Shimura-san lebt alleine in seinem Haus in Nagasaki. Sein Leben ist von einem hohen Ordnungssinn geprägt. Seit einiger Zeit verschwindet Nahrung aus seinen Vorratsschränken. Er installiert eine Videokamera und kann damit schließlich den Eindringling, eine Frau, die sich bei ihm versteckt hält, entdecken. Nach dem er sie eine Weile lang beobachtet, alarmiert er die Polizei.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungErzähl ihnen von Königen und Elefanten
Träumer, Nervenbündel, Karrieristen: Was auf Frankreichs Büchertischen liegt
PARIS, Ende Dezember
Wie die Welt uns hinter einem Schleier aus ausgeklügelten Standardoptionen entschwindet - Anmelden, Auswahl treffen, Bestätigen, Beenden - und wie wir hartnäckig an unserer Illusion von Schicksal und Menschendrama festhalten, das lässt sich derzeit vorzüglich auf den Büchertischen Frankreichs verfolgen. Sollte es unter den fast fünfhundert neuen Romanen des Herbstes eine Konstante geben, dann wären es diese gekonnt abgewendeten Kriege zwischen Vätern und Söhnen, Ehepartnern, Arbeitskollegen, diese routiniert bewältigten Mord- und Selbstmorddramen, noch bevor ein Schuss fällt - oder danach.
"Ja bitte", knistert es in Philippe Claudels Roman "L'Enquête" (Die Untersuchung, Editions Stock) wie aus dem Jenseits aus der Gegensprechanlage, die den nachts am geschlossenen Betriebseingang Klingelnden erschreckt. Der durch Schnee und dunkle Straßen Gekommene bittet um Einlass: Die Geschäftsleitung müsse informiert sein, er sei der Untersuchungsbeauftragte, der den Selbstmordfällen in der Firma auf den Grund gehen soll. Die Lautsprecherstimme weiß davon nichts und schickt den Mann fort. Auch die Folge von Claudels Roman hält mit ihrer kalten Sachlichkeit die Nähe zu Kafka: befremdliche Hotelzimmer, gesichtslose Passanten, namenlose Gesprächspartner, pedantische Höflichkeit, beängstigende Korrektheit, undurchschaubare Vorgänge in der Firma, in die der Untersuchungsbeauftragte bald hereingezogen wird. Am Schluss erlebt er wie ein Zeuge sein eigenes Ende und hört nur noch ein kurzes Geräusch, als klappte ein Laptopbildschirm über den Tasten in die Verriegelung. "Klack. Und dann nichts mehr."
Die Suche nach menschlicher Restwärme kann auch zur Verfolgungsjagd werden wie bei Virginie Despentes im Roman "Apocalypse Bébé" (Grasset). Um einer jung aus der großmütterlich-bürgerlichen Obhut entwischten Lügnerin auf die Schliche zu kommen, muss die dilettantische Privatdetektivin Lucie sich mit der "Hyäne" zusammentun, einer temperamentvollen Meisterin im Fach privater Nachstellungen. Durch erfolgsgestresste Bürgermilieus, neoliberal enthemmt islamgläubige Vorstädte, Stricherwohnungen und Lesbenküchen gelangt das ungleiche Paar bis nach Barcelona und lässt eine Gesellschaft hinter sich, die alles Persönliche auf den Müll des triumphierenden Spätkapitalismus geworfen hat. Etwas subtiler sagt das auch Michel Houellebecq in seinem mit dem Prix Goncourt gekürten Roman "La carte et le territoire" (F.A.Z. vom 8. September): Karten sind interessanter und schöner als das reale Territorium menschlicher Gefühle, Ängste und Träume.
