Produktdetails
- Verlag: Berliner Taschenbuch Verlag
- ISBN-13: 9783442761432
- ISBN-10: 3442761433
- Artikelnr.: 24941264
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2000Leichte Hirnverschiebungen
Marcus Braun verrätselt die Kopfwelt
Die zweiunddreißig Kapitel seines Romans "Delhi", der im vorigen Jahr einiges Aufsehen erregte, hat Marcus Braun, so wird kolportiert, an den Zügen einer Kasparow-Partie entlanggetüftelt. Dass er mit diesem exotischen Beinahekrimi debütierte und nicht mit seinem früher verfertigten Opus "Nadiana", dürfte ein Schachzug des Verlags gewesen sein, der dem jungen Talent einen halbwegs leserfreundlichen Einstand sichern wollte. Drei Jahre brauchte Braun für die Bastelarbeit an "Delhi"; bei "Nadiana" waren es sieben. Was lange währt, wird nicht zwangsläufig besser, aber wer es schätzt, sich vom Schriftsteller ordentlich quälen, narren und nasführen zu lassen, dem muss das jetzt nachgereichte Werk mindestens zweieinhalb Mal so viel Lust bereiten wie das indische Mörderspiel, dessen greller Effekt sich schneller und spurloser verflüchtigte als ein Ginrausch.
In einer europäischen Eifersuchts-Etüde wie "Nadiana" fließt kein Gin, dafür Bier, Mineralwasser mit Aspirin, Milch oder Kaffee. Der wiederum schmeckt "bitter, wie jeder selbst gekochte in den entscheidenden Momenten des Lebens", und wird etwa in der Mitte des Romans von einem Herrn Stroheim getrunken, der vielleicht, vielleicht auch nicht, mit Nadja, der Geliebten des oft, aber nicht immer als Erzähler auftretenden Herrn Rosenbaum, eine heimliche Liaison unterhält. "Vermutlich treffen wir Stroheim auf der Rückfahrt", lautet der geheimnisschwangere erste Satz, mit dem Braun sein literarisches Konzept der allgemeinen Verunsicherung preisgibt. Ob Stroheim ein Traum, eine Erfindung Rosenbaums ist oder ob umgekehrt ein Schuh daraus wird, bleibt bis zum Schluss unklar. Nadja, die Vielbegehrte, ist vom Surrealisten Breton entlehnt und schon deshalb eine dubiose Erscheinung, auch wenn sie mit Nabokovs "Ada" drei Buchstaben teilt und nachgerade rilkemäßig "unsere Existenz unendlich sanft in ihren starken schlanken Händen" hält. Streckenweise wird die Erzählstimme einem gewissen - eher wohl ungewissen - Frederic überantwortet, der unter Berufung auf Descartes das Vorhandensein des übrigen Romanpersonals in Zweifel zieht, obwohl er bei Rosenbaum ein Dutzend Biere geschnorrt und Nadja einen unsittlichen Antrag gemacht hat.
Immerhin darf zunächst angenommen werden, dass eine Zugreise von Paris nach Berlin stattfindet, "fünf Personen im Abteil, Nadja und ich, gegenüber ein älteres Pärchen und Stroheim". Letzterer ist, falls er denn existiert, still in Kritzeleien vertieft, bis sein flüchtiges Füßeln mit Nadja bei ihrem Begleiter eine Eifersuchtsparanoia auslöst, die den sehr belesenen jungen Mann auf kurvenreiche Gedankenfahrt durch Erinnerungen, Projektionen und Zwangsvorstellungen schickt. Das überzeugt für die Dauer des ersten Kapitels, in dem eine Mischung aus Eisenbahn-Atmosphäre, Pariser Impressionen und erotischen Fantasien jene "leichte Verschiebung von Hirn und Welt" suggeriert, wie manch einer sie vom Dösen auf langen Zugfahrten kennt. Die Warnung vor dem, was danach folgt, wird indes gleich mitgeliefert: "Hatte ich Probleme? Das findet im Kopf statt. Nur im Kopf. Mit ihm steht und fällt alles."
