Die trügerische Opulenz einer Ära, die an ihr Ende gekommen ist Die Brissago-Inseln im Lago Maggiore, Silvester 1929: Auf diesem künstlichen Paradies versammelt der Großunternehmer Max Bernheim eine Festgesellschaft, um unter dem Motto Die goldene Barke Abschied zu nehmen von einem Jahrzehnt des Überschwangs. Was als rauschhafter Schlusspunkt gedacht war, mündet in eine Katastrophe. Eine Kaltfront bricht über den Lago Maggiore herein, als die ersten Gäste am Seeufer eintreffen. Sie werden argwöhnisch beobachtet von der verarmten russischen Baronessa, die einst die Inseln besaß und kultivierte, sie dann aber an Bernheim verlor. Auch Konrad Nemeczi, Psychiater und Halbbruder Bernheims, hat sich mit einigen Patienten oberhalb des Sees einquartiert, um seine Therapie der "offenen Tür" umzusetzen. Seine Frau und die halbwüchsige Tochter setzen zur Insel über, während er sich zurückzieht, um einen Vortrag zu schreiben, mit dem er seinen Namen über die Fachwelt hinaus bekannt machen möchte. Plötzlicher Eisregen gefährdet das große Feuerwerk und hält Nemeczi am Haus fest. Mit dem Glockenschlag um Mitternacht vollzieht sich im Glanz der Feuerwerkskörper eine Tragödie. Mit faszinierendem Detailreichtum, feinem Humor und überwältigender sprachlicher Kraft erzählt Liane Dirks von einem Tag, an dem sich das Schicksal dreier Figuren vollendet und eine Ära zu Ende geht. Sinnsucher allesamt, stoßen sie an die Grenzen des Fassbaren und finden doch ihr Glück.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.09.2004Hinterm Busch ein Irrer
Wilde Energien: Für Liane Dirks ist das Leben ein Copyshop
Die Landschaft um den Lago Maggiore ist seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts El Dorado der Glückssucher und Spinner, der Reichen und Extravaganten, der Künstler und der alternativen Wissenschaft. Die russische Baronin Antoinette Saint Léger hatte seinerzeit die Brissago-Inseln erworben und einen exotischen Garten angelegt, in dem sich die vornehme und geistige Welt Europas versammelte, während auf dem Monte Veritá die Rohköstler und Sonnenanbeter das wahre Leben jenseits der Kultur finden wollten. 1927 mußte die verarmte Baronin ihr Paradies an den Hamburger Geschäftsmann Max Emden verkaufen, der das bis heute zu besichtigende Palais mit Badehaus und Hafen baute.
Diese Episode bildet den stofflichen Kern von Liane Dirks neuem Roman. Die Handlung spielt Silvester 1929. Der reiche Unternehmer Max Ulrich Bernheim gibt ein Fest unter dem Motto "Die goldene Barke". Symbolträchtig soll ein Jahrzehnt des suchenden Überschwangs in verschwenderischem Prunk leichthin verabschiedet werden. "Das Glück, das Leben, die Kunst - ein Spiel." Am anderen Ufer haust die Baronin in einer aufgelassenen Fabrik und beäugt die Vergänge auf ihrer Insel verbittert als Zerstörung aristokratischer Kultur. Oberhalb des Sees befindet sich die Irrenanstalt des esoterisch angehauchten Psychiaters Konrad Nemeczi, Halbbruder Bernheims. Er praktiziert ein Konzept der Teilnahme und der offenen Tür. Für das Dreikönigstreffen der Psychiatrischen Gesellschaft schreibt er an einem Vortrag über "Die Seele im Kontinuum der Zeit", mit dem er die Fachwelt erstaunen will: "Er wollte nicht reiche Neurotiker analysieren, er wollte wissen, was der Wahnsinn ist. Der Wahnsinn und seine Bedeutung für das Begreifen des Lebens."
Liane Dirks stattet den so umrissenen Erzählraum verschwenderisch und anspielungsreich mit ästhetischen und kultischen Objekten aus und bevölkert die Szenerie mit einem Panoptikum von teils historischen Personen nachgebildeten Typen. Die Baronin wird beim Namen genannt, den Brüdern verleiht die Autorin Züge, die auf die Familiengeschichte von Aby und Max Warburg verweisen. Mit dem Hinweis auf Warburgs Vortrag zum Schlangenritual der Hopi, den er 1923 in einer Nervenklinik als Zeichen seiner Genesung von manisch-depressiven Zuständen hielt, ist der Bezug zum psychiatriegeschichtlichen und kultischen Hintergrund des Romans hergestellt. Es geht um die Frage, was der Mensch mit seinen wilden Energien machen soll.
