Die Bilder Nadars entfalten eine Kulturgeschichte von Paris im 19. Jahrhundert: Wissenschaft und Weltausstellungen, Luftfahrt und Landwirtschaft, Haussmannisierung und Hermaphroditen, Tourismus und Theater. All das - und noch viel mehr - ist Gegenstand der Bilder. Nadar ist unser Cicerone für eine Reise durch das Paris der Moderne.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2019Ein Fotograf geht in die Luft
Markenbewusst: Bernd Stiegler beschreibt kenntnisreich und elegant den Aufstieg des Ateliers Nadar als Bildfinder der Pariser Moderne.
Sogar im Dunklen leuchtete er, der schillernd rote Schriftzug vor dem imposanten Fotoatelier auf dem Boulevard des Capucines in Paris: Nadar. Ein Schriftzug, der damals, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, ein Versprechen war. Wer sich in diesem opulent eingerichteten Atelier fotografieren ließ, auf wessen Porträtbild das geschwungene N-Signet prangte, der durfte sich als Teil einer erlauchten Gesellschaft fühlen. Denn von Nadar ließ sich die Prominenz aus Kunst und Kultur ablichten: George Sand, Claude Monet, Eugène Delacroix, Victor Hugo, Charles Baudelaire, Jules Verne. Man konnte im Schaufenster des Ateliers ihre Porträts betrachten, die Aufnahmen käuflich erwerben, sie zu Hause in vorgefertigte Alben stecken und das eigene Konterfei gleich dazu. Inhaber des Ateliers und nicht nur Fotograf, sondern auch Freund vieler Künstler, war der 1820 geborene Félix Tournachon. Er hatte, wie in Bohemekreisen üblich, einen Teil seines Namens durch ein "dar" ersetzt: aus Tournachon wurde Tournadar, aus Tournadar wurde Nadar und aus diesen fünf Buchstaben "eines der ersten Markenzeichen der photographischen Bildindustrie".
Bernd Stiegler, Literaturwissenschaftler und Experte in Sachen Fotografie, hat ein Buch vorgelegt, das auf den ersten Blick daherkommt wie eine Biographie des Jahrhundertfotografen Nadar - der auch Karikaturist, Feuilletonist und Ballonfahrtpionier war -, auf den zweiten Blick aber genau das nicht ist und auch nicht sein will. Zum einen deshalb, weil nicht allein Félix, sondern auch sein fünf Jahre jüngerer Bruder Adrien und sein 1856 geborener Sohn Paul am Ruhm des Namens Nadar mitwirkten, zum anderen, weil Stiegler einen spezifischen, kulturgeschichtlichen Ansatz verfolgt: Fotografien von Félix, Adrien und Paul Nadar dokumentieren die Pariser Moderne seit Mitte der 1850er Jahre, "begleiteten ihre Verwerfungen und Transformationen, Visionen und Neuorientierungen und brachten sie in Bilder". Diese Moderne mit Hilfe der drei Nadars zu erkunden ist Stieglers Anliegen.
So präsentiert er verschiedene Bildserien mit oft abseitigen Motiven und erläutert in weit ausgreifenden Exkursen deren gesellschaftliche, wissenschaftliche oder künstlerische Entstehungs- und Rezeptionszusammenhänge. Da erfährt man etwa, was es mit den merkwürdigen Aufnahmen eines Mannes auf sich hat, dem Elektroden ins Gesicht gehalten werden und der mal mit erschrecktem, schmerzverzerrten oder irren Blick in die Kamera starrt. Die Physiognomik, die Idee, aus den Gesichtszügen des Menschen Rückschlüsse auf seine Seele, seinen Charakter ziehen zu können, war damals in Mode. Adrien dokumentierte 1855 eine Versuchsreihe des Neurologen Duchenne de Boulogne, bei der die Gesichtsmuskeln eines gelähmten und daher schmerzunempfindlichen und selbständig kaum zur Mimik fähigen Mannes so stimuliert wurden, dass in seinem Antlitz verschiedene Ausdrücke sichtbar wurden: Entsetzen, Angst, Verzweiflung, Freude. Allein "die wie ein Spiegel treue Photographie", so Duchenne, sei in der Lage, das nur für einen kurzen Moment hervorgerufene Gesichtsspiel festzuhalten.
Adriens Bilder wurden Teil eines umfangreichen Atlas der Gesichtsausdrücke, den sich später Charles Darwin gleich in doppelter Ausführung ins Bücherregal stellte. Duchenne de Boulogne reihte sich mit dieser Arbeit allerdings nicht in die physiognomische Tradition ein, er ließ sie vielmehr "ins Leere laufen", so Stieglers pointiertes Resümee. Denn die Experimente zeigten, dass man mit Hilfe der Elektrizität Veränderungen des Gesichts hervorrufen konnte, denen keine Regung im Innenleben der betreffenden Person zugrunde liegen musste und die zudem bei jedem gleich waren. Der Atlas dokumentierte somit keine physiognomischen Typen oder Charaktere, sondern wollte eine universale Sprache des Gesichts dokumentieren.