Selbst den Tieren wird manchmal die Anhänglichkeit der Menschen zu bunt. Jean Echenoz lässt nach "Ravel" (2006) und "Laufen" (2008) - über den tschechischen Marathonläufer Emil Zátopek - in seinem neuen Roman über den serbischen Erfinder Nikola Tesla ("Des éclairs", Éditions de Minuit) am Ende die Tauben aktiv werden. Schwarmartig fliegen sie gegen die Windschutzscheibe eines Autos, damit der angetrunkene Fahrer in seiner Verwirrung den aufdringlich mit Futter um sich werfenden Tesla am Straßenrand außer Gefecht setze. Nikola Tesla, der im Roman Gregor heißt, war einst als begabter Ingenieur nach Amerika ausgewandert, hat für den berühmten Edison gearbeitet und wurde von den Mitmenschen so schamlos ausgenutzt, dass er sich verbittert zurückzog. Seinen Gefühlsbedarf wendet er im Roman den Vögeln zu, bis es auch diesen zu viel wird. Echenoz hat seine Meisterschaft, authentische Biographiehäppchen wie getrocknete Blumen zwischen den Löschblättern seiner Phantasie zu wahren Romanfiguren aufblühen zu lassen, in diesem Buch auf den Höhepunkt protokollarisch unterkühlter Virtuosität gebracht.
Sind die Männer verkümmert?
Andere brauchen dafür mehr Spielraum. In "Le coeur régulier" (Das regulierte Herz, Editions de l'Olivier), seinem siebten Roman, verlängert Olivier Adam den Fluchtweg seiner Heldin in die innere Emigration bis nach Japan. Wie in früheren Romanen kippt eine Frau fast unmerklich aus ihrem glücklich wirkenden Normalalltag. Sie taucht in jenem japanischen Dorf wieder auf, wo ihr Bruder bei einem Autounfall umkam. In einer Fremde ganz ohne Exotik stößt die Frau in eine tiefer liegende Schicht ihrer Existenz, die mehr mit Verstummen als mit geschwätziger Selbstfindung zu tun hat.
Ebenso schweigsam geht es auch in dem mit dem großen Romanpreis der Académie Française ausgezeichneten Buch "Nagasaki" (Éditions Stock) von Éric Faye zu, einem für deutsche Leser erst noch zu entdeckenden Autor. Ein beim japanischen Wetterdienst arbeitender Mann mittleren Alters bemerkt dort in seinem aufgeräumten Junggesellenhaushalt zunächst nur kleine Veränderungen, etwa beim gesunkenen Pegelstand der Getränke im Kühlschrank. Über Webcam und andere Nachstellungen kommt er schließlich dahinter, dass eine ihm unbekannte Frau seine Wohnung mit ihm teilt. Sein einsames Leben entpuppt sich als Zusammenleben, doch entspringt daraus kein Drama, kein Streit, keine erlösende Umarmung. Der Vorfall wird professionell von den zuständigen Amtsstellen erledigt.
Der französische Gegenwartsroman zeige eine Welt von Männern, die in ihren beruflichen, wirtschaftlichen, politischen, existentiellen Sachzwängen verkümmerten und von den Frauen nicht mehr gebraucht würden, schrieb der Sorbonne-Soziologe Didier Lapeyronnie in einem Rückblick auf diesen Bücherherbst: "Indem die Frauen die sie weiterhin liebenden Männer zu Objekten der Lustlosigkeit herabstufen, setzen sie deren Subjektivität außer Kraft."
Müde Vaterfiguren, aufgeschreckte Träumer, zappelnde Karrieristen, halblahme Nervenbündel seien die Nischen, in denen die versprengte Restsubjektivität sich festsetze. Der Sorbonne-Professor hat jedoch überlesen, dass im ausgetrockneten Bett großer Lebensschicksale der Geschlechterunterschied keine so wichtige Rolle mehr spielt. Heldinnen wie Helden schnappen da nach Luft und halten sich ans spärliche Strandgut vergangener Ereignisfluten.
Dennoch wogt die Brandung mitunter historisch noch einmal hoch, wie gerade beim achtunddreißigjährigen Mathias Enard. "Parle-leur de batailles, de rois et d'éléphants" heißt in Anlehnung an ein Kipling-Zitat sein neuer Roman (Actes Sud): Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten. Enard lässt den über Papst Julius II. vergrämten Michelangelo im Jahr 1503 nach Konstantinopel reisen, um für den Sultan eine neue Brücke über das Goldene Horn zu bauen. Daraus entstand nicht einer jener Kostümromane, mit denen Frankreich unlängst noch den Markt gern bediente. Auf hundertfünfzig Seiten wird vielmehr mit subtilen Miniaturskizzen und viel Leerraum eine magistral gezeichnete Geschichtsfreske entfaltet. So ungefähr ließe sich auch diese französische Literatursaison ohne Skandale, ohne große Begleitdebatten, ohne überragende Namen beschreiben. Es herrscht viel Weite, viel Leere und viel Interessantes im Enggedruckten.