Im derart aufgeladenen Handlungsraum kann sich die Erzählerin als rückwärtsgewandte Prophetin entfalten. Denn über dem theatralischen Trubel und der erotisch und exotisch erhitzten Atmosphäre lauert als Naturmetaphorik von vornherein die Katastrophe. Deshalb spielt der Wetterbericht eine wichtige Rolle: "Binnen weniger Stunden, es mögen zwei oder auch drei gewesen sein, war die Temperatur von zwei auf minus 16 Grad gefallen. Es war windstill gewesen, und der See hatte ein merkwürdig weißes Licht abgegeben." Wilde Energien strömen, am Ende kommt alles ins Rutschen, und es "lugt hinter jedem Busch ein Irrer hervor". Die Katastrophe aber ist zugleich der Durchbruch zur Präsenz und zur Erkenntnis, daß die Unterscheidung von normal und verrückt im Kontinuum von Zeit und Raum bedeutungslos ist: "Wir sind alle nur Sandkörner im Meer der Erscheinungen." Daß der Psychiater mit solchem Kitsch denunziert wird, hat er trotz seiner Schwächen nicht verdient.
Liane Dirks versteht sich auf dichte Atmosphären und suggestive Detailbeschreibungen und scheut auch vor grellen Überraschungseffekten nicht zurück. Die Erzählerin schwebt dabei als Anima über den Wassern des Sees und kann unterschiedslos allen Personen in den Kopf schauen. Davon macht sie so reichlichen Gebrauch wie von den Stilmitteln der erlebten Rede und des inneren Monologs. Der Effekt ist ein überanstrengt wirkendes Gewirr von inneren und äußeren Stimmen und mystifizierend verknüpften, manchmal auch verhedderten Handlungsfäden, was allzu offensichtlich die überspannte Glückssuche der zwanziger Jahre in ihrer katastrophenträchtigen Irrationalität abbilden soll. Liane Dirks hat trotz oder wegen ihrer Recherchen für die handelnden und leidenden Personen der dargestellten Epoche wenig Respekt. Das führt bei aller Kunstfertigkeit zu einem oft unangenehmen Ton jovialer Ironie und mangelndem erzählerischen Takt.
Stilistisch zeigt sich das in syntaktischer Überladung und einem großsprecherischen Übereinander von Beschreibung und Deutung. Liane Dirks traut sich viel zu und hat deshalb auch keine Angst vor überstrapazierten Bildern. Vor allem wird ihre Erzählerin nicht müde, dem Leser die Spiegelbildlichkeit des Normalen und des Verrückten vor Augen zu führen. Das geht trotz Ironie irgendwann auf die Nerven, insbesondere wenn der Experte für dieselben seiner postnietzscheanischen Lebensphilosophie nachhängt. "Aber irgendwie war auch das Leben so: Was sich zeigte, war die Kopie, die Kopie von Vorgeprägtem, von Gedanken, von Verfassungen . . . Wie sollte der Kranke wissen, wer er war, wenn schon der Gesunde sich fortwährend kopierte." Am Ende will Liane Dirks dem Leser unter Berufung auf den Doktor weismachen, daß Erkenntnis "jenseits aller Formulierungen" steht. Wer's glaubt, wird glücklich.
Liane Dirks: "Narren des Glücks". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. 224 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wilde Energien: Für Liane Dirks ist das Leben ein Copyshop
Die Landschaft um den Lago Maggiore ist seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts El Dorado der Glückssucher und Spinner, der Reichen und Extravaganten, der Künstler und der alternativen Wissenschaft. Die russische Baronin Antoinette Saint Léger hatte seinerzeit die Brissago-Inseln erworben und einen exotischen Garten angelegt, in dem sich die vornehme und geistige Welt Europas versammelte, während auf dem Monte Veritá die Rohköstler und Sonnenanbeter das wahre Leben jenseits der Kultur finden wollten. 1927 mußte die verarmte Baronin ihr Paradies an den Hamburger Geschäftsmann Max Emden verkaufen, der das bis heute zu besichtigende Palais mit Badehaus und Hafen baute.
