Echos und Lesefetzen, eigene und fremde Stimmen, die sich zu einem Dritten formen. Solche Sprachfunde sind für Nico Bleutge wie Kraftfelder, die seine Aufmerksamkeit bündeln. Den Kern des neuen Bandes bildet ein Zyklus aus zehn längeren Gedichten, die sprachlich und motivisch eng verzahnt sind. Der Bosporus als Sprungbrett: Öltanker und Containerschiffe, die etwas davon erzählen, wie der weltweite Handel die überkommenen Vorstellungen von Zeit, Transport und Geschwindigkeit verändert hat. Erinnerungen aus der Kindheit tauchen auf. Splitter aus Alfred Döblins "Berge Meere und Giganten". Ein Reservoir für die Sprach- und Klangwelt der Gedichte:
"mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung / ein anderes licht, verwandtschaft von flucht und begreifen / ein zwischending aus gas und flüssigkeit / das die welt umpflügte." Mit großer rhythmischer Kraft zeigt uns Nico Bleutge die Zeitschichten und Mehrdeutigkeiten, die in der Sprache versteckt sind - aber auch die Verknüpfungen, Gemeinsamkeiten, die das Gedicht immer wieder aufspüren kann.
"mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung / ein anderes licht, verwandtschaft von flucht und begreifen / ein zwischending aus gas und flüssigkeit / das die welt umpflügte." Mit großer rhythmischer Kraft zeigt uns Nico Bleutge die Zeitschichten und Mehrdeutigkeiten, die in der Sprache versteckt sind - aber auch die Verknüpfungen, Gemeinsamkeiten, die das Gedicht immer wieder aufspüren kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2017Unausgesprochen bleibt das Gedicht nur bei Heidegger
Nico Bleutge bringt mit "nachts leuchten die schiffe" seine Lyrik auf einen neuen Gipfel
Der Imperativ der Innovation hat die Kunst fest im Griff. Er fordert, dass der einzelne Künstler sich mit jeder Arbeit neu erfindet. Der Tanz um das Goldene Kalb der Innovation macht vergessen, dass sich große künstlerische Qualität gerade auch durch Kontinuität und Wiedererkennbarkeit auszeichnet.
Für die Lyrik hat die am eindrücklichsten Martin Heidegger theoretisch entfaltet. In "Die Sprache im Gedicht" behauptet Heidegger pointiert: "Jeder große Dichter dichtet nur aus einem einzigen Gedicht." Als Maßstab für die Größe eines Dichters gilt ihm, ob der sich dem Einzigen anvertrauen kann, dass er sein "dichtendes Sagen" rein darin hält. Ein großer Dichter leidet demnach unter Einflussangst, die sein Sagen verwässern würde. Der Clou von Heideggers Konzept ist: "Das Gedicht eines Dichters bleibt unausgesprochen." Weder die einzelne Dichtung noch alle Gedichte insgesamt sagen alles. Trotzdem bildet das eine unausgesprochene Gedicht den Quell für immer neue Wogen der Sprache, die ihrerseits, die Quelle verschleiernd, zurückfließen. Aus dem Hin- und Herfließen der Sprachwogen erklärt Heidegger ganz nebenbei noch das Rhythmische poetischer Sprache. Es geht hier nicht darum, Heideggers Ontologie der Dichtung neu zu beschwören. Sondern den künstlerischen Innovationsdruck mit alternativen Konzepten in Balance zu bringen.
Aus diesem Gleichgewicht lässt sich die poetische Qualität von Nico Bleutges viertem Gedichtband in den Blick nehmen. Bleutge gehört seit seinem Lyrikdebüt "Klare Konturen" von 2006 zu jener Gruppe von Autoren, deren poetisches Vermögen in höchsten Tönen gelobt wird. Als er nach "fallstreifen" (2008) vor vier Jahren seinen dritten Gedichtband, "verdecktes gelände", veröffentlichte, kamen allerdings erste Stimmen auf, ein Künstler seines Ranges müsste sich doch langsam mal neu erfinden. Mit dem Erscheinen des vierten Bandes, "nachts leuchten die schiffe", lässt sich sagen, dass Nico Bleutge beharrlich, klug, wortgewandt und elegant an seinem einzigen Gedicht weiterdichtet.
