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Oktober 1904: Der 22-jährige James Joyce tritt im"gottverlassenen"Pola an der Küste in Istrien seine Stelle als Englischlehrer an. Seine Ankunft wird in der lokalen Zeitung groß annonciert. Und Joyce wird unmittelbar Zeuge einer Reihe von spektakulären Ereignissen: die pathetische Inszenierung einer Gedenkfeier für die ermordete Kaiserin"Sisi", die Aufführungen eines ambulanten Kinos, eine Flut von (Bild-)Nachrichten aus dem Russisch-Japanischen Krieg ... Diese allgegenwärtigen, bisher kaum beachteten"Vermischten Nachrichten","faits divers", fanden Eingang in Tageszeitungen und Kinoprogramme,…mehr

Produktbeschreibung
Oktober 1904: Der 22-jährige James Joyce tritt im"gottverlassenen"Pola an der Küste in Istrien seine Stelle als Englischlehrer an. Seine Ankunft wird in der lokalen Zeitung groß annonciert. Und Joyce wird unmittelbar Zeuge einer Reihe von spektakulären Ereignissen: die pathetische Inszenierung einer Gedenkfeier für die ermordete Kaiserin"Sisi", die Aufführungen eines ambulanten Kinos, eine Flut von (Bild-)Nachrichten aus dem Russisch-Japanischen Krieg ... Diese allgegenwärtigen, bisher kaum beachteten"Vermischten Nachrichten","faits divers", fanden Eingang in Tageszeitungen und Kinoprogramme, und verarbeitet tauchen sie u.a. im"Ulysses"wieder auf, wie Hanns Zischler und Sara Danius nun erstmals zeigen.
Autorenporträt
Hanns Zischler, geboren 1947, ist Schauspieler, Publizist und freischaffender Künstler. Neben zahlreichen Fernsehauftritten ist er in internationalen Filmproduktionen zu sehen, wie z.B. Wim Wenders' "Im Lauf der Zeit" und Steven Spielbergs "München".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2008

Joyce im Meldungsfieber
Porträt des Künstlers als produktiver Zeitungsleser

Was tun wir eigentlich, wenn wir die Tageszeitung lesen? Gewiss, wir erweitern unseren Horizont, erlangen Hintergrundwissen, lassen uns von harten Reportagen packen, von klugen Kommentaren aufrütteln oder auch von Rezensionen anregen. Zeitungslektüre verläuft selten linear und noch seltener vollständig, vielmehr sprunghaft, diskontinuierlich und zufällig: Wir lassen den Blick über die Zeitungsseiten schweifen, lesen hier einen Text an, registrieren dort eine Bildunterschrift, goutieren vielleicht gerne einen längeren Artikel bis zum Spaltenumbruch, dann aber gleiten wir unversehens in die Nebenspalte ab, weil etwas unsere Aufmerksamkeit ablenkt. Häufig stoßen wir auf kleine Meldungen, die ohne jeden sonstigen Zusammenhang erscheinen und auf wenigen Zeilen etwas mitteilen, was nur unter der Kategorie "Vermischtes" zu fassen ist. Seit es Zeitungen gibt, gibt es solche "faits divers". Sie dienen, wie man unumwunden sagen muss, vor allem auch als Füllsel. Denn weiße Flecken sind auf Zeitungsseiten ebenso verpönt wie auf den Weltkarten nach Ende des Entdeckungszeitalters.

Das Pressephänomen des "fait divers" erzählt eine Miniatur-Geschichte und setzt sie dennoch der Beliebigkeit aus, dem Unvorhersehbaren, Kontingenten, Anonymen und damit dem Geschichtslosen, das ein Ereignis ohne jegliche erzählerische Bindung überkommt. Von Schriftstellern wie André Gide und Marcel Proust mit Leidenschaft gesammelt, von Journalisten wie Félix Fénéon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts als Hohe Schule der Moderne kultiviert und von kritischen Geistern wie Roland Barthes später rhetorisch analysiert, bildet es sowohl das Schmieröl wie den Sand für das Erzählgetriebe unserer Welt, hält es doch durch Ablenkung der Konsumenten die Medienmaschinerie geschmeidig und widersetzt sich zugleich jeder Großerzählung. Jetzt widmen Sara Danius und Hanns Zischler sich einem der größten Monumente der Moderne, um sein Fundament im "fait divers" freizulegen.

