Wirklich - was soll man von Leuten halten, die von heute auf morgen ihr Leben auf den Kopf stellen? Die, anstatt zu schlafen, ganze Nächte vertelefonieren? Die, gegen alle Gewohnheit, ihre geheimsten Gedanken preisgeben, aber dennoch sich niemals sehen wollen? Jemand hat sich verwählt. Statt aufzulegen beginnt er zu sprechen. Eine Verbindung entsteht, rein zufällig. Zwei Personen - ein älterer Arzt, eine junge Frau, Schneiderin, die beide ihre Arbeit lieben, doch im Verlauf ihrer Unterhaltungen anfangen, daran zu zweifeln. Die über das virtuelle Leben ihrer nächtlichen Gespräche lachen, doch gleichzeitig fürchten, verrückt zu sein. Oder dafür gehalten zu werden. Was verbindet die beiden überhaupt? Ist es Freundschaft? Geistesverwandtschaft? Liebe - aber in welcher ihrer tausend Spielarten? Wie kommt es, daß sie dauernd streiten und dennoch nicht mehr auseinanderfinden? Es kann nicht einfach der Gewohnheit zuzuschreiben sein oder dem Hunger nach Abwechslung, nicht einmal ihrer geradezu lächerlichen Einsamkeit. Ist es die Angst der Jüngeren vor dem Leben? Die Angst des Älteren vor dem Tod? Der Kampf zwischen Alt und Jung bis aufs Blut? Die Fragen türmen sich mit der Zeit, aber solange gefragt, solange weitergesprochen wird, ist es, als könnte alles, was doch unaufhaltsam geschieht, eingeholt und zurückgehalten werden - wirklich?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2011Die vierte Dimension der Liebe
Welt am Draht, Freud im Kopf: Gerlind Reinshagens neuer Roman "nachts" erzählt von zwei Endlostelefonierern sowie vom Alter, der Nähe und der Redelust.
Eine Fernbeziehung der höchst ungewöhnlichen Art schildert Gerlind Reinshagen in ihrem neuen Roman "nachts". Wobei schildern nicht ganz der stimmige Ausdruck ist, lässt sie doch die beiden Protagonisten, die einander nie gesehen haben, sondern durch einen klassischen Wahlfehler zufällig in Telefonkontakt gerieten, durchgehend in direkter Rede zu Wort kommen. Die falsche Nummer wird für sie allerdings zur richtigen Adresse, denn was die jüngere Frau und der ältere Mann zu später Stunde auszutauschen respektive gerade nicht auszutauschen und durch das Verschweigen mitzuteilen haben, verschafft ihnen beim anderen unvoreingenommenes wie wohlwollendes Interesse.
Im alltäglichen Heute würden sie sich wohl kaum so schnell und gut kennenlernen: die alleinerziehende Flickschneiderin Teresa, die geduldig die Klagen und Anekdoten ihrer Kunden erträgt, und der praktische Arzt Robert, der lieber auf dem Land als in der Stadt zu Hause wäre. Sie sind nach außen gänzlich unscheinbare Menschen, die aber ihre privaten Befindlichkeiten völlig unsentimental im gesellschaftlichen Zusammenhang zu reflektieren und ihre Situationen ohne rhetorischen oder ideologischen Firlefanz ins Allgemeine zu spiegeln vermögen. "nachts" verhandelt durch seine famos zelebrierte Dialogkonstellation sowohl Strategien des Erzählens wie Möglichkeiten der Kommunikation überhaupt.
Einerseits treffen die zwei wie in einem Beichtstuhl zusammen - die völlig Fremden können einander nicht einmal anschauen -, andererseits fühlen sie sich wie auf der Anklagebank, wenn sie die Fragen, Zweifel, Erwartungen des Gesprächspartners verkehrt interpretieren. Unangestrengt und überzeugend verknüpft Gerlind Reinshagen die Textblöcke zu einer plastischen Szenenfolge, die neben aktueller Zeitkritik - von der täglichen "Vorabendleiche" auf dem Bildschirm über Umweltverschmutzung durch "hirnlose Passanten" bis zu sozialen Ungerechtigkeiten und Zumutungen - vor allem die berührende Aufbereitung des Themas Alter grundiert. Von Teresa aufgefordert, ohne Scheu all das "aus seinem Leben" zu berichten, was er für wesentlich erachtet, dringt Robert bald zu der traumatischen Erfahrung vor, die ihn fast aus der Bahn geworfen hat, als er nämlich erst Herzbeschwerden und dann einen Herzschrittmacher bekam. Plötzlich getrieben von nackter Todesangst, musste er sich in seiner dadurch extrem veränderten Welt - über das "tägliche Pokern um Zeit" hinaus - neu definieren.
