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Dies ist ein historisches Werk über Russlands Kultur und Menschen. Von weltberühmten Komponisten, Schriftstellern und Künstlern bis hin zur Volksmusik und regionalen Gebräuchen erkundet "Nataschas Tanz", was es bedeutet, Russe zu sein.
In einer berühmten Szene von Tolstois Roman Krieg und Frieden hört die junge Fürstin Natascha ein ihr unbekanntes Volkslied und beginnt instinktiv zur Melodie zu tanzen. Ausgehend von dieser Schlüsselszene, mit der Tolstoi suggeriert, dass die russische Nation durch unsichtbare Fäden einer angeborenen Mentalität zusammengehalten wird, erkundet Figes die…mehr

Produktbeschreibung
Dies ist ein historisches Werk über Russlands Kultur und Menschen. Von weltberühmten Komponisten, Schriftstellern und Künstlern bis hin zur Volksmusik und regionalen Gebräuchen erkundet "Nataschas Tanz", was es bedeutet, Russe zu sein.
In einer berühmten Szene von Tolstois Roman Krieg und Frieden hört die junge Fürstin Natascha ein ihr unbekanntes Volkslied und beginnt instinktiv zur Melodie zu tanzen. Ausgehend von dieser Schlüsselszene, mit der Tolstoi suggeriert, dass die russische Nation durch unsichtbare Fäden einer angeborenen Mentalität zusammengehalten wird, erkundet Figes die Entstehung einer der erstaunlichsten Kulturen der Welt.

Wunderbar und lebendig geschrieben, spannt Nataschas Tanz den Bogen vom Glanz des Petersburger Zarenhofs bis zur Macht der stalinistischen Propaganda, von der Volkskunst bis zu den magischen Ritualen der asiatischen Schamanen, von der Dichtung Puschkins bis zur Musik Mussorgskis und den Filmen Eisensteins. Die Beleuchtung dieser oft widersprüchlichen Impulse und sinnlichen Gemeinsamkeiten würdigt die Größe der russischen Kultur und die bemerkenswerten Persönlichkeiten, die sie geprägt haben. Nach seinem Meisterwerk zur russischen Revolution, Die Tragödie eines Volkes, legt der junge Londoner Historiker Orlando Figes nun sein nächstes großes Russland-Buch vor, das ebenfalls das Zeug zu einem Standardwerk hat.

Autorenporträt
Orlando Figes lehrt Geschichte am Birbeck College in London. Sein großes Standardwerk zur Geschichte der russischen Revolution, Die Tragödie eines Volkes (Berlin Verlag 1998), wurde von der Kritik enthusiastisch gefeiert und mit vielen Preisen ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2003

