengesprächs als Comic: "Nachtgestalten" von Jaroslav Rudis und Nicolas Mahler ist nichts Wesentliches fern.
Dunkel war's, der Mond schien helle, tosend leer die Straß', als zwei Typen torkelnd schnelle, schweigend ins Gespräch versanken, sich die Ecken gerade tranken - an ein unverwüstliches Gedicht aus Kinderzeiten lässt "Nachtgestalten" denken, das Gemeinschaftswerk des österreichischen Zeichners Nicolas Mahler und des tschechischen Schriftstellers Jaroslav Rudis. Der Comic erzählt stimmungsvoll von zwei Kneipengängern. Leuchtet ihnen ein Fenster weißlich in der schwarzen schwarzen Nacht, dann kehren sie ein ins Wirtshaus, um dem Gott des Bieres zu huldigen.
Lang und dünn ist der eine, klein und kappenbewehrt der andere. Eine beachtliche möhrenförmige Nase strebt beiden voran, womit auch schon alles über die Physiognomik gesagt ist. Denn ein Gesicht oder gar ein Augenpaar fehlt den Figuren, nicht einmal der recht umstandslos in Füße mündende Rumpf ist irgendwie unterteilt. Ein Stöpsel und eine Basecap ohne Schirm gehen durch eine dunkle Welt. Immerhin haben die Freunde einander und das Bier.
Wie jedes Obdach auf Erden ist das im Wirtshaus grässlich kurz. Immer wieder erlischt mit einem Mal der Glühbirnenkegel über den beiden, dann zieht der Wirt das Gitter der Eingangstür herunter, und die Straße hat die beiden wieder. Die Schließungen punktieren das Gespräch und schenken Gelegenheiten zu abrupten Themenwechseln. Sie erlösen auch von der Stille, die zwischen zwei Männern durchaus einkehren kann und nicht immer uneingeschränktes Einverständnis bedeutet, eher kommunikatives Beschweigen und - des öfteren - unkommunikative Selbsteinkehr.
Für Jaroslav Rudis, der schon gemeinsam mit dem tschechischen Zeichner Jaromir 99 Comics verfasst hat, muss der Zwang zur Verknappung reizvoll gewesen sein. Als Schriftsteller und Kneipengänger ist der in Berlin und Prag lebende Tscheche, Jahrgang 1972, ein Mann des barocken Humorüberschwangs. Sein jüngster - und erster auf Deutsch verfasster - Roman, "Winterbergs letzte Reise", 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, besteht vornehmlich aus teils tragikomischen Monologen eines Greises, der seine letzte Eisenbahnfahrt durch ein zu Dreivierteln vergangenes, einem Viertel gegenwärtiges Mitteleuropa zwischen Berlin und Sarajevo absolviert.
Nicolas Mahler dagegen ist für Zuspitzungen bekannt. Der Österreicher hat sich furchtlos hochrangiger Klassiker angenommen und nicht nur Thomas Bernhards "Der Weltverbesserer", James Joyce' "Ulysses" oder Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" auf wenigen hundert Comicseiten mit meist bös intelligentem Witz adaptiert.
Mit sicherem Rhythmusgefühl üben Rudis und Mahler die Kunst des männlichen Kneipengesprächs, dem nichts Wesentliches fern ist und nichts Unwesentliches nah genug sein kann. Aus der Verbindung von beidem entsteht der meist gemütliche, auch ein wenig sentimentalische Humor des Bandes. Diesem fehlt glücklicherweise jede Nähe zu gegenwärtigen Männlichkeitsdiskursen, das Toxischste an diesen Mannsbildern ist das in sie fließende Bier. Die beiden erinnern eher an Heinz Erhardt als an David Bowie oder gar Harvey Weinstein. Kaum etwas stört die melancholische Sehnsucht nach Kneipe, Männerfreundschaft und besseren Zeiten. Der lange Stöpsel trauert einer alten Liebe hinterher und der Jugend, als sich die Frauen um ihn rissen. Er möchte in den Wäldern leben wie die Wisente, die nur im Sommer Stuten und Kinder besuchen und wieder gehen, wenn die Zeit gekommen ist. Schön sei diese Wisentwelt ohne Leid und Scheidung! "Aber du magst doch die Natur gar nicht", bemerkt Basecap. Stimmt leider, sagt der Stadtmensch, ebenso wie das Wandern. Er sei nur einmal zum Wandern mitgenommen worden. "Ist das die Geschichte mit dem Hubschrauber?", fragt Basecap, der über die Rolle des Beichtvaters und Stichwortgebers nicht hinauskommt. "Ich habe den Hubschrauber nicht gerufen", sagt Stöpsel stolz, und Basecap lobt dessen Mut: "In die Alpen mit Sommerlatschen . . ." Fünf Jahre musste Stöpsel den Rettungseinsatz abbezahlen, genoss aber das Gespräch mit einem der Sanitäter über die Schlacht bei Austerlitz und das Ende der Geschichte, also nicht dieser Geschichte, sondern der an sich. Darauf Schweigen in der Stadt, ein weißes, nicht wie sonst mattschwarz-kaliblaues Panel lang. Und dann ein zufriedenes "Schön war das".