JOSEPH HANIMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Träumer, Nervenbündel, Karrieristen: Was auf Frankreichs Büchertischen liegt
PARIS, Ende Dezember
Wie die Welt uns hinter einem Schleier aus ausgeklügelten Standardoptionen entschwindet - Anmelden, Auswahl treffen, Bestätigen, Beenden - und wie wir hartnäckig an unserer Illusion von Schicksal und Menschendrama festhalten, das lässt sich derzeit vorzüglich auf den Büchertischen Frankreichs verfolgen. Sollte es unter den fast fünfhundert neuen Romanen des Herbstes eine Konstante geben, dann wären es diese gekonnt abgewendeten Kriege zwischen Vätern und Söhnen, Ehepartnern, Arbeitskollegen, diese routiniert bewältigten Mord- und Selbstmorddramen, noch bevor ein Schuss fällt - oder danach.
"Ja bitte", knistert es in Philippe Claudels Roman "L'Enquête" (Die Untersuchung, Editions Stock) wie aus dem Jenseits aus der Gegensprechanlage, die den nachts am geschlossenen Betriebseingang Klingelnden erschreckt. Der durch Schnee und dunkle Straßen Gekommene bittet um Einlass: Die Geschäftsleitung müsse informiert sein, er sei der Untersuchungsbeauftragte, der den Selbstmordfällen in der Firma auf den Grund gehen soll. Die Lautsprecherstimme weiß davon nichts und schickt den Mann fort. Auch die Folge von Claudels Roman hält mit ihrer kalten Sachlichkeit die Nähe zu Kafka: befremdliche Hotelzimmer, gesichtslose Passanten, namenlose Gesprächspartner, pedantische Höflichkeit, beängstigende Korrektheit, undurchschaubare Vorgänge in der Firma, in die der Untersuchungsbeauftragte bald hereingezogen wird. Am Schluss erlebt er wie ein Zeuge sein eigenes Ende und hört nur noch ein kurzes Geräusch, als klappte ein Laptopbildschirm über den Tasten in die Verriegelung. "Klack. Und dann nichts mehr."
Die Suche nach menschlicher Restwärme kann auch zur Verfolgungsjagd werden wie bei Virginie Despentes im Roman "Apocalypse Bébé" (Grasset). Um einer jung aus der großmütterlich-bürgerlichen Obhut entwischten Lügnerin auf die Schliche zu kommen, muss die dilettantische Privatdetektivin Lucie sich mit der "Hyäne" zusammentun, einer temperamentvollen Meisterin im Fach privater Nachstellungen. Durch erfolgsgestresste Bürgermilieus, neoliberal enthemmt islamgläubige Vorstädte, Stricherwohnungen und Lesbenküchen gelangt das ungleiche Paar bis nach Barcelona und lässt eine Gesellschaft hinter sich, die alles Persönliche auf den Müll des triumphierenden Spätkapitalismus geworfen hat. Etwas subtiler sagt das auch Michel Houellebecq in seinem mit dem Prix Goncourt gekürten Roman "La carte et le territoire" (F.A.Z. vom 8. September): Karten sind interessanter und schöner als das reale Territorium menschlicher Gefühle, Ängste und Träume.
Selbst den Tieren wird manchmal die Anhänglichkeit der Menschen zu bunt. Jean Echenoz lässt nach "Ravel" (2006) und "Laufen" (2008) - über den tschechischen Marathonläufer Emil Zátopek - in seinem neuen Roman über den serbischen Erfinder Nikola Tesla ("Des éclairs", Éditions de Minuit) am Ende die Tauben aktiv werden. Schwarmartig fliegen sie gegen die Windschutzscheibe eines Autos, damit der angetrunkene Fahrer in seiner Verwirrung den aufdringlich mit Futter um sich werfenden Tesla am Straßenrand außer Gefecht setze. Nikola Tesla, der im Roman Gregor heißt, war einst als begabter Ingenieur nach Amerika ausgewandert, hat für den berühmten Edison gearbeitet und wurde von den Mitmenschen so schamlos ausgenutzt, dass er sich verbittert zurückzog. Seinen Gefühlsbedarf wendet er im Roman den Vögeln zu, bis es auch diesen zu viel wird. Echenoz hat seine Meisterschaft, authentische Biographiehäppchen wie getrocknete Blumen zwischen den Löschblättern seiner Phantasie zu wahren Romanfiguren aufblühen zu lassen, in diesem Buch auf den Höhepunkt protokollarisch unterkühlter Virtuosität gebracht.