Was Gerlind Reinshagen, Jahrgang 1926, hier sensibel wie elegant beschreibt, ist die kühle Innensicht des Alterungsprozesses. Doch der helle lyrische Kopf und die präzisen Wahrnehmungen der Autorin zeigen die Auflösungstendenzen in Roberts Biographie stets in enger Verbindung zu den äußeren Begleitumständen und lassen ihn weder in Wehleidigkeit noch in Resignation verschwinden. Ohne dass er es betont, vermittelt sich auf bescheidene, aber hartnäckige Art, in der Robert die frisch verschobenen Zonenränder seines Daseins erkundet, das Skandalon des Todes. "Glücklich entwischt!" zu sein ist seine Hoffnung, solcherart dem Altwerden, dem Siechtum und dem Sterben zu entfliehen, bis er all das schließlich trotzdem als unvermeidbar akzeptiert. Der Zuwachs von Verzicht und Reduktion ist für ihn nicht einfach: "Man hörte mich nicht. Man sah mich nicht. Ich war unsichtbar. Wäre ich leblos umgefallen, ich hätte keine Lücke hinterlassen." Derlei muss er sogar in seiner Stammkneipe bemerken und ergänzt: "Die Stadt mit allen Straßen, Trottoirs, Bäumen gehört den Jungen."
Den Älteren bleibt bloß das freiwillige Sich-beiseite-Drücken oder das unfreiwillige Beiseite-gedrängt-Werden. In den jahrelangen nächtlichen Unterhaltungen überwinden die beiden Telefonierer nicht nur temporär ihre Großstadteinsamkeit, sondern schenken dem anderen auch die Möglichkeit, sich jenseits der Generationenschranke immer wieder seiner selbst zu vergewissern. So ist es nachvollziehbar, dass am Schluss, wenn der Mann die Endlichkeit seiner Existenz und seiner Geschichte mehr oder weniger auf die leichte Schulter genommen hat und "den Schrecken in Gelächter zu verwandeln" beginnt, das Spiel sozusagen als "vierte Dimension" der Liebe wieder eröffnet wird - indem er die Frau auffordert, nun ihrerseits ihr Leben zu erzählen. Eingedenk von Freuds Diktum "Wenn jemand spricht, wird es hell", ist Gerlind Reinshagen mit "nachts" ein wundersam erstaunlicher, so sublimer wie freimütiger Roman über die Vergänglichkeit des Menschen und die Wahrheit des Verschwindens gelungen.
IRENE BAZINGER.
Gerlind Reinshagen: "nachts". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 131 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Welt am Draht, Freud im Kopf: Gerlind Reinshagens neuer Roman "nachts" erzählt von zwei Endlostelefonierern sowie vom Alter, der Nähe und der Redelust.
Eine Fernbeziehung der höchst ungewöhnlichen Art schildert Gerlind Reinshagen in ihrem neuen Roman "nachts". Wobei schildern nicht ganz der stimmige Ausdruck ist, lässt sie doch die beiden Protagonisten, die einander nie gesehen haben, sondern durch einen klassischen Wahlfehler zufällig in Telefonkontakt gerieten, durchgehend in direkter Rede zu Wort kommen. Die falsche Nummer wird für sie allerdings zur richtigen Adresse, denn was die jüngere Frau und der ältere Mann zu später Stunde auszutauschen respektive gerade nicht auszutauschen und durch das Verschweigen mitzuteilen haben, verschafft ihnen beim anderen unvoreingenommenes wie wohlwollendes Interesse.
Im alltäglichen Heute würden sie sich wohl kaum so schnell und gut kennenlernen: die alleinerziehende Flickschneiderin Teresa, die geduldig die Klagen und Anekdoten ihrer Kunden erträgt, und der praktische Arzt Robert, der lieber auf dem Land als in der Stadt zu Hause wäre. Sie sind nach außen gänzlich unscheinbare Menschen, die aber ihre privaten Befindlichkeiten völlig unsentimental im gesellschaftlichen Zusammenhang zu reflektieren und ihre Situationen ohne rhetorischen oder ideologischen Firlefanz ins Allgemeine zu spiegeln vermögen. "nachts" verhandelt durch seine famos zelebrierte Dialogkonstellation sowohl Strategien des Erzählens wie Möglichkeiten der Kommunikation überhaupt.
