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"Ich sah alle Buchstaben und Zahlen in Farben, Musik erzeugte farbige Linien in mir, und ich konnte mir beliebig viele Wörter und Zahlen merken, sofern ich sie vorher mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte."
Die Buchhändlerin Nanette ist Gedächtniskünstlerin, hat aber ihre synästhetischen Merkfähigkeiten durch einen mysteriösen Vorfall verloren. Um so mehr interessiert sich ein berühmter russischer Gehirnforscher für sie, der sie bittet, ihre Geschichte aufzuschreiben.
Als junge Frau streift sie durch das Berliner Nachtleben der achtziger und neunziger Jahre. Sie lernt bekannte
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Produktbeschreibung
"Ich sah alle Buchstaben und Zahlen in Farben, Musik erzeugte farbige Linien in mir, und ich konnte mir beliebig viele Wörter und Zahlen merken, sofern ich sie vorher mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte."

Die Buchhändlerin Nanette ist Gedächtniskünstlerin, hat aber ihre synästhetischen Merkfähigkeiten durch einen mysteriösen Vorfall verloren. Um so mehr interessiert sich ein berühmter russischer Gehirnforscher für sie, der sie bittet, ihre Geschichte aufzuschreiben.

Als junge Frau streift sie durch das Berliner Nachtleben der achtziger und neunziger Jahre. Sie lernt bekannte Persönlichkeiten kennen, verliebt sich aber in einen jungen Mann, den sie Dutschke nennt.

In ihren Erinnerungen spielen zwei Bilder von William Turner eine geheimnisvolle Rolle, die 1995 aus der Frankfurter Ausstellung "Goethe und die Kunst" verschwunden waren. In der Deutung der Farbigkeit dieser Bilder verschwimmen die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung, und die Geschichte wird zunehmend unheimlich.In diesem virtuosen wie aberwitzigen Roman aus Stimmen und Stimmungen zwischen Melancholie und spöttischer Heiterkeit spielen Farben und Worte, Fiktion und Realität ein Verwirrspiel mit dem Leser, der nie sicher sein kann, ob er der Erzählerin glauben kann.
Autorenporträt
Friedmar Apel, geboren 1948, lehrte Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld und schrieb regelmäßig Buchkritiken für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Das Buch Fritze war sein erster Roman. Er verstarb am 21. Oktober 2018 in Bielefeld.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.03.2009

Wenn Buchhändlerinnen vom Bogenschießen träumen

In Farbgewittern und Textschlachten: Der Literaturwissenschaftler und Kritiker Friedmar Apel gürtet sich in seinem neuen Roman erneut zur mythologischen Schnitzeljagd.

Die Buchhändlerin Nanette verwirrt die Männer mit ihren kurzen Röcken, roten Haaren und Stilettos, aber mehr noch durch profunde akademische Bildung, freche Aperçus und geistreiche Scherze. Vielleicht hat sie ja nicht alles von Goethe, Derrida und Lacan gelesen, aber als "geborene Sortimenterin" kann sie all ihre lieferbaren Titel aufzählen, Heiner Müllers "Hamletmaschine" mit einem Wort ("aufgeblasenes Zeug") dekonstruieren und beiläufig den Zusammenhang zwischen Synapsen- und narrativen Strukturen erläutern. Nicht einmal Kafka ist vor dem humanistisch gebildeten Flittchen sicher: "Ach, Franz, wärst du mir begegnet, in der Weinstube in Prag, ich hätte dich geliebt. Mir wärst du nicht ausgekommen mit deinen Ausreden von geschriebenen Küssen, die von Geistern ausgetrunken werden."

Nanette ist nicht nur eine Schwester der Mäusesängerin Josefine, sondern auch die Tochter eines Kulturhistorikers, der ein dreibändiges Werk über die Rezeption der griechischen Mythologie zwischen Renaissance und Goethezeit geschrieben und ihr schon am Kinderbett daraus vorgelesen hat. Seither hält sie sich für Atalanta, jene bärenstarke, jungfräuliche Jägerin, die sich mit ihrem Bogen Rieseneber und lüsterne Kentauren vom Leib hielt.