Die flüchtig-flüssige Verbindung von Menschheitsproblemen mit den eigenen ist das Stilmittel, mit dem Rudis und Mahler noch der Tragik Witz entlocken: Stöpsel kann nicht mit der tschechischen Bahn zu seiner Geliebten fahren, ohne sich zu betrinken, weil die Strecke an einer Zyklon B produzierenden Fabrik vorbeiführt und seine Großeltern mit dem Gift umgebracht worden sind. Alenka aber schätzt die Nüchternheit, was jede Begegnung zuverlässig verhindert.
Im Comic herrscht edelmattes Schwarz vor. Nicolas Mahler zeigt die Stadt als spätexpressionistischen Schattenriss und seine zwei Biersucher mal weiß, mal kaliblau auf kaliblauer Straße. Weiß sind auch die Lichtkegel der Kneipen sowie die meisten Fluchttraum- und Vorstellungsbilder. Deren Ränder fransen aus, sie schweben wie Bildgespenster, während sonst vier, zuweilen auch zwei oder drei Panels auf durchweg mattschwarzen Stegen die Seiten füllen.
Wären Stöpsel und Basecap nicht so strikt reduziert, wäre die Seitenaufteilung rigider und die Farbgebung naiver, könnte es sich auch um einen einige Jahrzehnte älteren Comic handeln. "Nachtgestalten" haftet ein freundlicher Vintage-Geruch an.
JÖRG PLATH
Jaroslav Rudis, Nicolas Mahler: "Nachtgestalten".
Luchterhand Literaturverlag, München 2021.
144 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Kunst des Kneipengesprächs als Comic: "Nachtgestalten" von Jaroslav Rudis und Nicolas Mahler ist nichts Wesentliches fern.
Dunkel war's, der Mond schien helle, tosend leer die Straß', als zwei Typen torkelnd schnelle, schweigend ins Gespräch versanken, sich die Ecken gerade tranken - an ein unverwüstliches Gedicht aus Kinderzeiten lässt "Nachtgestalten" denken, das Gemeinschaftswerk des österreichischen Zeichners Nicolas Mahler und des tschechischen Schriftstellers Jaroslav Rudis. Der Comic erzählt stimmungsvoll von zwei Kneipengängern. Leuchtet ihnen ein Fenster weißlich in der schwarzen schwarzen Nacht, dann kehren sie ein ins Wirtshaus, um dem Gott des Bieres zu huldigen.
Lang und dünn ist der eine, klein und kappenbewehrt der andere. Eine beachtliche möhrenförmige Nase strebt beiden voran, womit auch schon alles über die Physiognomik gesagt ist. Denn ein Gesicht oder gar ein Augenpaar fehlt den Figuren, nicht einmal der recht umstandslos in Füße mündende Rumpf ist irgendwie unterteilt. Ein Stöpsel und eine Basecap ohne Schirm gehen durch eine dunkle Welt. Immerhin haben die Freunde einander und das Bier.
Wie jedes Obdach auf Erden ist das im Wirtshaus grässlich kurz. Immer wieder erlischt mit einem Mal der Glühbirnenkegel über den beiden, dann zieht der Wirt das Gitter der Eingangstür herunter, und die Straße hat die beiden wieder. Die Schließungen punktieren das Gespräch und schenken Gelegenheiten zu abrupten Themenwechseln. Sie erlösen auch von der Stille, die zwischen zwei Männern durchaus einkehren kann und nicht immer uneingeschränktes Einverständnis bedeutet, eher kommunikatives Beschweigen und - des öfteren - unkommunikative Selbsteinkehr.