Diese Episode bildet den stofflichen Kern von Liane Dirks neuem Roman. Die Handlung spielt Silvester 1929. Der reiche Unternehmer Max Ulrich Bernheim gibt ein Fest unter dem Motto "Die goldene Barke". Symbolträchtig soll ein Jahrzehnt des suchenden Überschwangs in verschwenderischem Prunk leichthin verabschiedet werden. "Das Glück, das Leben, die Kunst - ein Spiel." Am anderen Ufer haust die Baronin in einer aufgelassenen Fabrik und beäugt die Vergänge auf ihrer Insel verbittert als Zerstörung aristokratischer Kultur. Oberhalb des Sees befindet sich die Irrenanstalt des esoterisch angehauchten Psychiaters Konrad Nemeczi, Halbbruder Bernheims. Er praktiziert ein Konzept der Teilnahme und der offenen Tür. Für das Dreikönigstreffen der Psychiatrischen Gesellschaft schreibt er an einem Vortrag über "Die Seele im Kontinuum der Zeit", mit dem er die Fachwelt erstaunen will: "Er wollte nicht reiche Neurotiker analysieren, er wollte wissen, was der Wahnsinn ist. Der Wahnsinn und seine Bedeutung für das Begreifen des Lebens."
Liane Dirks stattet den so umrissenen Erzählraum verschwenderisch und anspielungsreich mit ästhetischen und kultischen Objekten aus und bevölkert die Szenerie mit einem Panoptikum von teils historischen Personen nachgebildeten Typen. Die Baronin wird beim Namen genannt, den Brüdern verleiht die Autorin Züge, die auf die Familiengeschichte von Aby und Max Warburg verweisen. Mit dem Hinweis auf Warburgs Vortrag zum Schlangenritual der Hopi, den er 1923 in einer Nervenklinik als Zeichen seiner Genesung von manisch-depressiven Zuständen hielt, ist der Bezug zum psychiatriegeschichtlichen und kultischen Hintergrund des Romans hergestellt. Es geht um die Frage, was der Mensch mit seinen wilden Energien machen soll.
Im derart aufgeladenen Handlungsraum kann sich die Erzählerin als rückwärtsgewandte Prophetin entfalten. Denn über dem theatralischen Trubel und der erotisch und exotisch erhitzten Atmosphäre lauert als Naturmetaphorik von vornherein die Katastrophe. Deshalb spielt der Wetterbericht eine wichtige Rolle: "Binnen weniger Stunden, es mögen zwei oder auch drei gewesen sein, war die Temperatur von zwei auf minus 16 Grad gefallen. Es war windstill gewesen, und der See hatte ein merkwürdig weißes Licht abgegeben." Wilde Energien strömen, am Ende kommt alles ins Rutschen, und es "lugt hinter jedem Busch ein Irrer hervor". Die Katastrophe aber ist zugleich der Durchbruch zur Präsenz und zur Erkenntnis, daß die Unterscheidung von normal und verrückt im Kontinuum von Zeit und Raum bedeutungslos ist: "Wir sind alle nur Sandkörner im Meer der Erscheinungen." Daß der Psychiater mit solchem Kitsch denunziert wird, hat er trotz seiner Schwächen nicht verdient.
Liane Dirks versteht sich auf dichte Atmosphären und suggestive Detailbeschreibungen und scheut auch vor grellen Überraschungseffekten nicht zurück. Die Erzählerin schwebt dabei als Anima über den Wassern des Sees und kann unterschiedslos allen Personen in den Kopf schauen. Davon macht sie so reichlichen Gebrauch wie von den Stilmitteln der erlebten Rede und des inneren Monologs. Der Effekt ist ein überanstrengt wirkendes Gewirr von inneren und äußeren Stimmen und mystifizierend verknüpften, manchmal auch verhedderten Handlungsfäden, was allzu offensichtlich die überspannte Glückssuche der zwanziger Jahre in ihrer katastrophenträchtigen Irrationalität abbilden soll. Liane Dirks hat trotz oder wegen ihrer Recherchen für die handelnden und leidenden Personen der dargestellten Epoche wenig Respekt. Das führt bei aller Kunstfertigkeit zu einem oft unangenehmen Ton jovialer Ironie und mangelndem erzählerischen Takt.