Alle charakteristischen Züge seiner Poesie sind erhalten geblieben. Wie ein vertrautes Gesicht in der Menge, so würde man auch ein Bleutge-Gedicht sofort wiedererkennen. Bei seinen Texten steckt die Poesie im Detail. Seine Verse bestechen durch ihre Beschreibungsgenauigkeit, die sich zu immer feineren Detailaufnahmen verästeln, ohne je die Komposition zu irritieren. Seine Gedichte folgen stets einem Primat des Sehens. Eine Fülle optischer Eindrücke überlagert die anderen Wahrnehmungsformen, ohne sie gänzlich auszuschalten. Gegenstände dieser kleinen Perzeptionen sind alle Phänomene, die sich in immer winzigere Wahrnehmungspartikel zerlegen lassen. Der traditionsreichste Ort für solche Sehstücke ist der Blick auf die hohe See. Schon sein Debüt eröffnete er mit den Versen: "über dem strich der mole. einzelne punkte, das wasser / glimmt gelb auf, wenn sie sonne durch die wolken / flüstert." Der erste Vers seines neuen Bandes lautet: "versenk dich in die bewegung des wasser".
Man kann sich die Grundfigur dieser Beobachtungsstudien so vorstellen, als wären sie aus der Perspektive von Caspar David Friedrichs Figuren geschrieben. Aber bei Bleutge, das ist das radikal Gegenwärtige seiner Konzeption, hat sich diese Perspektivfigur vollständig aufgelöst. Die Erlebnisstruktur trägt die Gedichte weiterhin, aber es findet keine Psychologisierung, keine Verrechnung des Gesehenen auf Gedanken oder Gefühle hin statt. Vielmehr wirkt es, als würden die Eindrücke auf einen mit Gedichten vollbesetzten Resonanzraum treffen, in dem jede Schwingung eine Antwort eines vorhandenen Gedichts, einer Zeile, eines Rhythmus auslöst. Die letzten Gedichte des neuen Bandes, die unter dem Titel "gradierwerk" firmieren, führen Bleutges glorreiche Trias aus Beobachtung, Sinnesverfeinerung und Resonanz noch einmal eindrücklich vor Augen. Wie sich die Sole beim Durchfluss durch die Zweige und Äste anreichert, so reichert sich auch die Sprache an: "schwarzdorn, geschichtete bündel, reisig, über das wasser rinnt, im rieseln, rieselnde tropfen, ein dauerndes plitschern fast knisterndes droppel, über die zweite hinweg." Knisterfein fließt Bleutges Sprachbewegung durch das Material, das in diesem Fall von Regina von Greiffenberg und Thomas Kling stammt. Zugleich aber dringt - so gasförmig kann flüssig werden - die Salzluft in den Beobachter ein, der in diesem Fall auch der Leser ist: "salzluft, von kristallen durchwehte atmung, winzige tropfen, calcium, mangan, wie von windhauch bewegte lunge / heisernes flüstern."
Von der Atmung gewendet in das Sprechen, so gewinnt Celans Atemwende bei Bleutge neue Gestalt. Alles ist an seinem Ort in diesem kristallklaren Gedichtband. Das Meisterstück und größte Wagnis dieser Arbeiten aber ist das einleitende Langgedicht: "falte legt sich über falte". Bleutge überlagert darin so konsequent wie noch nie zuvor die Beobachtung mit Erinnerungen. Zwei Zeitformen sowie ein momentanes Erlebnis und eine zeitlose Ursprungsphantasie ragen ineinander, und der Text versucht eindringlich, die sonst so sichere Distanz zwischen Beobachter und Beobachtetem aufzulösen. Damit eröffnen sich faszinierende Facetten des einen, unausgesprochen bleibenden Bleutge-Gedichts. Sie waren so bislang noch nicht zu beobachten und zeugen von einer bewundernswerten Gabe: der Innovation in der Kontinuität.
