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Henning Ritter begibt sich in seinem Essay auf die Suche nach den Anfängen der Ungewißheit über unsere moralische Zukunft. Er macht uns dazu vertraut mit einigen Figuren und Gedankenspielen von Balzac, Diderot und Rousseau, die einzig dazu ersonnen wurden, auf die moralischen Verwirrungen zu reagieren, die uns in der Moderne abverlangt werden: ein Mandarin in Peking, dessen Vermögen dem zufallen soll, der ihn über riesige Entfernung hinweg und durch bloße Willenskraft tötet; ein Philosoph, der sich die Ohren verstopft, damit er die Schreie des Unglücklichen nicht hört, der unter seinem Fenster…mehr

Produktbeschreibung
Henning Ritter begibt sich in seinem Essay auf die Suche nach den Anfängen der Ungewißheit über unsere moralische Zukunft. Er macht uns dazu vertraut mit einigen Figuren und Gedankenspielen von Balzac, Diderot und Rousseau, die einzig dazu ersonnen wurden, auf die moralischen Verwirrungen zu reagieren, die uns in der Moderne abverlangt werden: ein Mandarin in Peking, dessen Vermögen dem zufallen soll, der ihn über riesige Entfernung hinweg und durch bloße Willenskraft tötet; ein Philosoph, der sich die Ohren verstopft, damit er die Schreie des Unglücklichen nicht hört, der unter seinem Fenster ermordet wird. Bis hin zu Dostojewski, Freud und Jünger zieht sich die Spur dieser und anderer agents provocateurs der Moral, die uns auf die Probe stellen. Sind wir in einer globalisierten und kommerziell organisierten Welt dazu fähig, das Mitleid mit dem Leiden der Welt auszudehnen, oder zerfällt unser Ethos in eines für das nahe und eines für das ferne Unglück?
Autorenporträt
Henning Ritter, 1943 geboren, war von 1985 bis 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verantwortlich für das Ressort "Geisteswissenschaften". Zahlreiche Publikationen, u. a. als Herausgeber. Im Jahr 2000 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg verliehen. Er ist Träger des Friedlieb-Ferdinand-Runge-Preises und des Ludwig- Börne-Preises. 2011 erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse. Henning Ritter lebt bei Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2004

HENNING RITTER, Redakteur dieser Zeitung, begibt sich in seinem Essay auf die Suche nach den Anfängen der Ungewißheit über unsere moralische Zukunft. Er macht uns dazu vertraut mit einigen Figuren und Gedankenspielen von Balzac, Diderot und Rousseau, die einzig dazu ersonnen wurden, auf die moralischen Verwirrungen zu reagieren, die uns in der Moderne abverlangt werden: ein Mandarin in Peking, dessen Vermögen dem zufallen soll, der ihn über riesige Entfernung hinweg und durch bloße Willenskraft tötet; ein Philosoph, der sich die Ohren verstopft, damit er die Schreie des Unglücklichen nicht hört, der unter seinem Fenster ermordet wird. Bis zu Dostojewski, Freud und Jünger zieht sich die Spur dieser und anderer agents provocateurs der Moral, die uns auf die Probe stellen. Sind wir in einer globalisierten und kommerziell organisierten Welt dazu fähig, das Mitleid mit dem Leiden der Welt auszudehnen, oder zerfällt unser Ethos in eines für das nahe und eines für das ferne Unglück? (Henning Ritter: "Nahes und Fernes Unglück". Versuch über das Mitleid. H. C. Beck Verlag, München 2004. 224 S., geb., 19,90 [Euro].)