Stilistisch zeigt sich das in syntaktischer Überladung und einem großsprecherischen Übereinander von Beschreibung und Deutung. Liane Dirks traut sich viel zu und hat deshalb auch keine Angst vor überstrapazierten Bildern. Vor allem wird ihre Erzählerin nicht müde, dem Leser die Spiegelbildlichkeit des Normalen und des Verrückten vor Augen zu führen. Das geht trotz Ironie irgendwann auf die Nerven, insbesondere wenn der Experte für dieselben seiner postnietzscheanischen Lebensphilosophie nachhängt. "Aber irgendwie war auch das Leben so: Was sich zeigte, war die Kopie, die Kopie von Vorgeprägtem, von Gedanken, von Verfassungen . . . Wie sollte der Kranke wissen, wer er war, wenn schon der Gesunde sich fortwährend kopierte." Am Ende will Liane Dirks dem Leser unter Berufung auf den Doktor weismachen, daß Erkenntnis "jenseits aller Formulierungen" steht. Wer's glaubt, wird glücklich.
Liane Dirks: "Narren des Glücks". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. 224 S., geb., 17,90 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.02.2005Lago, Colt und Kälte
Tiefsinn am flachen Ufer: Liane Dirks „Narren des Glücks”
Der Hamburger Kaufhauserbe Max Ullrich Bernheim will das Ende des Jahres 1929 auf seiner Insel im Lago Maggiore mit einem rauschenden, von einem Feuerwerk gekrönten Fest begehen. Doch eine Kaltfront zieht auf, und während Bernheim noch die illustren Gäste mit Yachten zu seinem Anwesen bringen lässt, hat am Ufer schon sein Halbbruder, der Psychiater Konrad Nemeczi, mitsamt Frau, Tochter und einer Gruppe seiner betuchten Patienten Quartier bezogen. Die verarmte russische Adlige, die ihr Inselparadies an Bernheim verloren hat, verfolgt derweil das Geschehen aus der Ferne, und da sie als beste Schützin weit und breit vorgestellt worden ist, denkt man: Das kann ja heiter werden - eine Insel, eine rauschende Ballnacht, ein Feuerwerk, eine Kaltfront, eine verbitterte Revolverheldin, ein Kind und ein Käfig voller Narren. Doch das ist noch lange nicht alles. Leider.
Liane Dirks schmaler Roman krankt daran, dass er von allem zu viel und zugleich zu wenig hat. Seine Figuren, die gleich dutzendfach anreisen, sind trotz zahlreicher Rückblenden zu viele, um sie während der Handlungszeit eines Tages glaubhaft charakterisieren zu können. Vor allem, wenn man die Kunst, aus der Figurenperspektive zu erzählen, nicht beherrscht. Nemeczi etwa wird als „der Arzt, den die Leute aus dem Dorf nur den Dottore nannten”, eingeführt, doch der Wechsel zur Dörflerperspektive, den die banale Tautologie einzuleiten scheint, missglückt, weil deren Sichtweise dann doch nur auktorial referiert wird. Liane Dirks denkt zu viel in ihre Gestalten hinein, ohne sie dabei zugleich glaubhaft zu entwickeln.
Die großen Themen des Buchs - der Wechsel von den Goldenen Zwanzigern zu den schrecklichen dreißiger Jahren, die fatale Rolle der Psychiatrie und die Einsicht, dass Geld und Therapien allein nicht glücklich machen - erweisen sich bald als toter Ballast des Romans, der immer wieder gern auf seine flachste Seite fällt. „Was war die Schönheit”, fragt sich der reiche Bernheim, der seinen Pool und sein Anwesen aus ästhetischen Gründen gern mit nackten Mädchen schmückt. Doch er fragt sich vergeblich, denn er fragt den Falschen. „Das Endgültige der Schönheit konnte er nicht erfassen”, weiß die Erzählerin: „Denn Max Ullrich fehlte etwas. Es war eine bestimmte Qualität. Eine Qualität des Herzens.” Armer reicher Mann!
Historisch interessierte Leser erfahren, die Pogrome in Russland seien „wahrhaft schrecklich” gewesen, auch wenn die Glaubwürdigkeit gerade dieser Zeugin dadurch eingeschränkt wird, dass sie einen Derringer 22 als ihren „Lieblingscolt” ansieht. Glaubwürdige Charaktere und Figurenperspektiven sind nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil man sonst all die schrecklichen Dinge, die manche Romanfiguren tun oder sagen, ihren Schöpfern anlasten würde. Die auktoriale Verfügung von Stimmungen („Es waren aber keine Gardenien, es war Traurigkeit”) reicht nicht, sie lässt allzu leicht das ambitionierteste Seelendrama zur kitschigen Narrenposse werden.
ULRICH BARON
LIANE DIRKS: Narren des Glücks. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. 224 Seiten, 17,90 Euro.