Das Jagdrevier der Hobby-Bogenschützin ist der Berliner Kulturbetrieb der achtziger und neunziger Jahre. Damals, bevor distanzlose Zonies und Westpolitiker die Insel der Seligen zerstörten, saß Nanette bei Lutter & Wegner und anderen Intellektuellentreffs am Katzentisch und machte sich kichernd über die großen Männer der Literatur und Künste lustig, die sie mit Blicken verschlangen. Sie kannte alle und nennt sie gedächtnisstark mit ihren Beinamen: Den "reizenden" Luc Bondy, Udo Walz, "den wichtigsten Friseur der westlichen Welt", Michael Krüger, Katharina Thalbach und natürlich Thomas Brasch, der immer mit seinen Stasigeschichten und seinem "Biermann-Adel" renommierte, Lüpertz und Kippenberger, Otto Schily und Heiner Müller, den "bösen Hausmeister". Siegfried Unseld streichelte sie segnend, Nikolaus Sombart, der "begabte Erotiker", lud sie in seinen Salon ein, Max Frisch spielte mit ihr Billard. Jakob Taubes, der geile Faun, wollte ihr den "Zusammenhang von Aufdecken, Erkennen und Geschlechtsverkehr im Buch der Könige" erklären, aber der alte Quasselkopf konnte sie nicht ins Bett locken. Nanette lässt keinen Mann an sich heran; ein gewisser Dutschke musste sogar sterben, weil er dem kessen Nymphchen zu nahe kam.

Die Amazone, die tout Berlin, die griechische Mythologie und Goethes Farbenlehre kennt und beziehungsreich verspottet, ist eine Kopfgeburt von Friedmar Apel, Literaturwissenschaftler in Bielefeld und Mitarbeiter dieses Feuilletons. Wer auf Karl-Heinz Bohrers Lehrstuhl sitzt, mag, wenn er sich schon zum Romanschreiben herablässt, ungern auf höhere Scherze, Satire und Ironie verzichten. So hielt es Apel schon in seinem "Buch Fritze", einem tragikomischen Schelmen- und Passionsroman über seinen frühverstorbenen Bruder. In "Nanettes Gedächtnis" hat er seine Methode autobiographischer Fiktions- und Vexierspiele noch einmal verfeinert. Für Philologen ist die Schnitzeljagd nach versteckten Zitaten, Anspielungen und Kollegen ein reines Vergnügen. Wer von einem Roman eher einen handfesten Plot oder gar Identifikationsfiguren erwartet, wird mit dem gelehrten name-dropping im zweiten Buch Friedmar wenig anfangen können. Hier lachen selbst Neuntklässler "dreckig", wenn der Lehrer einen Witz über die umgekehrte Einschiffung nach Kythera macht oder der Literaturwissenschaftler Klaus Laermann mit anzüglichem Grinsen "Das Begehren macht ein Loch in den Text und die Signifikanten gleiten heftig" raunt.

Nanette ist eine Kunstfigur, keine Erzählerin, jedenfalls solange sie noch bei Sinnen ist. "Nana S., also ich, wie ich vorher war, konnte im üblichen Sinn gar nicht erzählen. Meine Geschichten, so weiß ich nun, hatten keinen rechten Anfang, keine Mitte und kein Ende. Ich begann irgendwo, eins reihte sich ans andere, und irgendwann hörte ich auf." Tatsächlich reiht Nanettes Tagebuch fast wahllos Erlebnisse, Reflexionen und Schelmenstücke aus dem Leben der Berliner Intelligenz aneinander.