Der Tanz eines Volkes
Natascha dreht sich im angewärmten Kammerton: Orlando Figes’ große Kulturgeschichte Rußlands
Wer Tolstois monumentales Epos „Krieg und Frieden” kennt, der wird sich der zauberhaften Szene (im zweiten Buch des ersten Bandes) erinnern, in der Natascha Rostowa, eine Sissi-Figur der russischen Adelswelt, „auf bäuerliche Art” zu tanzen beginnt. Ort der Handlung ist kein eleganter Ballsaal Moskaus oder Petersburgs, sondern das abgelegene Gutshaus eines kauzigen Onkels, der Volksweisen auf der Gitarre intoniert, um seine liebreizende Nichte zum Tanzen zu bringen. Und tatsächlich: Die französisch erzogene Komtesse, in Samt und Seide aufgewachsen, bewegt sich unter dem Beifall des leibeigenen Gesindes bald so fehlerfrei und sicher, als ob sie – meint Tolstoi – „das unnachahmliche und unerlernbar Russische” ihrer Gesten und Schritte „aus der Luft, die sie atmet, eingesogen” hätte.
„Nataschas Tanz” steht im Titel einer russischen Kulturgeschichte, die kürzlich in England erschien und auf den Literaturseiten der großen Blätter neben rückhaltloser Anerkennung auch Kritik und Irritationen weckte. Der Autor, Orlando Figes, Historiker am Birbeck College der Londoner Universität, ist kein Außenseiter. Seit Jahren pflegt er mit professionell trainierter Intelligenz in Medien aller Sorten aufzutreten. Seinem letzten, auch ins Deutsche übersetzten Opus magnum („Die Tragödie eines Volkes”, Berlin Verlag 1998), einem farbenstarken Panorama der russischen Revolution, wurden zahlreiche Book Awards zuteil. Ohne Zweifel gehört er zu jener Minderheit literarisch begabter Historiker, die nicht (oder doch nicht nur) für ihre Zunftgenossen schreiben, sondern für ein breites, historisch interessiertes Publikum. Auch sein neues Buch hat diese Leserschaft im Blick, und die Erwartungen, die es weckt, sind groß.
Figes hat sich nichts Geringeres vorgenommen, als in einer synthetisch angelegten Erzählung rund dreihundert Jahre russischer Kulturgeschichte einzufangen. Der Zeitbogen, den er schlägt, reicht vom Europäisierungsschub der petrinischen Epoche bis zum Niedergang des kommunistischen Herrschaftssystems, von den autokratisch regulierten Anfängen der europäisierten Adelskultur bis zum Verrinnen dessen, was unter Stalin „Sozialistischer Realismus” hieß. Naturgemäß kann es nicht leicht sein, auf diesem weiten, von hochspezialisierten Gelehrten dicht besetzten Feld ein Buch zu schreiben, das mehr wäre als eine klug arrangierte Kompilation bekannter Sachen. Vorbilder, an denen sich das Vorhaben messen ließe, waren nicht zur Hand. Der letzte, vergleichbar ambitiöse Versuch liegt mehr als fünfunddreißig Jahre zurück: James H. Billington’s „The Icon and the Axe” von 1966. Als dieser mehrfach neuaufgelegte Klassiker geschrieben wurde, konnten selbst kluge Historiker jenseits des Ozeans von „kulturologischen Wenden” und ähnlich postmodernen Turns kaum mehr als eine blasse Ahnung haben.
Der Klang der Tradition
Figes stand also vor dem Problem, auf dem Niveau der veränderten Zeit und veränderter Begriffe ein Konzept zu finden, das dem großen Thema angemessen wäre. In theoretischer Hinsicht hat er dabei keinen sonderlichen Aufwand getrieben. Anders als in seinen gemeinsam mit Boris Kolonitskii verfassten Revolutionsstudien über Sprache und Symbole (1999) ließ er die Paradigmata der „Neuen Kulturgeschichte” diesmal auf sich beruhen, und um seiner Leser willen kann man sagen: Er hat gut damit getan. Natascha tanzt, ohne dass sie von den einschlägigen Diskursen und dem zugehörigen Jargon behelligt würde. Auch von Methoden und Deutungsangeboten der russischen Kultursemiotik, der Lotman-Schule zwischen Moskau und Tartu, hat sich der Autor nicht bestimmen lassen. Erstaunlich überhaupt, wie wenig Anregungen er aus der neueren russischen Forschung zieht.
Klar ist, dass sich Figes nicht für elaborierte Interpretationsmuster des akademischen Gewerbes, sondern für pragmatischere Zugriffe entschieden hat. Auch kam es ihm darauf an, seine Kulturgeschichte in den politischen und sozialen Kontext der Zeitläufte einzubetten, ohne sie in ein chronologisches Korsett zu zwängen. Dabei konnte er seinem literarischen Talent vertrauen, seinem Sinn für dramaturgische (mitunter auch melodramatische) Effekte und seiner Courage, den riesigen Stoff durch eine absichtsvoll gesteuerte Auswahl der Schauplätze und handelnden Personen zu erschließen. Was die Kernfragen angeht, die er zur Sprache bringt, so ließ er sich von Imaginationen leiten, die er beim ersten Auftritt der Natascha Rostowa schon umrissen hatte: von der Überzeugung, dass das unverwechselbar Russische an Russland in der bäuerlichen Kultur zu finden sei. Es ist dieser ideologisch angewärmte Kammerton, der das Buch wie ein Basso continuo bis zum Ende hin durchzieht. Er klingt traditionell und ist es auch.