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Tiefsinn am flachen Ufer: Liane Dirks „Narren des Glücks”
Der Hamburger Kaufhauserbe Max Ullrich Bernheim will das Ende des Jahres 1929 auf seiner Insel im Lago Maggiore mit einem rauschenden, von einem Feuerwerk gekrönten Fest begehen. Doch eine Kaltfront zieht auf, und während Bernheim noch die illustren Gäste mit Yachten zu seinem Anwesen bringen lässt, hat am Ufer schon sein Halbbruder, der Psychiater Konrad Nemeczi, mitsamt Frau, Tochter und einer Gruppe seiner betuchten Patienten Quartier bezogen. Die verarmte russische Adlige, die ihr Inselparadies an Bernheim verloren hat, verfolgt derweil das Geschehen aus der Ferne, und da sie als beste Schützin weit und breit vorgestellt worden ist, denkt man: Das kann ja heiter werden - eine Insel, eine rauschende Ballnacht, ein Feuerwerk, eine Kaltfront, eine verbitterte Revolverheldin, ein Kind und ein Käfig voller Narren. Doch das ist noch lange nicht alles. Leider.
Liane Dirks schmaler Roman krankt daran, dass er von allem zu viel und zugleich zu wenig hat. Seine Figuren, die gleich dutzendfach anreisen, sind trotz zahlreicher Rückblenden zu viele, um sie während der Handlungszeit eines Tages glaubhaft charakterisieren zu können. Vor allem, wenn man die Kunst, aus der Figurenperspektive zu erzählen, nicht beherrscht. Nemeczi etwa wird als „der Arzt, den die Leute aus dem Dorf nur den Dottore nannten”, eingeführt, doch der Wechsel zur Dörflerperspektive, den die banale Tautologie einzuleiten scheint, missglückt, weil deren Sichtweise dann doch nur auktorial referiert wird. Liane Dirks denkt zu viel in ihre Gestalten hinein, ohne sie dabei zugleich glaubhaft zu entwickeln.
Die großen Themen des Buchs - der Wechsel von den Goldenen Zwanzigern zu den schrecklichen dreißiger Jahren, die fatale Rolle der Psychiatrie und die Einsicht, dass Geld und Therapien allein nicht glücklich machen - erweisen sich bald als toter Ballast des Romans, der immer wieder gern auf seine flachste Seite fällt. „Was war die Schönheit”, fragt sich der reiche Bernheim, der seinen Pool und sein Anwesen aus ästhetischen Gründen gern mit nackten Mädchen schmückt. Doch er fragt sich vergeblich, denn er fragt den Falschen. „Das Endgültige der Schönheit konnte er nicht erfassen”, weiß die Erzählerin: „Denn Max Ullrich fehlte etwas. Es war eine bestimmte Qualität. Eine Qualität des Herzens.” Armer reicher Mann!
Historisch interessierte Leser erfahren, die Pogrome in Russland seien „wahrhaft schrecklich” gewesen, auch wenn die Glaubwürdigkeit gerade dieser Zeugin dadurch eingeschränkt wird, dass sie einen Derringer 22 als ihren „Lieblingscolt” ansieht. Glaubwürdige Charaktere und Figurenperspektiven sind nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil man sonst all die schrecklichen Dinge, die manche Romanfiguren tun oder sagen, ihren Schöpfern anlasten würde. Die auktoriale Verfügung von Stimmungen („Es waren aber keine Gardenien, es war Traurigkeit”) reicht nicht, sie lässt allzu leicht das ambitionierteste Seelendrama zur kitschigen Narrenposse werden.
ULRICH BARON
LIANE DIRKS: Narren des Glücks. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. 224 Seiten, 17,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Friedmar Apel hatte keine Freude an diesem Roman. Die im Jahr 1929 angesiedelte Handlung ist ihm zu schwülstig. Es nerven ihn die mystifizierend verhedderten Handlungsfäden, die aus seiner Sicht "allzu offensichtlich" die überspannte Glückssuche der zwanziger Jahre in ihrer Irrationalität abbilden sollen. Auch den jovialen Ton der Autorin findet er eher unangenehm. Es geht, wie wir lesen, um eine Insel im Lago Maggiore, die von ihrer verarmten, adeligen Besitzerin an einen Hamburger Geschäftsmann verkauft werden muss. Zentrum des Romans ist ein Silvesterfest. Der Rezensent nun findet diesen Erzählraum so üppig ausgestattet und bevölkert, dass er bald die Lust verliert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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