CHRISTIAN METZ
Nico Bleutge: "nachts leuchten die schiffe". Gedichte.
Verlag C. H. Beck, München 2017. 87 S., geb., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nico Bleutge bringt mit "nachts leuchten die schiffe" seine Lyrik auf einen neuen Gipfel
Der Imperativ der Innovation hat die Kunst fest im Griff. Er fordert, dass der einzelne Künstler sich mit jeder Arbeit neu erfindet. Der Tanz um das Goldene Kalb der Innovation macht vergessen, dass sich große künstlerische Qualität gerade auch durch Kontinuität und Wiedererkennbarkeit auszeichnet.
Für die Lyrik hat die am eindrücklichsten Martin Heidegger theoretisch entfaltet. In "Die Sprache im Gedicht" behauptet Heidegger pointiert: "Jeder große Dichter dichtet nur aus einem einzigen Gedicht." Als Maßstab für die Größe eines Dichters gilt ihm, ob der sich dem Einzigen anvertrauen kann, dass er sein "dichtendes Sagen" rein darin hält. Ein großer Dichter leidet demnach unter Einflussangst, die sein Sagen verwässern würde. Der Clou von Heideggers Konzept ist: "Das Gedicht eines Dichters bleibt unausgesprochen." Weder die einzelne Dichtung noch alle Gedichte insgesamt sagen alles. Trotzdem bildet das eine unausgesprochene Gedicht den Quell für immer neue Wogen der Sprache, die ihrerseits, die Quelle verschleiernd, zurückfließen. Aus dem Hin- und Herfließen der Sprachwogen erklärt Heidegger ganz nebenbei noch das Rhythmische poetischer Sprache. Es geht hier nicht darum, Heideggers Ontologie der Dichtung neu zu beschwören. Sondern den künstlerischen Innovationsdruck mit alternativen Konzepten in Balance zu bringen.
Aus diesem Gleichgewicht lässt sich die poetische Qualität von Nico Bleutges viertem Gedichtband in den Blick nehmen. Bleutge gehört seit seinem Lyrikdebüt "Klare Konturen" von 2006 zu jener Gruppe von Autoren, deren poetisches Vermögen in höchsten Tönen gelobt wird. Als er nach "fallstreifen" (2008) vor vier Jahren seinen dritten Gedichtband, "verdecktes gelände", veröffentlichte, kamen allerdings erste Stimmen auf, ein Künstler seines Ranges müsste sich doch langsam mal neu erfinden. Mit dem Erscheinen des vierten Bandes, "nachts leuchten die schiffe", lässt sich sagen, dass Nico Bleutge beharrlich, klug, wortgewandt und elegant an seinem einzigen Gedicht weiterdichtet.
Alle charakteristischen Züge seiner Poesie sind erhalten geblieben. Wie ein vertrautes Gesicht in der Menge, so würde man auch ein Bleutge-Gedicht sofort wiedererkennen. Bei seinen Texten steckt die Poesie im Detail. Seine Verse bestechen durch ihre Beschreibungsgenauigkeit, die sich zu immer feineren Detailaufnahmen verästeln, ohne je die Komposition zu irritieren. Seine Gedichte folgen stets einem Primat des Sehens. Eine Fülle optischer Eindrücke überlagert die anderen Wahrnehmungsformen, ohne sie gänzlich auszuschalten. Gegenstände dieser kleinen Perzeptionen sind alle Phänomene, die sich in immer winzigere Wahrnehmungspartikel zerlegen lassen. Der traditionsreichste Ort für solche Sehstücke ist der Blick auf die hohe See. Schon sein Debüt eröffnete er mit den Versen: "über dem strich der mole. einzelne punkte, das wasser / glimmt gelb auf, wenn sie sonne durch die wolken / flüstert." Der erste Vers seines neuen Bandes lautet: "versenk dich in die bewegung des wasser".