F.A.Z.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2004

Einer unter Schurken und Opfern
Wen diese Lehren nicht erfreu’n, verdienet nicht, ein Mensch zu sein Henning Ritter verunsichert die Moral der universellen Einfühlung
Die große Erderschütterung, die im Jahr 1647 Santiago heimsuchte, nahm nicht nur tausenden das Leben, sondern - wie Heinrich von Kleist in seiner moralischen Erzählung „Das Erdbeben in Chili” glaubhaft schildert - alle künstlichen Trennungen hinfort. Mit den irdischen Gütern schwand auch, was die „wahre Natur” der Menschen bis dahin verschüttet hatte. „Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen: einander bemitleiden, sich wechselseitig Hilfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück alles, was ihnen entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte.”
Kleist lässt die Idylle nicht dauern, aber noch im Konjunktiv und in der Bedrohung entfaltet das Traumbild einer in wechselseitiger Sympathie und Hilfe vereinigten Menschheit einen starken Sog. Von diesem Traum leben heute gewaltige Apparate. Kein Ort der Welt scheint zu fern, kein Unglück zu zufällig, um nicht als Appell an unser tätiges Mitgefühl aufgefasst werden zu können. Kein Mittel scheint zu plump, wenn es gilt, uns Mitleid abzufordern. Das Internationale Rote Kreuz und all die anderen Hilfsorganisationen leben von einer „Ethik der grenzenlosen Einfühlung” und fordern Akte der Nächstenliebe gerade gegenüber den Fernsten.
Arnold Gehlen hat dies eine „überdehnte Hausmoral” genannt, die so tut, als wären alle Menschen Nachbarn und Familienmitglieder. Ob sie dies durch Fernsehberichte nicht in der Tat werden, möchte man zurückfragen, und doch gibt es gute Gründe zur Skepsis gegenüber der unbegrenzten Bereitschaft zur Einfühlung. Gibt es, wie der Titel eines Buches von Carlo Ginzburg besagt, „moralische Implikationen der Distanz”? Und kann es sinnvoll sein, Moral an Gefühle zu binden?
Denis Diderot hat die Figur eines „gewalttätigen Denkers” entworfen, der ohne Zögern einen Großteil der Menschheit opfern würde, wenn es ihm möglich wäre, dadurch sein Leben zu erhalten. Jean-Jacques Rousseau erfand einen Philosophen, der wohl über Menschheitsglück nachdenkt, sich dabei aber die Ohren zuhält, um die Schreie nicht zu hören, die ein Mordopfer unter seinem Fenster ausstößt. Adam Smith schrieb über einen „humanen Londoner”, der von einem Erdbeben in China erfährt, in laute Klagen über das ferne Leid ausbricht, seine Menschenfreundlichkeit aber vergißt, sobald ihm selbst ein Unglück droht. Balzac konfrontiert seinen Helden Rastignac mit der angeblich Rousseau abgeborgten Frage, „was er täte, wenn er, ohne Paris zu verlassen, reich werden könnte, indem er allein durch seinen Willen einen alten Mandarin in China töten würde?”
Diesen Gestalten und Geschichten der Moralskepsis geht Henning Ritter, Redakteur der FAZ, in seinem „Versuch über das Mitleid” nach, einem Essay in bester Tradition. Er liefert keine Nutzanwendung in drei Sätzen, sondern lockt den Leser auf Schleichpfade aufgeklärten Denkens, bis er am Ende wohl auf einer Lichtung angekommen ist, aber trügerische Gewissheiten unterwegs verloren hat. Es ist lange kein Buch mehr erschienen, in dem sich so leicht und so frei zugleich denken ließ.
Seine Miniaturen, der Textgeschichte, der Genealogie wie der Logik der Argumente gewidmet, hat Ritter zu vier Kapiteln geordnet, an deren Ende jedes Mal eine Aporie steht. Er beginnt mit dem Zögern Rastignacs, der wohl weiß, dass es Unrecht wäre, den Mandarin zu töten und sich dennoch sagen muss, dass er nur einmal lebt, dass Geld gut gebrauchen könnte und ja, sollte er zum Mörder werden, unentdeckt bleiben, und der alte Chinese doch ohnehin bald sterben würde. Die Frage und die Figur tauchen bei Dostojewski und Freud und schließlich bei Ernst Jünger wieder auf, demzufolge der Bürger seine Kälte gegenüber gleichgültigen oder zufälligen Ereignissen ebensowenig ertragen kann wie das, wofür er tatsächlich verantwortlich ist? Ist die abstrakte Humanität eine bürgerlich entartete Moral?