Bei alldem kann man nicht sagen, dass sich der Autor als Ethnograph betätigt hätte, um den ganzen Kosmos der russländisch Folklore auszumessen. Hauptthema des Werkes sind nicht Volksglaube, Volkslied, Volkstanz und so weiter, sondern Spezifika der europäisierten Hochkultur des Reiches. Kraftzentrum dieser Kultur ist Petersburg, erst im Lauf des 19. Jahrhunderts tritt Moskau mit eigenem Publikum hinzu und mit Mäzenaten aus dem Kaufmannsstand. Was Figes interessiert, sind die Spuren und Spiegelungen der Volkskultur im Milieu der Bildungsschichten, in den geistigen Bewegungen und den Schönen Künsten zumal. Um das zu zeigen, bietet er eine gewaltige Personage auf, so dass es albern wäre, Namen aufzuzählen, die er nicht nennt, oder Arenen russischer Kultur, die von ihm nicht betreten werden.
Aus der Tiefe des Volkes
Kein Zweifel, sein Angebot aus der Fülle ist nicht schlecht. Das gilt für die Literatur von Puschkin bis Pasternak, für die bildende Kunst von den romantischen Genremalern wie Wenezianow bis zu den Avantgardisten wie Kandinsky, Malewitsch und so fort, für die Musik von Glinka, Mussorgsky und Tschaikowsky bis zu den Meistern der Sowjetzeit, Theater- und Filmregisseure eingeschlossen. Auch hier sind dem Autor die Kontinuitäten wichtiger als die Brüche, wichtiger als das, was die sowjetologische Forschung unter dem Begriff „Kulturrevolution” verbucht. Um dem Leser einzuschärfen, dass europäische Kultur in Rußland ein Tatbestand von langer Dauer war, führt er symbolträchtige „Gedächtnisorte” immer wieder vor. Kultstätten, wie das Palais der Fürsten Scheremetjew, Anna Achmatows „Haus an der Fontanka”, haben es ihm besonders angetan.
gewiss waren viele Dichter und Künstler Russland darauf eingerichtet, Inspiration aus den „Tiefen des Volkes” zu ziehen.
Doch Figes will nicht nur beschreiben, sondern will erklären: Nichts habe die schöpferische Elite dieses Kontinentalimperiums sich sehnlicher gewünscht, als ihre eigene nationale Identität zu finden, nichts leidenschaftlicher gewollt, als über alle Unterschiede und Gegensätze hinweg leuchtkräftige Symbole zu stiften, die von der Einheit Russlands im europäischen Kulturzusammenhang Zeugnis gäben. Dieser These entspricht, dass der Autor das Schlusskapitel dem exilierten Russland widmet. Dort ruft er noch einmal Szenen auf, die dem Verlangen nach nationaler Einheit in anrührender Weise Ausdruck geben. Am Ende steht Strawinskys Moskaureise vom September 1962, ein Bericht über die wortkarge Begegnung mit Schostakowitsch und das leidenschaftliche Bekenntnis des Emigranten zu Russland, seinem Vaterland.
Man muss diese aufs Nationale, ja aufs Imperiale justierte Auslegung nicht teilen, um der Leistung des britischen Kollegen Respekt zu zollen. Sein Buch ist reich bebildert und liest sich über Strecken hin wie ein Roman. Es vermittelt ein Maß an Zusammenschau und Überblick, das bisher in so leserfreundlicher Form noch nicht zu haben war. Das mag Mut machen zur Lektüre des einen oder anderen Buches, ohne die dieses Werk nicht hätte geschrieben werden können. Figes macht keinen Hehl daraus, dass er auf vielen Schultern steht. Ob er sich dieser Hilfen großzügiger bediente als üblich im Milieu der Zunft, ist hier nicht zu entscheiden. In einer Liste nicht immer glücklich kommentierter Titel hat er ein Hochgebirge ausschließlich angloamerikanischer Referenzen aufgebaut. Käme es je zu einer deutschen Übersetzung, dann wäre auf einen kaum kleineren Berg anderer Lesehilfen zu verweisen, nicht zuletzt auf Arbeiten der deutschsprachigen Russlandforschung. Dieses kleine Desiderat zeigt abermals, was auf dem globalisierten Büchermarkt inzwischen gilt: Wer nicht englisch publiziert, ist verloren.
DIETRICH GEYER
ORLANDO FIGES: Natasha’s Dance, A Cultural History of Russia. Allen Lane. The Penguin Press, London 2002. 729 Seiten, 35 US-Dollar.
Moskau. Blick aus dem Hotel Rossija auf die Basilius- Kathedrale.
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2003