Man kann sich die Grundfigur dieser Beobachtungsstudien so vorstellen, als wären sie aus der Perspektive von Caspar David Friedrichs Figuren geschrieben. Aber bei Bleutge, das ist das radikal Gegenwärtige seiner Konzeption, hat sich diese Perspektivfigur vollständig aufgelöst. Die Erlebnisstruktur trägt die Gedichte weiterhin, aber es findet keine Psychologisierung, keine Verrechnung des Gesehenen auf Gedanken oder Gefühle hin statt. Vielmehr wirkt es, als würden die Eindrücke auf einen mit Gedichten vollbesetzten Resonanzraum treffen, in dem jede Schwingung eine Antwort eines vorhandenen Gedichts, einer Zeile, eines Rhythmus auslöst. Die letzten Gedichte des neuen Bandes, die unter dem Titel "gradierwerk" firmieren, führen Bleutges glorreiche Trias aus Beobachtung, Sinnesverfeinerung und Resonanz noch einmal eindrücklich vor Augen. Wie sich die Sole beim Durchfluss durch die Zweige und Äste anreichert, so reichert sich auch die Sprache an: "schwarzdorn, geschichtete bündel, reisig, über das wasser rinnt, im rieseln, rieselnde tropfen, ein dauerndes plitschern fast knisterndes droppel, über die zweite hinweg." Knisterfein fließt Bleutges Sprachbewegung durch das Material, das in diesem Fall von Regina von Greiffenberg und Thomas Kling stammt. Zugleich aber dringt - so gasförmig kann flüssig werden - die Salzluft in den Beobachter ein, der in diesem Fall auch der Leser ist: "salzluft, von kristallen durchwehte atmung, winzige tropfen, calcium, mangan, wie von windhauch bewegte lunge / heisernes flüstern."
Von der Atmung gewendet in das Sprechen, so gewinnt Celans Atemwende bei Bleutge neue Gestalt. Alles ist an seinem Ort in diesem kristallklaren Gedichtband. Das Meisterstück und größte Wagnis dieser Arbeiten aber ist das einleitende Langgedicht: "falte legt sich über falte". Bleutge überlagert darin so konsequent wie noch nie zuvor die Beobachtung mit Erinnerungen. Zwei Zeitformen sowie ein momentanes Erlebnis und eine zeitlose Ursprungsphantasie ragen ineinander, und der Text versucht eindringlich, die sonst so sichere Distanz zwischen Beobachter und Beobachtetem aufzulösen. Damit eröffnen sich faszinierende Facetten des einen, unausgesprochen bleibenden Bleutge-Gedichts. Sie waren so bislang noch nicht zu beobachten und zeugen von einer bewundernswerten Gabe: der Innovation in der Kontinuität.
CHRISTIAN METZ
Nico Bleutge: "nachts leuchten die schiffe". Gedichte.
Verlag C. H. Beck, München 2017. 87 S., geb., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.07.2017Zeit streuen,
Frachthallen sprengen
Nico Bleutges Gedichte folgen dem Takt der Welt
„Versenk dich“ und „öffne die tür“, diese zwei Imperative ziemlich am Anfang des ersten von Nico Bleutges sieben Gedichtzyklen geben vielleicht einen Hinweis darauf, wie hier in der Folge gesprochen wird. Es sind keine Befehls-, sondern eher Ermahnungs- oder Ermunterungsformen, an die eigene und alle Adressen. „Versenk dich in die Bewegung des Wassers“, und dann sieh zu, wie sich innere und äußere Anmutungen mischen und ein Text Fahrt aufnimmt, der vieles mitnimmt und von vielem affiziert wird.
Das Mitnehmen von Fremdmaterial hat bei Bleutge, hier wie den drei vorangegangenen und viel gelobten Gedichtbänden, Methode. Die Gedichte schlössen, so heißt es in einer Anmerkung am Ende, „ganz unterschiedliche Materialspeicher auf“. Es geht um „Hintergrundstimmen“, um „Überschreibungen“ und „Pastiches“, mal von Alfred Döblin, mal von Droste-Hülshoff, Heiner Müller oder Inger Christensen. Große Namen der literarischen Tradition haben auf eine vertrackte Weise Eingang in Nico Bleutges Texte gefunden und können aus ihnen wieder herausgelesen werden.