Adrien hatte diese Mimik-Bilder und andere mit "Nadar jeune" signiert, was dem älteren Bruder Félix nicht passte, war er doch dabei, mit diesem Namen seine eigene Marke zu etablieren. Er strengte einen Prozess gegen den Bruder an, den er gewann - eine Karikatur von Honoré Daumier zeigt, mit welchen Mitteln und vor allem mit welchem Ergebnis: Félix fliegt in einem Ballon hoch über Paris und schießt in abenteuerlicher Pose Fotos der Stadt. Aus dem Häusermeer ragen die Werbeschilder der vielen Pariser Fotoateliers, beschriftet alle mit "Photographie". Auf Félix' Ballon dagegen steht: "Photographie Nadar". Der Titel der Grafik: "Nadar erhebt die Fotografie auf die Höhe der Kunst." Im Laufe des Prozesses hatte Félix dargelegt, dass die Fotografie eine Kunst und nicht Wissenschaft oder gar industrielles Massenprodukt sei - wie man es ihr, als immer mehr Ateliers eröffneten und Porträtfotos immer billiger wurden, vorwarf. Mit dem cleveren Schachzug, sich in der Diskussion um Fotografie, Kunst und Massenware zu positionieren, gelang es Félix nicht nur, den Bruder aus dem Rennen zu werfen - ein "Photograph ist ein Künstler" und brauche folglich eine ihm allein gehörige Signatur, urteilte der Richter -, sondern zugleich einen finanziellen Mehrwert für sein Atelier zu schaffen. Dort entstand echte Kunst, die freilich ihren Preis hatte.
Noch mehr als Adrien war Félix fasziniert von der Wissenschaft und den Neuerungen seiner Zeit. Seine Leidenschaft für die Luftfahrt trieb ihn beinahe in den Ruin, er fertigte medizinisch-klinische Bilder eines Hermaphroditen und hielt 1865 in einer Serie die städtebaulichen Modernisierungen der Haussmann-Jahre fest, die nicht nur überirdisch, sondern auch unterirdisch vonstattengingen. Félix stieg, anders als viele Kollegen seiner Zeit, die den sichtbaren Wandel in den Straßen dokumentierten, in die unsichtbare Welt des Untergrunds hinab. Dort wurde die Abwasserversorgung der Stadt umstrukturiert und erneuert. Im Gegensatz zur Literatur, die die Pariser Unterwelt bis dahin meist als geheimnisvollen und finsteren Ort gezeichnet hatte, leuchtete Félix Nadar, wie Stiegler schildert, "diese romantische Tradition mit elektrischem Licht aus". Er hatte sich die Fotografie mit elektrischem Licht patentieren lassen und zeigte nun in klaren Bildern eine neue, technische Welt: Gänge mit Gleisen, Rohre, Maschinen und modernste Konstruktionen.
Auch der jüngste Nadar, Félix' Sohn Paul, war mit seiner Arbeit auf der Höhe der Zeit. Gemeinsam mit seinem Vater entstand 1886 ein Projekt, bei dem der renommierte Chemiker Eugène Chevreul, der unter anderem ein wichtiges Werk zur Farbentheorie geschrieben hatte, anlässlich seines hundertsten Geburtstags interviewt und abgelichtet wurde. Félix stellte die Fragen, und Paul schuf nicht etwa ein paar Porträts des Befragten, sondern dokumentierte das Gespräch in über siebzig Aufnahmen. Der Name Nadar steht somit auch für die erste Fotoreportage der Pressegeschichte.
Die Filme, die Paul für die Interviewbilder benutzte, waren von der amerikanischen Firma Eastman und erlaubten sehr kurze Verschlusszeiten und viele Aufnahmen kurz hintereinander. Aus Eastman wurde einige Jahre später Kodak, und Paul übernahm die Generalvertretung in Frankreich. "The Kodak", eine kleine kompakte Kamera, die Paul verkaufte, ermöglichte "100 aufeinanderfolgende Aufnahmen ohne nachzuladen", wie es in einem Werbeprospekt hieß. Und: "Anybody can use the Kodak." Die Ära der Knipser, der Amateurfotografen, begann. Die Zeit der großen Fotoateliers und die des legendären "Kollektivsingular" Nadar dagegen, eine Zeit, in die Stieglers Buch einen so erkenntnisreichen Einblick liefert, war passé.