Lauter Liebesentsagungen
Orlando Figes ist eine Kulturgeschichte Rußlands gelungen

Der britische Historiker Orlando Figes zieht in "Nataschas Tanz" den Wein der russischen Kultur auf prominente Flaschen. Russe sein bedeutet, große Gegensätze überbrücken zu können. Dazu zwingt schon der gewaltige eurasische Raum, in dem sich alle Kulturleistungen besonders hinfällig ausnehmen, und wo die dünne Decke der westlichen Zivilisation von einem unzuverlässigen Wald- und Steppenboden getragen wird. Dieses Wechselspiel von europäischer Melodie und wild folkloristischer Unterströmung wird von der reizvollen Episode von Tolstois "Krieg und Frieden" eingefangen, welche Figes seiner gewichtigen neuen Kulturgeschichte Rußlands als Schlüsselbild voranstellt. Darin vollführt die junge Romanheldin Natascha Rostowa, die in ihrem adligen Elternhaus nach allen Regeln der französischen Etikette erzogen wurde, in der Jagdhütte ihres Onkels, wo Leibeigene Volksmusik spielen, spontan einen russischen Bauerntanz. Dem Autor zufolge macht das vornehme Fräulein instinktiv alles richtig, stemmt die Arme in die Seiten, wiegt sich schalkhaft in den Schultern - dabei hört sie die Klänge zum ersten Mal und hat den Tanz nie gelernt.

Die Europäisierung Rußlands beziehungsweise einiger Russen konnte manchmal vergessen machen, daß kulturelle Transplantate dem Wirtsorganismus entweder fremd bleiben oder sich wesentlich verändern. Die Dialektik von Anziehung und Abstoßung durch Europa hat die unabschließbare, aber kulturell höchst fruchtbare Suche nach der russischen Identität in Gang gesetzt. So erscheint es berechtigt, wenn Figes' sechshundert Seiten starke kulturgeschichtliche Arche nur die zweihundertfünfzig Jahre zwischen Peter dem Großen bis zu den Nachwehen des Sowjettotalitarismus an Bord nimmt, da Rußland sich heftig am Westen reibt. Die vormongolische und die moskowitische Epoche, die als historisches Gepäck und mythische Erinnerung gegenwärtig sind, würdigt der Gelehrte nicht eigens, ebensowenig wie die vielfarbige Abenddämmerung der Sowjetgesellschaft, die in unseren heutigen kommerziellen Salon hinüberleitet.

Sein reiches Material zwischen Rastrelli und Glinka bis zu Kandinsky und Achmatowa präsentiert er leserfreundlich und unterhaltsam. Man erlebt das russische Ringen um Schönheit und Wahrheit, Volksnähe und Freiheit aus der Sicht bedeutender Persönlichkeiten, in Lebens- und Werkbeschreibungen berühmter Adliger und Künstler. Dabei geht der Autor bis ins Intime und Anekdotische, wenn er etwa seinen Gewährsmann Tolstoi den Literatenkollegen und Tuberkulosepatienten Tschechow über sein, Tolstois, Lieblingsthema, den Tod ausfragen läßt. Und um die Verdienste des großartigen Landschaftsmalers Lewitan zu würdigen, läßt Figes lieber Tschechow vom unaussprechlichen Charme der Bilder schwärmen als die Eigenart dieses Charmes zu erforschen.