Für Jaroslav Rudis, der schon gemeinsam mit dem tschechischen Zeichner Jaromir 99 Comics verfasst hat, muss der Zwang zur Verknappung reizvoll gewesen sein. Als Schriftsteller und Kneipengänger ist der in Berlin und Prag lebende Tscheche, Jahrgang 1972, ein Mann des barocken Humorüberschwangs. Sein jüngster - und erster auf Deutsch verfasster - Roman, "Winterbergs letzte Reise", 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, besteht vornehmlich aus teils tragikomischen Monologen eines Greises, der seine letzte Eisenbahnfahrt durch ein zu Dreivierteln vergangenes, einem Viertel gegenwärtiges Mitteleuropa zwischen Berlin und Sarajevo absolviert.
Nicolas Mahler dagegen ist für Zuspitzungen bekannt. Der Österreicher hat sich furchtlos hochrangiger Klassiker angenommen und nicht nur Thomas Bernhards "Der Weltverbesserer", James Joyce' "Ulysses" oder Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" auf wenigen hundert Comicseiten mit meist bös intelligentem Witz adaptiert.
Mit sicherem Rhythmusgefühl üben Rudis und Mahler die Kunst des männlichen Kneipengesprächs, dem nichts Wesentliches fern ist und nichts Unwesentliches nah genug sein kann. Aus der Verbindung von beidem entsteht der meist gemütliche, auch ein wenig sentimentalische Humor des Bandes. Diesem fehlt glücklicherweise jede Nähe zu gegenwärtigen Männlichkeitsdiskursen, das Toxischste an diesen Mannsbildern ist das in sie fließende Bier. Die beiden erinnern eher an Heinz Erhardt als an David Bowie oder gar Harvey Weinstein. Kaum etwas stört die melancholische Sehnsucht nach Kneipe, Männerfreundschaft und besseren Zeiten. Der lange Stöpsel trauert einer alten Liebe hinterher und der Jugend, als sich die Frauen um ihn rissen. Er möchte in den Wäldern leben wie die Wisente, die nur im Sommer Stuten und Kinder besuchen und wieder gehen, wenn die Zeit gekommen ist. Schön sei diese Wisentwelt ohne Leid und Scheidung! "Aber du magst doch die Natur gar nicht", bemerkt Basecap. Stimmt leider, sagt der Stadtmensch, ebenso wie das Wandern. Er sei nur einmal zum Wandern mitgenommen worden. "Ist das die Geschichte mit dem Hubschrauber?", fragt Basecap, der über die Rolle des Beichtvaters und Stichwortgebers nicht hinauskommt. "Ich habe den Hubschrauber nicht gerufen", sagt Stöpsel stolz, und Basecap lobt dessen Mut: "In die Alpen mit Sommerlatschen . . ." Fünf Jahre musste Stöpsel den Rettungseinsatz abbezahlen, genoss aber das Gespräch mit einem der Sanitäter über die Schlacht bei Austerlitz und das Ende der Geschichte, also nicht dieser Geschichte, sondern der an sich. Darauf Schweigen in der Stadt, ein weißes, nicht wie sonst mattschwarz-kaliblaues Panel lang. Und dann ein zufriedenes "Schön war das".
Die flüchtig-flüssige Verbindung von Menschheitsproblemen mit den eigenen ist das Stilmittel, mit dem Rudis und Mahler noch der Tragik Witz entlocken: Stöpsel kann nicht mit der tschechischen Bahn zu seiner Geliebten fahren, ohne sich zu betrinken, weil die Strecke an einer Zyklon B produzierenden Fabrik vorbeiführt und seine Großeltern mit dem Gift umgebracht worden sind. Alenka aber schätzt die Nüchternheit, was jede Begegnung zuverlässig verhindert.
Im Comic herrscht edelmattes Schwarz vor. Nicolas Mahler zeigt die Stadt als spätexpressionistischen Schattenriss und seine zwei Biersucher mal weiß, mal kaliblau auf kaliblauer Straße. Weiß sind auch die Lichtkegel der Kneipen sowie die meisten Fluchttraum- und Vorstellungsbilder. Deren Ränder fransen aus, sie schweben wie Bildgespenster, während sonst vier, zuweilen auch zwei oder drei Panels auf durchweg mattschwarzen Stegen die Seiten füllen.
Wären Stöpsel und Basecap nicht so strikt reduziert, wäre die Seitenaufteilung rigider und die Farbgebung naiver, könnte es sich auch um einen einige Jahrzehnte älteren Comic handeln. "Nachtgestalten" haftet ein freundlicher Vintage-Geruch an.
JÖRG PLATH
Jaroslav Rudis, Nicolas Mahler: "Nachtgestalten".
Luchterhand Literaturverlag, München 2021.
144 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Der Comic 'Nachtgestalten' von Jaroslav Rudis und Nicolas Mahler ist so melancholisch wie komisch.« Fritz Göttler / Süddeutsche Zeitung