Einerseits treffen die zwei wie in einem Beichtstuhl zusammen - die völlig Fremden können einander nicht einmal anschauen -, andererseits fühlen sie sich wie auf der Anklagebank, wenn sie die Fragen, Zweifel, Erwartungen des Gesprächspartners verkehrt interpretieren. Unangestrengt und überzeugend verknüpft Gerlind Reinshagen die Textblöcke zu einer plastischen Szenenfolge, die neben aktueller Zeitkritik - von der täglichen "Vorabendleiche" auf dem Bildschirm über Umweltverschmutzung durch "hirnlose Passanten" bis zu sozialen Ungerechtigkeiten und Zumutungen - vor allem die berührende Aufbereitung des Themas Alter grundiert. Von Teresa aufgefordert, ohne Scheu all das "aus seinem Leben" zu berichten, was er für wesentlich erachtet, dringt Robert bald zu der traumatischen Erfahrung vor, die ihn fast aus der Bahn geworfen hat, als er nämlich erst Herzbeschwerden und dann einen Herzschrittmacher bekam. Plötzlich getrieben von nackter Todesangst, musste er sich in seiner dadurch extrem veränderten Welt - über das "tägliche Pokern um Zeit" hinaus - neu definieren.
Was Gerlind Reinshagen, Jahrgang 1926, hier sensibel wie elegant beschreibt, ist die kühle Innensicht des Alterungsprozesses. Doch der helle lyrische Kopf und die präzisen Wahrnehmungen der Autorin zeigen die Auflösungstendenzen in Roberts Biographie stets in enger Verbindung zu den äußeren Begleitumständen und lassen ihn weder in Wehleidigkeit noch in Resignation verschwinden. Ohne dass er es betont, vermittelt sich auf bescheidene, aber hartnäckige Art, in der Robert die frisch verschobenen Zonenränder seines Daseins erkundet, das Skandalon des Todes. "Glücklich entwischt!" zu sein ist seine Hoffnung, solcherart dem Altwerden, dem Siechtum und dem Sterben zu entfliehen, bis er all das schließlich trotzdem als unvermeidbar akzeptiert. Der Zuwachs von Verzicht und Reduktion ist für ihn nicht einfach: "Man hörte mich nicht. Man sah mich nicht. Ich war unsichtbar. Wäre ich leblos umgefallen, ich hätte keine Lücke hinterlassen." Derlei muss er sogar in seiner Stammkneipe bemerken und ergänzt: "Die Stadt mit allen Straßen, Trottoirs, Bäumen gehört den Jungen."
Den Älteren bleibt bloß das freiwillige Sich-beiseite-Drücken oder das unfreiwillige Beiseite-gedrängt-Werden. In den jahrelangen nächtlichen Unterhaltungen überwinden die beiden Telefonierer nicht nur temporär ihre Großstadteinsamkeit, sondern schenken dem anderen auch die Möglichkeit, sich jenseits der Generationenschranke immer wieder seiner selbst zu vergewissern. So ist es nachvollziehbar, dass am Schluss, wenn der Mann die Endlichkeit seiner Existenz und seiner Geschichte mehr oder weniger auf die leichte Schulter genommen hat und "den Schrecken in Gelächter zu verwandeln" beginnt, das Spiel sozusagen als "vierte Dimension" der Liebe wieder eröffnet wird - indem er die Frau auffordert, nun ihrerseits ihr Leben zu erzählen. Eingedenk von Freuds Diktum "Wenn jemand spricht, wird es hell", ist Gerlind Reinshagen mit "nachts" ein wundersam erstaunlicher, so sublimer wie freimütiger Roman über die Vergänglichkeit des Menschen und die Wahrheit des Verschwindens gelungen.
IRENE BAZINGER.
Gerlind Reinshagen: "nachts". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 131 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Irene Bazinger ist sehr eingenommen von Gerlind Reinshagens Roman "Nachts", der durchgehend in nächtliche Dialoge gefasst ist und in dem die Vergänglichkeit im Zentrum steht, wie sie erklärt. Die Gesprächspartner, eine junge Änderungsschneiderin und ein alternder Arzt, sind nur durch ein telefonisches Verwählen in Kontakt gekommen, woraus sich jahrelange Nachtgespräche ergeben, erfahren wir. Die Rezensentin findet nicht nur diese Konstruktion sehr originell und gelungen, sie lobt auch die Feinfühligkeit und Offenheit, die sich in diesen Dialogen zwischen Beichte und Selbstvergewisserung zeigen. Der 1926 geborenen Autorin gelingt mit ihrem älteren Protagonisten eine berührende "Innenansicht des Alterungsprozess", lässt ihn damit leben lernen. Einfach "wundersam erstaunlich", preist die beeindruckte Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Unangestrengt und überzeugend verknüpft Gerlind Reinshagen die Textblöcke zu einer plastischen Szenenfolge.« Irene Bazinger Frankfurter Allgemeine Zeitung 20111215