Sie hört Vorlesungen über William Turner, die Nazarener und Carl Blechen und stiehlt aus der von ihrem Vater kuratierten Ausstellung "Goethe und die Kunst" zwei Turner-Bilder, die ihre strenge Mutter alsbald verbrennt. Sie erzählt von ihrem Faible für Furzkissen, Stinkbomben und anspruchsvollere Scherzartikel und erklärt, warum ihr manche Wörter scharlachrot, Heiner Müller aber immer schmutziggrau erschien: Nanette war Synästhetikerin, bis ein Un- und wohl auch der Mauerfall sie um ihre Gabe und ihr gusseisernes Gedächtnis brachten.

Die farbige Wahrnehmung von Wörtern, Zahlen und Musik ist, wie wir aus der neueren Literatur von Martin Suters "Teufel von Mailand" bis zu Jeffrey Moores "Gedächtniskünstler" wissen, ein Segen für den persönlichen Gedächtnispalast, aber auch ein Fluch für Seele und Geist. Nanette jedenfalls, seit ihrem Koma und Trauma schizophren, manisch-depressiv und farbenblind, lebt jetzt in einer psychiatrischen Privatklinik, unter der Obhut eines russischen Hirnforschers. Der geniale Neurologe glaubt zu wissen, dass "jede aufmerksame Wahrnehmung von vornherein der Struktur der Erzählung folgt". Die narrative Struktur von Nanettes Erinnerungen ähnelt freilich mehr einem Kaleidoskop bunter Selbstbezüglichkeit.

Schöne Borderline-Patientinnen wie André Bretons "Nadja" können durchaus profane Erleuchtungen befördern. Apel schließt Hirnforschung, Literaturwissenschaft und Mythologie kurz und lässt in seinen synästhetischen Farbgewittern neben Insider-Witzchen und höheren Kalauern immer wieder einen feinen Humor und kluge Gedanken aufblitzen. Aber weder Nanettes "Kunst der beiläufigen Wahrnehmung" noch der aufgeklebte Krimi-Plot können verhindern, dass der Roman in farbige Scherben und postmoderne Einbildungen von Einbildung zerfallen.

"Finde den Eber" heißt eines der Anagramme, die den Bielefelder Weg in den Literaturrätselwald pflastern. Die Spur führt in den halkyonischen Grunewald, wo Wildschweine sich als Kulturfolger bewähren. Männer sind Schweine, Großintellektuelle eitle Tröpfe. Besonders, wenn sich ein mit allen Wassern gewaschener Literaturwissenschaftler die Maske der mitleidlosen Jägerin, Ringkämpferin und Wettläuferin aufsetzt, um vergiftete Pfeile auf die Götter und Götzen seines Standes abzuschießen.

MARTIN HALTER

Friedmar Apel: "Nanettes Gedächtnis". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 136 S., geb., 15,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Das Buch nennt Martin Halter beim Namen. Eine Kopfgeburt sei es, aber wenn man diese zu nehmen weiß, also die Zeichen aus dem Vorrat der Berliner Kulturschickeria der 80er und 90er Jahre zu lesen vermag, meint Halter, lässt sich damit durchaus leben und lachen. Das von Friedmar Apel für seinem zweiten Roman so anspielungsreich in Szene gesetzte, humanistisch gebildete Intellektuellen-Groupie Nanette versorgt den Rezensenten allerdings weder mit einem ordentlichen (Krimi-)Plot noch mit Identifikationspotential. Für Halter ist sie eine reine Kunstfigur, keine Erzählerin. Kein Wunder also, dass Nanette dem armen Rezensenten ihre Erinnerungen und Erlebnisse mit Heiner Müller, Kippenberger und Otto Schily in bunter Selbstbezüglichkeit "fast wahllos" präsentiert. "Profane Erleuchtungen" wie bei der Lektüre von Bretons "Nadja" hat Halter immerhin auch, wenn Apel seine Nanette interdisziplinär und mit "feinem Humor" loslegen lässt.

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