Sind die Männer verkümmert?
Andere brauchen dafür mehr Spielraum. In "Le coeur régulier" (Das regulierte Herz, Editions de l'Olivier), seinem siebten Roman, verlängert Olivier Adam den Fluchtweg seiner Heldin in die innere Emigration bis nach Japan. Wie in früheren Romanen kippt eine Frau fast unmerklich aus ihrem glücklich wirkenden Normalalltag. Sie taucht in jenem japanischen Dorf wieder auf, wo ihr Bruder bei einem Autounfall umkam. In einer Fremde ganz ohne Exotik stößt die Frau in eine tiefer liegende Schicht ihrer Existenz, die mehr mit Verstummen als mit geschwätziger Selbstfindung zu tun hat.
Ebenso schweigsam geht es auch in dem mit dem großen Romanpreis der Académie Française ausgezeichneten Buch "Nagasaki" (Éditions Stock) von Éric Faye zu, einem für deutsche Leser erst noch zu entdeckenden Autor. Ein beim japanischen Wetterdienst arbeitender Mann mittleren Alters bemerkt dort in seinem aufgeräumten Junggesellenhaushalt zunächst nur kleine Veränderungen, etwa beim gesunkenen Pegelstand der Getränke im Kühlschrank. Über Webcam und andere Nachstellungen kommt er schließlich dahinter, dass eine ihm unbekannte Frau seine Wohnung mit ihm teilt. Sein einsames Leben entpuppt sich als Zusammenleben, doch entspringt daraus kein Drama, kein Streit, keine erlösende Umarmung. Der Vorfall wird professionell von den zuständigen Amtsstellen erledigt.
Der französische Gegenwartsroman zeige eine Welt von Männern, die in ihren beruflichen, wirtschaftlichen, politischen, existentiellen Sachzwängen verkümmerten und von den Frauen nicht mehr gebraucht würden, schrieb der Sorbonne-Soziologe Didier Lapeyronnie in einem Rückblick auf diesen Bücherherbst: "Indem die Frauen die sie weiterhin liebenden Männer zu Objekten der Lustlosigkeit herabstufen, setzen sie deren Subjektivität außer Kraft."
Müde Vaterfiguren, aufgeschreckte Träumer, zappelnde Karrieristen, halblahme Nervenbündel seien die Nischen, in denen die versprengte Restsubjektivität sich festsetze. Der Sorbonne-Professor hat jedoch überlesen, dass im ausgetrockneten Bett großer Lebensschicksale der Geschlechterunterschied keine so wichtige Rolle mehr spielt. Heldinnen wie Helden schnappen da nach Luft und halten sich ans spärliche Strandgut vergangener Ereignisfluten.
Dennoch wogt die Brandung mitunter historisch noch einmal hoch, wie gerade beim achtunddreißigjährigen Mathias Enard. "Parle-leur de batailles, de rois et d'éléphants" heißt in Anlehnung an ein Kipling-Zitat sein neuer Roman (Actes Sud): Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten. Enard lässt den über Papst Julius II. vergrämten Michelangelo im Jahr 1503 nach Konstantinopel reisen, um für den Sultan eine neue Brücke über das Goldene Horn zu bauen. Daraus entstand nicht einer jener Kostümromane, mit denen Frankreich unlängst noch den Markt gern bediente. Auf hundertfünfzig Seiten wird vielmehr mit subtilen Miniaturskizzen und viel Leerraum eine magistral gezeichnete Geschichtsfreske entfaltet. So ungefähr ließe sich auch diese französische Literatursaison ohne Skandale, ohne große Begleitdebatten, ohne überragende Namen beschreiben. Es herrscht viel Weite, viel Leere und viel Interessantes im Enggedruckten.
JOSEPH HANIMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main