Man muss das nicht wissen, um an diesen Gedichten ein sinnliches und intellektuelles Vergnügen zu erleben. Man kann sich der Bewegung dieser Verse überlassen und ist gut beraten, nicht nach jeder Zeile nach dem Sinn zu fragen – zumal wenn eine Zeile gerne mit der nächsten verschwimmt: „versenk dich in die bewegung des wassers/mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung/ein anderes licht“. In die Bewegung des Wassers mischte sich also jenes Licht mit dem Licht? Und erzeugte jenes Licht ihre Verbindung, oder erzeugte ihre Verbindung ein anderes Licht? Stellen wir uns einfach vor, das Verschwimmende sei der Bewegung des Wassers geschuldet.
Am Gestade des Bosporus hat Bleutge ausdauernd auf die passierenden Schiffe geschaut und ihnen ein kleines Epos des globalen Schiffsverkehrs abgewonnen. „und die schiffe werden schneller, laufen deutlicher schwankend/auf der meeresoberfläche wie auf schienen, als wollten sie/die zeit streuen, mit erhöhter umschlagsfrequenz/in die gebäude dringen, die frachthallen sprengen/“.
Im Glücksfall folgen diese Gedichte dem Takt der physischen Welt, weder bloß sprachliche Tatsachen noch bloß Darstellung von etwas, das auch ohne sie existiert, sondern Früchte einer Versenkung, die für den Schreibmoment Welt und Sprache miteinander in Einklang bringt. Das kann natürlich auch scheitern, nämlich dann, wenn die Sprache nicht nah genug an den Tatsachen bleibt und ihr das materielle Gegenüber aus dem Blick gerät.
Damit ist nichts gegen objektive Dunkelheiten gesagt, wie etwa in den Versen „als ob die stimme/abwärts ginge, richtung/schletten, richtung schluff“. „Schletten“ bedeutet salziges Wasser, haben wir nachgeschlagen, „Schluff“ sind „unverfestigte klastische Sedimente“. Wir sehen hier immerhin die Sprache allmählich im Erdreich versinken, während wir bei einer anderen Zeile nichts mehr sehen: „nur ohr sein/für die masern im holz, an den stauungen wachsen/anbranden, im drehen, gelöst zu flachem staub/verwandelt in nichts als streuung.“
Schon anderswo hat Bleutge mit der Vokabel „streuen“ operiert, kein Zufall wohl, ihn beschäftigt alles, was mit Verteilung, Verbreitung, Dispersion, Verstreuung, Zerstreuung zu tun hat. Hier wollen wir aber gerne einmal buchstäblich verstehen. Also: „Verwandelt in nichts als Streuung“. Wer oder was kann in Streuung verwandelt sein, und zwar sogar in „nichts als“?
Vielleicht hängt die Idee der Verwandlung zu stark von der Gegebenheit einer bestimmten, wandelbaren Gestalt ab, als dass wir die Streuung als Zielgröße einer Verwandlung nachvollziehen könnten. Entweder stimmt also etwas mit der Verwandlung nicht, oder aber mit der Streuung, und in jedem Fall erscheint uns das feierliche „nichts als“ an dieser Stelle etwas überflüssig hingesetzt.
Es spricht allerdings für diese Gedichte, dass sie einen, anders als viele andere Exempel der Gegenwartslyrik, nur selten zu dieser Art Protest einladen. Nicht ins Sprach-Laboratorium geht hier die Fahrt, sondern in die weite Außenwelt der wirklichen Dinge, um dort mit ihr die innigsten und verwickeltsten Korrespondenzen aufzunehmen.
CHRISTOPH BARTMANN
Nico Bleutge: nachts leuchten die schiffe. Gedichte. Verlag C.H. Beck, München 2017. 87 Seiten, 16, 95 Euro.