Europa und die Europäisierung waren von Anfang an ein utopisches Projekt von moderner Effizienz und Schönheit. Die neuzeitlichen Bauformen des Barock und des Klassizismus nahmen bei ihrer Petersburger Wiederkunft eine flache Kulissenhaftigkeit und unirdische Schönheit an, die man aus der Ikonenkunst kennt. Aus der städtebaulichen Anlage der neuen Hauptstadt, welche die dem Zarenhof nahen Wohnbezirke des Adels durch Kanäle von denen des gemeinen Volkes abgrenzte, spricht die militant hierarchische Ordnung, die Rußland bis heute organisiert. Und die Unselbständigkeit der "europäisierten" Eliten des Adels, die der russische Selbstherrscher degradieren und enteignen konnte, schlug sich schon damals nieder in geringem Verantwortungsgefühl für die eigene Wirtschaft und abhängige Leibeigene, der Neigung zu Verschwendungsorgien, aber auch in einem Sinn für ideale Projektionen.

Aus dem Pfropfreis europäischer Importe entkeimte die Blüte der Leibeigenentheater, welche Figes am Beispiel der berühmtesten Truppe des sagenhaft reichen Grafen Nikolai Scheremetjew vorführt. Doch die Theaterhaftigkeit des russischen Europäertums, die seit Puschkin das literarische Dauerthema vom "überflüssigen" Lebemann hervorbrachte, nährte zugleich Ressentiments gegen die Eitelkeiten des Westens, insbesondere nach dem Sieg über den europäischen Eroberer Napoleon, der durch den Heroismus der dumpfen bäuerlichen Massen erkauft war. Die bodenständige Selbstbesinnung brachte so unterschiedliche Früchte wie die konstitutionelle Verschwörung der Dekabristen, die höfische Mode des "russischen Stils", die Leibeigenenidyllen der Maler um Wenezianow und die nostalgischen Geschichtsmythen der Slawophilen hervor. Ein Hauptheld in Figes' Erzählung sind der dekabristische Aufständische und "Bauernfürst" Sergej Wolkonski, dem die ungezähmten Bauern an seinem sibirischen Verbannungsort Hoffnungen auf eine demokratische Erneuerung Rußlands einflößten; aber auch Wolkonskis entfernter Verwandter Leo Tolstoi, dessen Prosakunstwerke den falschen Zivilisationsschleier vom russischen Leben zu ziehen versuchen, während er sein eigenes schlechtes Gutsherrengewissen regelmäßig mit Feldarbeit in bäuerlicher Gemeinschaft therapierte.

Die Expeditionen an die Wurzeln der russischen Seele konnten freilich auch ernüchtern. Figes läßt Dostojewski, Tschechow, Gorki schildern, wie der von volkstümelnden Intellektuellen verklärte Bauer sich am Prügeln seiner Frau berauscht, vor Starken hündisch kriecht, Rücklagen des glorifizierten Kollektivs vertrinkt - elementare Deformationssymptome durch das "asiatische" Subordinationsprinzip, die man leicht verändert auch bei Vertretern der vornehmeren Schichten wiederfindet. Es wirkt bezeichnend, daß der Krieg gegen einen äußeren Feind, das zwangsläufige Zusammenrücken bei der Vaterlandsverteidigung erforderlich zu sein scheint, um die Russen zu einer einigen Nation zu machen. Der leidvolle napoleonische wie der Zweite Weltkrieg befreiten, so merkt auch Figes an, viele einfache Leute aus ihrem Sklavenstand.