Ritter gibt keine Antwort, sondern zeichnet Karten der „moralischen Geographie”, Karten, auf denen - wie Pascal ausrief - ein Meridian über die Wahrheit entscheidet, auf denen man mit Rousseau sehen kann, dass das „gesellschaftliche Band, je mehr es sich dehnt, desto schlaffer wird”. Ebenso verliert das Mitgefühl an Intensität, wenn es fernen Gegenden gilt, mit denen uns kein Interesse verbindet. Der „humane Londoner” von Adam Smith bedauert wohl die Opfer des Erdbebens in China, aber er kann nichts tun, als sie beklagen, weil er zu weit entfernt zum Helfen ist. Also stellt er allgemeine Betrachtungen über das menschliche Leid an und wendet sich wieder dem Tagesgeschäft zu. In diesem herrscht Egoismus, dennoch handelt der Londoner nicht immer egoistisch. Während seine Gefühle „fast immer gemein und selbstsüchtig sind”, scheinen seine „aktiven Prinzipien so oft großzügig und vornehm”. Wenn dies stimmt, wäre vor allgemeiner Menschenliebe und künstlich erzeugtem Mitleid zu warnen. Zu lernen habe der Mensch Selbstbeherrschung, in dem er auf seinen „inneren Richter, den großen Einwohner der Brust, das natürliche Auge des Geistes” hört, einen unbeteiligten, eben nicht emotional engagierten Beobachter. Am besten handeln wir, wenn wir nicht so handeln, wie wir fühlen, denn unsere Gefühle sind egoistisch.
Das vierte und erregendste Kapitel ist den Differenzen zwischen Diderot und Rousseau gewidmet: Der Mensch Diderots unterwirft sich der „Arbeit der Vernunft, um die Einheit des Menschengeschlechts herzustellen und zu wahren”, der Mensch Rousseaus dagegen zieht sich „in eine isolierte Existenz zurück”. Rousseau, für den das Mitleid zur Natur des Menschen gehörte, wird daher aus der Gemeinschaft der Vernünftigen ausgestoßen.
So groß das intellektuelle Vergnügen ist, am aufgeklärten Gespräch teilzunehmen, so gespannt erwartet der Leser einen zweiten Teil zur gegenwärtigen Lage, in der zwar grundsätzlich jeder Anspruch auf unser Mitleid zu haben scheint, es aber - schon auf Grund der Fülle des Elends - zu einer Hierarchisierung der Unglücklichen gekommen ist, in der zwischen dem „humanen Londoner” und den Chinesen große Apparate vermitteln, in der das übersteigerte Mitleid vor dem Bildschirm mit notwendigem Desinteresse im urbanen Alltag einhergeht. Für eine Analyse dieser Lage wären das Wissen der Dichter und die Erzählungen der Philosophen wohl wenig mehr als Vorgeschichte, ein großartiger Prolog.
Henning Ritter
Nahes und fernes Unglück
Versuch über das Mitleid. C.H. Beck Verlag, München 2004. 224 S., 19,90 Euro.
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Kein Ort der Welt liegt zu weit entfernt, kein Unglück dieser Welt bleibt uns verborgen: das Medienzeitalter, behauptet Jens Bisky, beschert uns eine "Ethik der grenzenlosen Einfühlung", von der das DRK und andere Hilfsorganisationen profitierten. Es gibt und gab auch früher schon Skeptiker gegenüber dieser unbegrenzten Einfühlungs- und Hilfsbereitschaft; Bisky führt Arnold Gehlen als Beispiel an, der sich über eine "überdehnte Hausmoral" mokierte. Diderot, Rousseau, Dostojewski, Jünger und Freud heißen die anderen Autoren, die sich literarisch oder philosophisch mit Moralaposteln und -skeptikern auseinandergesetzt haben und naturgemäß zu sehr verschiedenen Schlüssen gekommen sind. Henning Ritter, FAZ-Redakteur, hat mit "Nahes und fernes Unglück" einen Essay im besten Sinn geschrieben, freut sich Bisky, leicht geschrieben und ohne Scheuklappen. Ritter gibt auch keine Antwort auf die aufgestellten Fragen, sagt Bisky, sondern zeichne eine Karte der "moralischen Geografie". Das aufregendste Kapitel ist den Differenzen zwischen Diderot und Rousseau gewidmet, berichtet Bisky und schwächt seinen Enthusiasmus zum Schluss insofern ab, als er Ritters geschichtsphilosophischen Ausflug einen "großartigen Prolog" nennt, dem eine Analyse der heutigen Lage dringend folgen müsse.

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