E-Book 13,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frachthallen sprengen
Nico Bleutges Gedichte folgen dem Takt der Welt
„Versenk dich“ und „öffne die tür“, diese zwei Imperative ziemlich am Anfang des ersten von Nico Bleutges sieben Gedichtzyklen geben vielleicht einen Hinweis darauf, wie hier in der Folge gesprochen wird. Es sind keine Befehls-, sondern eher Ermahnungs- oder Ermunterungsformen, an die eigene und alle Adressen. „Versenk dich in die Bewegung des Wassers“, und dann sieh zu, wie sich innere und äußere Anmutungen mischen und ein Text Fahrt aufnimmt, der vieles mitnimmt und von vielem affiziert wird.
Das Mitnehmen von Fremdmaterial hat bei Bleutge, hier wie den drei vorangegangenen und viel gelobten Gedichtbänden, Methode. Die Gedichte schlössen, so heißt es in einer Anmerkung am Ende, „ganz unterschiedliche Materialspeicher auf“. Es geht um „Hintergrundstimmen“, um „Überschreibungen“ und „Pastiches“, mal von Alfred Döblin, mal von Droste-Hülshoff, Heiner Müller oder Inger Christensen. Große Namen der literarischen Tradition haben auf eine vertrackte Weise Eingang in Nico Bleutges Texte gefunden und können aus ihnen wieder herausgelesen werden.
Man muss das nicht wissen, um an diesen Gedichten ein sinnliches und intellektuelles Vergnügen zu erleben. Man kann sich der Bewegung dieser Verse überlassen und ist gut beraten, nicht nach jeder Zeile nach dem Sinn zu fragen – zumal wenn eine Zeile gerne mit der nächsten verschwimmt: „versenk dich in die bewegung des wassers/mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung/ein anderes licht“. In die Bewegung des Wassers mischte sich also jenes Licht mit dem Licht? Und erzeugte jenes Licht ihre Verbindung, oder erzeugte ihre Verbindung ein anderes Licht? Stellen wir uns einfach vor, das Verschwimmende sei der Bewegung des Wassers geschuldet.
Am Gestade des Bosporus hat Bleutge ausdauernd auf die passierenden Schiffe geschaut und ihnen ein kleines Epos des globalen Schiffsverkehrs abgewonnen. „und die schiffe werden schneller, laufen deutlicher schwankend/auf der meeresoberfläche wie auf schienen, als wollten sie/die zeit streuen, mit erhöhter umschlagsfrequenz/in die gebäude dringen, die frachthallen sprengen/“.
Im Glücksfall folgen diese Gedichte dem Takt der physischen Welt, weder bloß sprachliche Tatsachen noch bloß Darstellung von etwas, das auch ohne sie existiert, sondern Früchte einer Versenkung, die für den Schreibmoment Welt und Sprache miteinander in Einklang bringt. Das kann natürlich auch scheitern, nämlich dann, wenn die Sprache nicht nah genug an den Tatsachen bleibt und ihr das materielle Gegenüber aus dem Blick gerät.
Damit ist nichts gegen objektive Dunkelheiten gesagt, wie etwa in den Versen „als ob die stimme/abwärts ginge, richtung/schletten, richtung schluff“. „Schletten“ bedeutet salziges Wasser, haben wir nachgeschlagen, „Schluff“ sind „unverfestigte klastische Sedimente“. Wir sehen hier immerhin die Sprache allmählich im Erdreich versinken, während wir bei einer anderen Zeile nichts mehr sehen: „nur ohr sein/für die masern im holz, an den stauungen wachsen/anbranden, im drehen, gelöst zu flachem staub/verwandelt in nichts als streuung.“
Schon anderswo hat Bleutge mit der Vokabel „streuen“ operiert, kein Zufall wohl, ihn beschäftigt alles, was mit Verteilung, Verbreitung, Dispersion, Verstreuung, Zerstreuung zu tun hat. Hier wollen wir aber gerne einmal buchstäblich verstehen. Also: „Verwandelt in nichts als Streuung“. Wer oder was kann in Streuung verwandelt sein, und zwar sogar in „nichts als“?