In der Tat lässt sich Brauns Prosa mit einer Kasperlepuppe vergleichen, deren schwergewichtiges Haupt aus Holz, Ton oder Pappmaché an einem dünnen, schlaffen Stoffleib befestigt ist. Was der Autor im Kopf hat, nötigt uns Respekt ab: seine literarische Gelehrsamkeit und sein Zitatenrepertoire, sein mathematisch kalkulierender Formwille und der heilige Ernst, mit dem er als Musterschüler der Moderne die Zerstörung aller Gewissheiten im Hinblick auf Zeiten, Orte, Bewegungsrichtungen, Figuren und Ereignisse betreibt. Was diesem Verrätselungs-Exzess fehlt, ist freilich der Lebensstoff, der einen Zusammenhang zwischen der eifersüchtigen Erregung und der gefallsüchtigen Gedankenakrobatik herstellen könnte: Allzu deutlich wird, dass es hier nicht um eine Obsession, sondern um eine Ambition geht. Das macht die Geschichte derart hirnlastig und, wie man im Fränkischen sagen würde, darmlos, dass der Leser das Ende bestenfalls mit dem "wundgelegenen Humor" erreicht, den Rosenbaum in seinem letzten, kryptischen Brief an Stroheim erwähnt.
Warum aber sollten wir Marcus Brauns schriftstellerisches Vermögen nach einem Stadium beurteilen, das er längst überwunden hat, wie sein zweiter Versuch "Delhi" beweist? In "Nadiana" heißt es: "Die Geschmeide entstehen ja in der Provinz, um im Bad der Metropolen gehärtet zu werden, wenn Sie diesen etwas angreifbaren Stil erlauben." Braun, in Bullay an der Mosel geboren, hat in seiner Wahlheimat Berlin beste Chancen, sich auf künftige literarische Feuerproben vorzubereiten.
KRISTINA MAIDT-ZINKE.
Marcus Braun: "Nadiana". Roman. Berlin Verlag. Berlin 2000. 173 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marcus Braun verrätselt die Kopfwelt
Die zweiunddreißig Kapitel seines Romans "Delhi", der im vorigen Jahr einiges Aufsehen erregte, hat Marcus Braun, so wird kolportiert, an den Zügen einer Kasparow-Partie entlanggetüftelt. Dass er mit diesem exotischen Beinahekrimi debütierte und nicht mit seinem früher verfertigten Opus "Nadiana", dürfte ein Schachzug des Verlags gewesen sein, der dem jungen Talent einen halbwegs leserfreundlichen Einstand sichern wollte. Drei Jahre brauchte Braun für die Bastelarbeit an "Delhi"; bei "Nadiana" waren es sieben. Was lange währt, wird nicht zwangsläufig besser, aber wer es schätzt, sich vom Schriftsteller ordentlich quälen, narren und nasführen zu lassen, dem muss das jetzt nachgereichte Werk mindestens zweieinhalb Mal so viel Lust bereiten wie das indische Mörderspiel, dessen greller Effekt sich schneller und spurloser verflüchtigte als ein Ginrausch.