KATHARINA RUDOLPH
Bernd Stiegler: "Nadar".
Bilder der Moderne.
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2019. 312 S., Abb., br., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Markenbewusst: Bernd Stiegler beschreibt kenntnisreich und elegant den Aufstieg des Ateliers Nadar als Bildfinder der Pariser Moderne.
Sogar im Dunklen leuchtete er, der schillernd rote Schriftzug vor dem imposanten Fotoatelier auf dem Boulevard des Capucines in Paris: Nadar. Ein Schriftzug, der damals, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, ein Versprechen war. Wer sich in diesem opulent eingerichteten Atelier fotografieren ließ, auf wessen Porträtbild das geschwungene N-Signet prangte, der durfte sich als Teil einer erlauchten Gesellschaft fühlen. Denn von Nadar ließ sich die Prominenz aus Kunst und Kultur ablichten: George Sand, Claude Monet, Eugène Delacroix, Victor Hugo, Charles Baudelaire, Jules Verne. Man konnte im Schaufenster des Ateliers ihre Porträts betrachten, die Aufnahmen käuflich erwerben, sie zu Hause in vorgefertigte Alben stecken und das eigene Konterfei gleich dazu. Inhaber des Ateliers und nicht nur Fotograf, sondern auch Freund vieler Künstler, war der 1820 geborene Félix Tournachon. Er hatte, wie in Bohemekreisen üblich, einen Teil seines Namens durch ein "dar" ersetzt: aus Tournachon wurde Tournadar, aus Tournadar wurde Nadar und aus diesen fünf Buchstaben "eines der ersten Markenzeichen der photographischen Bildindustrie".
Bernd Stiegler, Literaturwissenschaftler und Experte in Sachen Fotografie, hat ein Buch vorgelegt, das auf den ersten Blick daherkommt wie eine Biographie des Jahrhundertfotografen Nadar - der auch Karikaturist, Feuilletonist und Ballonfahrtpionier war -, auf den zweiten Blick aber genau das nicht ist und auch nicht sein will. Zum einen deshalb, weil nicht allein Félix, sondern auch sein fünf Jahre jüngerer Bruder Adrien und sein 1856 geborener Sohn Paul am Ruhm des Namens Nadar mitwirkten, zum anderen, weil Stiegler einen spezifischen, kulturgeschichtlichen Ansatz verfolgt: Fotografien von Félix, Adrien und Paul Nadar dokumentieren die Pariser Moderne seit Mitte der 1850er Jahre, "begleiteten ihre Verwerfungen und Transformationen, Visionen und Neuorientierungen und brachten sie in Bilder". Diese Moderne mit Hilfe der drei Nadars zu erkunden ist Stieglers Anliegen.
So präsentiert er verschiedene Bildserien mit oft abseitigen Motiven und erläutert in weit ausgreifenden Exkursen deren gesellschaftliche, wissenschaftliche oder künstlerische Entstehungs- und Rezeptionszusammenhänge. Da erfährt man etwa, was es mit den merkwürdigen Aufnahmen eines Mannes auf sich hat, dem Elektroden ins Gesicht gehalten werden und der mal mit erschrecktem, schmerzverzerrten oder irren Blick in die Kamera starrt. Die Physiognomik, die Idee, aus den Gesichtszügen des Menschen Rückschlüsse auf seine Seele, seinen Charakter ziehen zu können, war damals in Mode. Adrien dokumentierte 1855 eine Versuchsreihe des Neurologen Duchenne de Boulogne, bei der die Gesichtsmuskeln eines gelähmten und daher schmerzunempfindlichen und selbständig kaum zur Mimik fähigen Mannes so stimuliert wurden, dass in seinem Antlitz verschiedene Ausdrücke sichtbar wurden: Entsetzen, Angst, Verzweiflung, Freude. Allein "die wie ein Spiegel treue Photographie", so Duchenne, sei in der Lage, das nur für einen kurzen Moment hervorgerufene Gesichtsspiel festzuhalten.
Adriens Bilder wurden Teil eines umfangreichen Atlas der Gesichtsausdrücke, den sich später Charles Darwin gleich in doppelter Ausführung ins Bücherregal stellte. Duchenne de Boulogne reihte sich mit dieser Arbeit allerdings nicht in die physiognomische Tradition ein, er ließ sie vielmehr "ins Leere laufen", so Stieglers pointiertes Resümee. Denn die Experimente zeigten, dass man mit Hilfe der Elektrizität Veränderungen des Gesichts hervorrufen konnte, denen keine Regung im Innenleben der betreffenden Person zugrunde liegen musste und die zudem bei jedem gleich waren. Der Atlas dokumentierte somit keine physiognomischen Typen oder Charaktere, sondern wollte eine universale Sprache des Gesichts dokumentieren.