James Joyce' Epochalroman "Ulysses" (1922), das wird sehr schnell klar, ist durchweg vom Geist des Pressewesens inspiriert. Er spielt an einem einzigen, genau datierten Tag und bietet vom Wetter bis zum Pferderennen umfassende Berichte über so ziemlich alles, was man je darüber wissen mag; sein Titelheld ist Anzeigenakquisiteur, dem ständig Werbesprüche aus der Zeitung durch den Kopf gehen; eine Episode zeigt ihn in der Redaktion und stellt sich durch ihr Druckbild auch noch selbst so dar, als wäre sie dem Tageblatt entnommen. Zischler und Danius allerdings radikalisieren diesen Befund, wenn sie den Nachweis antreten, dass die gesamte Konzeption des "Ulysses" und damit die Modernisierung des Erzählens aus der Nutzbarmachung des Vermischten abgeleitet werden kann. In der Fülle des Folgenlosen, das massenweise aufgeboten wird, sehen sie "Romansporen", die Joyce aus den Massenmedien übernommen habe, um Füllsel zum Hauptmaterial zu machen. In seiner Feier des Alltäglichen platzt die Dramaturgie des Ereignishaften auf wie eine überreife Kapsel und zerstreut sich in moderne Kontingenzprosa.

Dazu nutzen Danius und Zischler eine kleine biographische Episode. Am 30. Oktober 1904, viereinhalb Monate nach dem "Ulysses"-Tag, erschien in der italienischsprachigen Provinzzeitung von Pola eine kurze Meldung, welche die Ankunft von "James A. Joyce, B.A." als neuem Englischlehrer der lokalen Berlitz-School anzeigte. In Pola, einem Städtchen südlich von Triest, blieb Joyce nur ein paar Monate - der Forschung sonst kaum mehr als eine Fußnote wert. Zischler und Danius aber finden just im Randständigen und Belanglosen dieser Zwischenzeit den Schlüssel für ihre Lektüre des Romans. Denn der Aufenthalt in Pola fällt zufällig mit dem von Carl Lifka zusammen, einem der letzten großen Schausteller des "ambulanten Kinos". Sein Kino der Attraktionen, das in anarchischer Kurzweiligkeit eine buntgemischte Fülle darbietet, sehen sie im selben Maße von einer Ästhetik der Überraschung und Zerstreuung geprägt wie das "fait divers". Joyce, so ihr zentraler Punkt, habe dies in einer "cut & paste"Technik kopiert und als Karneval der Stile im "Ulysses" umgesetzt.

Das Grundsympathische an diesem Essay, der überdies in schöner Aufmachung mit vielen zeitgenössischen Fotografien und Zeitungsausschnitten erscheint, ist die spielerische Lockerheit, mit der er einen triftigen kulturhistorischen Zugang zu Joyce' Werk erkundet, dabei durchweg auf große Thesen zu den "druckgeschichtlichen Ursprüngen der Moderne" zielt und doch nie in den grimmen Ton der Medientheorie verfällt. Bei aller sorgsamen Fußnotenarbeit atmet die Argumentation vielmehr den Geist der Sache, die verhandelt wird, und zeigt sich selbst - mit schönen Pointierungen und ständigen Abschweifungen, verschlungenen Bögen und unvermittelten Übergängen - vom Prinzip des Vermischten, dem sie nachgeht, nachhaltig geprägt. "Ein Schriftsteller sollte nie über das Außergewöhnliche schreiben", hat Joyce einst gegenüber Djurna Barnes bemerkt: "Das ist recht für einen Journalisten." Nach Lektüre dieses außergewöhnlichen Buches über das poetologische Mischwerk eines großen Schriftstellers lernen wir nicht nur seine Texte anders lesen. Auch die Tageszeitung nehmen wir mit anderen Augen - oder ist es die Nase? - wahr.

TOBIAS DÖRING

Hanns Zischler/Sara Danius: "Nase für Neuigkeiten. Vermischte Nachrichten von James Joyce". Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008. 165 S., br., 17,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Auf "wundersame Weise kohärent" findet Rezensent Adam Soboczynsk die Lektüre dieses Büchleins, das der Schauspieler Hanns Zischler zusammen mit der schwedischen Literaturwissenschaftlerin Sara Danius verfasst hat. Es geht, wie er schreibt, um die berühmten "faits divers" auf der Vermischtes-Seite, aus denen der These dieses Buchs zufolge der moderne Roman entstanden sei. James Joyces "Ulysses" zum Beispiel. Allerdings scheint das kleine Werk, dessen Lektüre für den Rezensenten mitunter etwas von gehobener Zeitungslektüre hat, auch deutliche Grenzen zu haben. Nicht nur, dass er die visuelle Garnierung des Essays mit Fotos und Zeitungsausschnitten optisch recht behäbig findet. Auch scheint ihm eine Spur digitaler Zeitbezug abzugehen.

© Perlentaucher Medien GmbH