Die Kultur des Volkes und der Massen läßt der Autor unterdessen kaum zu Worte kommen. Rußlands schrecklich-schöne Europafremdheit tritt aus der Sicht gebildeter Prominenter in den Blick. Dieselben verwestlichten Intellektuellen, die über die Rückständigkeit ihrer Heimat stöhnen, können einen trotzigen Stolz auf die asiatische Zügellosigkeit an den Tag legen, weil darin Rußlands Eigenständigkeit liegt. Figes macht dies besonders in der Musik anschaulich, angefangen von dem eingangs geschilderten Bauerntanz, dem er orientalische Puppenästhetik bescheinigt. Die Eigentümlichkeiten der russischen Folklore, ihre langgezogenen, melismatischen Melodien, die "groben" Harmonien paralleler Quinten und Quarten sowie der fließende Wechsel des tonalen Zentrums, der ein Gefühl von Unbestimmtheit erzeugt, wurden insbesondere vom "mächtigen Häuflein" der nationalromantischen Komponisten kultiviert. Bei dem bedeutendsten von ihnen, Mussorgski, ergibt sich eine identifikatorische Mischung aus Impulsivität, Archaik und Fatalismus. Ein halbes Jahrhundert später erklang die Folklore artistisch-avantgardistisch wie in Strawinskys "Bauernhochzeit", deren zwingende Kollektivmotorik von jeder Subjektivität erlöst.

Figes hat den Wein der russischen Kultur genußfertig auf Flaschen gezogen. Welch ein Kontrast zu dem im Umfang vergleichbaren, aus unerfindlichen Gründen nicht ins Deutsche übersetzten Standardwerk des Amerikaners James Billington, "The icon and the axe" aus dem Jahr 1966, worin jede alte Debatte, jede fixe Idee fortzugären scheint. Figes' am russischen Kulturkonflikt trainierter Kennerblick kann allgemeinmenschliche Situationen für "typisch russisch" erklären, beispielsweise die ewige Glaubenssehnsucht wider wissenschaftliche Beweise oder die Liebesentsagung von Puschkins verheirateter Romanheldin Tatjana. Dann erscheint das Land, das sich unter geographisch rauhen Bedingungen immer mit universalen Problemen herumgeschlagen hat, als jener geheimnisvolle Ort des Paradoxon, dem am Schluß von Figes' Buch der greise Strawinsky, nachdem ihn die Sowjetturbulenzen in die Emigration und in den Klassizismus getrieben hatten, mit russischem Seelenfassungsvermögen seine Liebe ausspricht.

KERSTIN HOLM

Orlando Figes: "Nataschas Tanz". Eine Kulturgeschichte Rußlands. Aus dem Englischen von Sabine Baumann und Bernd Rullkötter. Berlin Verlag, Berlin 2003. 720 S., Abb., geb., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Natascha ist die junge Fürstin Rostowa aus Tolstois "Krieg und Frieden", die trotz aller französischen Erziehung urplötzlich auf bäuerische Weise zu tanzen beginnt, so erfahren wir aus Natascha Freundels Besprechung. Dem Autor dient das Bild der tanzenden Natascha als Zeichen für das grundlegende Spannungsfeld, in dem russische Identität sich vom 18. bis ins 20. Jahrhundert hinein verortet und krisenhaft hergestellt hat. Dass solche literarischen Bezüge - und es kommen noch musikalische und künstlerische hinzu - dem Autor vehemente Kritik aus der akademischen Welt eingebracht haben, findet Freundel unangemessen. Denn die Kritiker und Neider hätten nicht verstanden, so die Rezensentin, dass Figes ähnlich dem von ihm geliebten Rausch nächtlicher Gespräche mit Russen hier in einer Leidenschaft für "assoziatives Verknüpfen" und "prägnante Bilder" schwelgt. Dies erlaubt ihm, befindet Freundel, die Inszenierung eines "zeitgeschichtlichen Panoramas", in dem verborgene Facetten des Werks selbst bekannter Autoren, Maler und Komponisten aufgedeckt werden. Es ist die "spielerische Eleganz", wie Natascha Freundel begeistert hervorhebt, die die "Stärke seines Buchs" ausmacht - und zu höchstem "Lesevergnügen" führt.

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