Vielleicht hängt die Idee der Verwandlung zu stark von der Gegebenheit einer bestimmten, wandelbaren Gestalt ab, als dass wir die Streuung als Zielgröße einer Verwandlung nachvollziehen könnten. Entweder stimmt also etwas mit der Verwandlung nicht, oder aber mit der Streuung, und in jedem Fall erscheint uns das feierliche „nichts als“ an dieser Stelle etwas überflüssig hingesetzt.
Es spricht allerdings für diese Gedichte, dass sie einen, anders als viele andere Exempel der Gegenwartslyrik, nur selten zu dieser Art Protest einladen. Nicht ins Sprach-Laboratorium geht hier die Fahrt, sondern in die weite Außenwelt der wirklichen Dinge, um dort mit ihr die innigsten und verwickeltsten Korrespondenzen aufzunehmen.
CHRISTOPH BARTMANN
Nico Bleutge: nachts leuchten die schiffe. Gedichte. Verlag C.H. Beck, München 2017. 87 Seiten, 16, 95 Euro.
E-Book 13,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Ein Blick von größtmöglicher Detailschärfe auf Natur, Mensch und Dinge, dem nach und nach die anderen Sinne beispringen und assistieren."
Florian Welle, Münchner Feuilleton, Juli 2017
"Es ist unglaublich, welcher sprachliche und inhaltliche Kosmos diesem Lyriker verfügbar ist. 'nachts leuchten die schiffe' sind keine Gedichte - das ist eine Sinfonie."
Walter Eigenmann, Glarean Magazin, 8. Mai 2017
"Diese virtuose Poesie verändert Denken und Wirklichkeit."
Björn Hayer, Berliner Zeitung, 6. Mai 2017
"Man folgt fasziniert diesen polyfonen Stimmen-Montagen, auch ihren Quergängen ins Hermetische, die schließlich in die Innenwelt der Sprache führen."
Michael Braun, Neue Zürcher Zeitung, 21. April 2017
"Mit 'nachts leuchten die schiffe' lässt sich sagen, dass Nico Bleutge beharrlich, klug, wortgewandt und elegant an seinem einzigen Gedicht weiterdichtet (...) Seine Verse bestechen durch ihre Beschreibungsgenauigkeit, die sich zu immerfeineren Detailaufnahmen verästeln, ohne je die Komposition zu irritieren."
Christian Metz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. April 2017
"Ein unheimlich dichter, sprachlich virtuoser Lyrikband, der viele Rätsel aufgibt, viel Schönheit in sich birgt und dazu einlädt, Worte zu entdecken wie Grundlawinen, Vorsommernacht, Kalkschatten."
Guido Pauling, NDR Kultur, 20. März 2017
Florian Welle, Münchner Feuilleton, Juli 2017
"Es ist unglaublich, welcher sprachliche und inhaltliche Kosmos diesem Lyriker verfügbar ist. 'nachts leuchten die schiffe' sind keine Gedichte - das ist eine Sinfonie."
Walter Eigenmann, Glarean Magazin, 8. Mai 2017
"Diese virtuose Poesie verändert Denken und Wirklichkeit."
Björn Hayer, Berliner Zeitung, 6. Mai 2017
"Man folgt fasziniert diesen polyfonen Stimmen-Montagen, auch ihren Quergängen ins Hermetische, die schließlich in die Innenwelt der Sprache führen."
Michael Braun, Neue Zürcher Zeitung, 21. April 2017
"Mit 'nachts leuchten die schiffe' lässt sich sagen, dass Nico Bleutge beharrlich, klug, wortgewandt und elegant an seinem einzigen Gedicht weiterdichtet (...) Seine Verse bestechen durch ihre Beschreibungsgenauigkeit, die sich zu immerfeineren Detailaufnahmen verästeln, ohne je die Komposition zu irritieren."
Christian Metz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. April 2017
"Ein unheimlich dichter, sprachlich virtuoser Lyrikband, der viele Rätsel aufgibt, viel Schönheit in sich birgt und dazu einlädt, Worte zu entdecken wie Grundlawinen, Vorsommernacht, Kalkschatten."
Guido Pauling, NDR Kultur, 20. März 2017