In einer europäischen Eifersuchts-Etüde wie "Nadiana" fließt kein Gin, dafür Bier, Mineralwasser mit Aspirin, Milch oder Kaffee. Der wiederum schmeckt "bitter, wie jeder selbst gekochte in den entscheidenden Momenten des Lebens", und wird etwa in der Mitte des Romans von einem Herrn Stroheim getrunken, der vielleicht, vielleicht auch nicht, mit Nadja, der Geliebten des oft, aber nicht immer als Erzähler auftretenden Herrn Rosenbaum, eine heimliche Liaison unterhält. "Vermutlich treffen wir Stroheim auf der Rückfahrt", lautet der geheimnisschwangere erste Satz, mit dem Braun sein literarisches Konzept der allgemeinen Verunsicherung preisgibt. Ob Stroheim ein Traum, eine Erfindung Rosenbaums ist oder ob umgekehrt ein Schuh daraus wird, bleibt bis zum Schluss unklar. Nadja, die Vielbegehrte, ist vom Surrealisten Breton entlehnt und schon deshalb eine dubiose Erscheinung, auch wenn sie mit Nabokovs "Ada" drei Buchstaben teilt und nachgerade rilkemäßig "unsere Existenz unendlich sanft in ihren starken schlanken Händen" hält. Streckenweise wird die Erzählstimme einem gewissen - eher wohl ungewissen - Frederic überantwortet, der unter Berufung auf Descartes das Vorhandensein des übrigen Romanpersonals in Zweifel zieht, obwohl er bei Rosenbaum ein Dutzend Biere geschnorrt und Nadja einen unsittlichen Antrag gemacht hat.
Immerhin darf zunächst angenommen werden, dass eine Zugreise von Paris nach Berlin stattfindet, "fünf Personen im Abteil, Nadja und ich, gegenüber ein älteres Pärchen und Stroheim". Letzterer ist, falls er denn existiert, still in Kritzeleien vertieft, bis sein flüchtiges Füßeln mit Nadja bei ihrem Begleiter eine Eifersuchtsparanoia auslöst, die den sehr belesenen jungen Mann auf kurvenreiche Gedankenfahrt durch Erinnerungen, Projektionen und Zwangsvorstellungen schickt. Das überzeugt für die Dauer des ersten Kapitels, in dem eine Mischung aus Eisenbahn-Atmosphäre, Pariser Impressionen und erotischen Fantasien jene "leichte Verschiebung von Hirn und Welt" suggeriert, wie manch einer sie vom Dösen auf langen Zugfahrten kennt. Die Warnung vor dem, was danach folgt, wird indes gleich mitgeliefert: "Hatte ich Probleme? Das findet im Kopf statt. Nur im Kopf. Mit ihm steht und fällt alles."
In der Tat lässt sich Brauns Prosa mit einer Kasperlepuppe vergleichen, deren schwergewichtiges Haupt aus Holz, Ton oder Pappmaché an einem dünnen, schlaffen Stoffleib befestigt ist. Was der Autor im Kopf hat, nötigt uns Respekt ab: seine literarische Gelehrsamkeit und sein Zitatenrepertoire, sein mathematisch kalkulierender Formwille und der heilige Ernst, mit dem er als Musterschüler der Moderne die Zerstörung aller Gewissheiten im Hinblick auf Zeiten, Orte, Bewegungsrichtungen, Figuren und Ereignisse betreibt. Was diesem Verrätselungs-Exzess fehlt, ist freilich der Lebensstoff, der einen Zusammenhang zwischen der eifersüchtigen Erregung und der gefallsüchtigen Gedankenakrobatik herstellen könnte: Allzu deutlich wird, dass es hier nicht um eine Obsession, sondern um eine Ambition geht. Das macht die Geschichte derart hirnlastig und, wie man im Fränkischen sagen würde, darmlos, dass der Leser das Ende bestenfalls mit dem "wundgelegenen Humor" erreicht, den Rosenbaum in seinem letzten, kryptischen Brief an Stroheim erwähnt.
Warum aber sollten wir Marcus Brauns schriftstellerisches Vermögen nach einem Stadium beurteilen, das er längst überwunden hat, wie sein zweiter Versuch "Delhi" beweist? In "Nadiana" heißt es: "Die Geschmeide entstehen ja in der Provinz, um im Bad der Metropolen gehärtet zu werden, wenn Sie diesen etwas angreifbaren Stil erlauben." Braun, in Bullay an der Mosel geboren, hat in seiner Wahlheimat Berlin beste Chancen, sich auf künftige literarische Feuerproben vorzubereiten.
KRISTINA MAIDT-ZINKE.
Marcus Braun: "Nadiana". Roman. Berlin Verlag. Berlin 2000. 173 S., geb., 29,80 DM.
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