Adrien hatte diese Mimik-Bilder und andere mit "Nadar jeune" signiert, was dem älteren Bruder Félix nicht passte, war er doch dabei, mit diesem Namen seine eigene Marke zu etablieren. Er strengte einen Prozess gegen den Bruder an, den er gewann - eine Karikatur von Honoré Daumier zeigt, mit welchen Mitteln und vor allem mit welchem Ergebnis: Félix fliegt in einem Ballon hoch über Paris und schießt in abenteuerlicher Pose Fotos der Stadt. Aus dem Häusermeer ragen die Werbeschilder der vielen Pariser Fotoateliers, beschriftet alle mit "Photographie". Auf Félix' Ballon dagegen steht: "Photographie Nadar". Der Titel der Grafik: "Nadar erhebt die Fotografie auf die Höhe der Kunst." Im Laufe des Prozesses hatte Félix dargelegt, dass die Fotografie eine Kunst und nicht Wissenschaft oder gar industrielles Massenprodukt sei - wie man es ihr, als immer mehr Ateliers eröffneten und Porträtfotos immer billiger wurden, vorwarf. Mit dem cleveren Schachzug, sich in der Diskussion um Fotografie, Kunst und Massenware zu positionieren, gelang es Félix nicht nur, den Bruder aus dem Rennen zu werfen - ein "Photograph ist ein Künstler" und brauche folglich eine ihm allein gehörige Signatur, urteilte der Richter -, sondern zugleich einen finanziellen Mehrwert für sein Atelier zu schaffen. Dort entstand echte Kunst, die freilich ihren Preis hatte.
Noch mehr als Adrien war Félix fasziniert von der Wissenschaft und den Neuerungen seiner Zeit. Seine Leidenschaft für die Luftfahrt trieb ihn beinahe in den Ruin, er fertigte medizinisch-klinische Bilder eines Hermaphroditen und hielt 1865 in einer Serie die städtebaulichen Modernisierungen der Haussmann-Jahre fest, die nicht nur überirdisch, sondern auch unterirdisch vonstattengingen. Félix stieg, anders als viele Kollegen seiner Zeit, die den sichtbaren Wandel in den Straßen dokumentierten, in die unsichtbare Welt des Untergrunds hinab. Dort wurde die Abwasserversorgung der Stadt umstrukturiert und erneuert. Im Gegensatz zur Literatur, die die Pariser Unterwelt bis dahin meist als geheimnisvollen und finsteren Ort gezeichnet hatte, leuchtete Félix Nadar, wie Stiegler schildert, "diese romantische Tradition mit elektrischem Licht aus". Er hatte sich die Fotografie mit elektrischem Licht patentieren lassen und zeigte nun in klaren Bildern eine neue, technische Welt: Gänge mit Gleisen, Rohre, Maschinen und modernste Konstruktionen.
Auch der jüngste Nadar, Félix' Sohn Paul, war mit seiner Arbeit auf der Höhe der Zeit. Gemeinsam mit seinem Vater entstand 1886 ein Projekt, bei dem der renommierte Chemiker Eugène Chevreul, der unter anderem ein wichtiges Werk zur Farbentheorie geschrieben hatte, anlässlich seines hundertsten Geburtstags interviewt und abgelichtet wurde. Félix stellte die Fragen, und Paul schuf nicht etwa ein paar Porträts des Befragten, sondern dokumentierte das Gespräch in über siebzig Aufnahmen. Der Name Nadar steht somit auch für die erste Fotoreportage der Pressegeschichte.
Die Filme, die Paul für die Interviewbilder benutzte, waren von der amerikanischen Firma Eastman und erlaubten sehr kurze Verschlusszeiten und viele Aufnahmen kurz hintereinander. Aus Eastman wurde einige Jahre später Kodak, und Paul übernahm die Generalvertretung in Frankreich. "The Kodak", eine kleine kompakte Kamera, die Paul verkaufte, ermöglichte "100 aufeinanderfolgende Aufnahmen ohne nachzuladen", wie es in einem Werbeprospekt hieß. Und: "Anybody can use the Kodak." Die Ära der Knipser, der Amateurfotografen, begann. Die Zeit der großen Fotoateliers und die des legendären "Kollektivsingular" Nadar dagegen, eine Zeit, in die Stieglers Buch einen so erkenntnisreichen Einblick liefert, war passé.
KATHARINA RUDOLPH
Bernd Stiegler: "Nadar".
Bilder der Moderne.
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2019. 312 S., Abb., br., 19,80 [Euro].
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