Produktdetails
- Verlag: Hanser, Carl
- ISBN-13: 9783446178922
- ISBN-10: 3446178929
- Artikelnr.: 24072642
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.1996Nathan, Rosinen-Satan
Ein Buch für die Nase
Nathan Sid war nie dort gewesen. Seine drei Schwestern - auch alle mit zwei a in ihrem Namen -, seine Eltern und alle die Tanten und Onkels waren aber einst in Niederländisch-Indien, das seit der Befreiung Indonesien heißt, zu Hause. Die Befreiung ging, worüber aber hier nur indirekt etwas zu erfahren ist, gar nicht so einfach vonstatten. Gegen Ende der vierziger Jahre "fühlten sich Tausende von Kolonistenfamilien gezwungen", in die Niederlande zurückzukehren. Dort lebten sie ohne sonderlich hohes Ansehen. Auch die Sids - dazu noch in nicht ganz klaren Familienverhältnissen.
Nathan vor der Pubertät: Er muß sich mit vielen Unerquicklichkeiten herumschlagen. Sein Vater ist streng; seine Mutter, wie man so sagt, etwas liederlich; Schulkameraden hänseln ihn; seine Haut juckt oft schrecklich und blutet und heilt schlecht. Sich damit und mit den unzähligen Rezepturen fürs sanftere Essen (innerlich) und übelriechenden Salben (äußerlich) herumzuschlagen, das ist wahrlich ein Kreuz. Nathan trägt es mit Erfindungsreichtum. Gegen Schluß des Buches wird eine Frau überfahren. Bald nach diesem einigermaßen glimpflich überstandenen Abenteuer stirbt Nathans Vater. "Mein Vater ist nicht mehr", sagt Nathan. Was das für ihn selbst bedeutet, wird er erst später erfahren.
Nicht, daß viel passieren würde. Keine Abenteuer außer denen, in die ein aufgeweckter, einsamer, etwas frühreifer und in vielem auch ein wenig zurückgebliebener Junge (die Mischung, aus der später Intellektuelle werden) sich einfach durch die Kraft seines Vorstellungsvermögens hineinversetzen kann. Kein dramatischer Schmerz außer dem unerträglichen Hautjucken und den kleinen Wutausbrüchen gegen den Vater oder die Schwestern. Dem Vater legt er - spaßeshalber - ein mit seinem Blut geschriebenes Briefchen unter den Teller: "Pißkacker, du wirst ermorded." Der Vater knallt ihm eine und sagt: "Ermordet schreibt man hinten mit t." Bizarrerien des Alltags: ein theosophisches Fräulein mit gewaschener Wintermöhre. Stabil aussehende und deshalb sympathische Bücklingsköpfe. Ein Rollstuhlfahrer, dem der Reifen seines Rollstuhls platzt (und das ist wirklich ein furchtbarer Knall).
Und umwerfende Lebensweisheiten: "Wer in den Dünen kocht, soll auch die Sandkörner essen." Darauf läuft doch Verantwortungsethik hinaus, oder? "Im Waisenhaus mußte man beim Beten immer ein Auge offenhalten, sonst klauten die anderen einem das Butterbrot." Ein Auge!
Adriaan van Dis hat diese Geschichte mit, wie man vermuten mag, autobiographischen Zügen versehen. Er schreibt mit großer Lakonie. Seine in den Text eingestreuten Gedichte sind allerdings nicht lakonisch, vielmehr furchtbar reimgierig. Darüber stolpert man das eine oder andere Mal, auch weil sie so erwachsen klingen. Vielleicht hat da auch der Übersetzer ein bißchen Mitschuld. Besonderes Flair erhalten die Geschichten durch die vielen Gewürze, die in der Küche der Sids benutzt werden. Diesen Text lesen wir in Deutschland, wo es Nasi Goreng nur aus der fettigen Dose gibt, am besten auch mit der Nase. Am schönsten ist die Geschichte immer dann, wenn die ostindischen Sehnsüchte und Gerüche durch den Text ziehen.
WILFRIED VON BREDOW.
Adriaan van Dis: "Nathan Sid". Aus dem Niederländischen von Siegfried Mrotzek. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1996. 95 S., geb., 22,- DM. Ab 13 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Buch für die Nase
Nathan Sid war nie dort gewesen. Seine drei Schwestern - auch alle mit zwei a in ihrem Namen -, seine Eltern und alle die Tanten und Onkels waren aber einst in Niederländisch-Indien, das seit der Befreiung Indonesien heißt, zu Hause. Die Befreiung ging, worüber aber hier nur indirekt etwas zu erfahren ist, gar nicht so einfach vonstatten. Gegen Ende der vierziger Jahre "fühlten sich Tausende von Kolonistenfamilien gezwungen", in die Niederlande zurückzukehren. Dort lebten sie ohne sonderlich hohes Ansehen. Auch die Sids - dazu noch in nicht ganz klaren Familienverhältnissen.
Nathan vor der Pubertät: Er muß sich mit vielen Unerquicklichkeiten herumschlagen. Sein Vater ist streng; seine Mutter, wie man so sagt, etwas liederlich; Schulkameraden hänseln ihn; seine Haut juckt oft schrecklich und blutet und heilt schlecht. Sich damit und mit den unzähligen Rezepturen fürs sanftere Essen (innerlich) und übelriechenden Salben (äußerlich) herumzuschlagen, das ist wahrlich ein Kreuz. Nathan trägt es mit Erfindungsreichtum. Gegen Schluß des Buches wird eine Frau überfahren. Bald nach diesem einigermaßen glimpflich überstandenen Abenteuer stirbt Nathans Vater. "Mein Vater ist nicht mehr", sagt Nathan. Was das für ihn selbst bedeutet, wird er erst später erfahren.
Nicht, daß viel passieren würde. Keine Abenteuer außer denen, in die ein aufgeweckter, einsamer, etwas frühreifer und in vielem auch ein wenig zurückgebliebener Junge (die Mischung, aus der später Intellektuelle werden) sich einfach durch die Kraft seines Vorstellungsvermögens hineinversetzen kann. Kein dramatischer Schmerz außer dem unerträglichen Hautjucken und den kleinen Wutausbrüchen gegen den Vater oder die Schwestern. Dem Vater legt er - spaßeshalber - ein mit seinem Blut geschriebenes Briefchen unter den Teller: "Pißkacker, du wirst ermorded." Der Vater knallt ihm eine und sagt: "Ermordet schreibt man hinten mit t." Bizarrerien des Alltags: ein theosophisches Fräulein mit gewaschener Wintermöhre. Stabil aussehende und deshalb sympathische Bücklingsköpfe. Ein Rollstuhlfahrer, dem der Reifen seines Rollstuhls platzt (und das ist wirklich ein furchtbarer Knall).
Und umwerfende Lebensweisheiten: "Wer in den Dünen kocht, soll auch die Sandkörner essen." Darauf läuft doch Verantwortungsethik hinaus, oder? "Im Waisenhaus mußte man beim Beten immer ein Auge offenhalten, sonst klauten die anderen einem das Butterbrot." Ein Auge!
Adriaan van Dis hat diese Geschichte mit, wie man vermuten mag, autobiographischen Zügen versehen. Er schreibt mit großer Lakonie. Seine in den Text eingestreuten Gedichte sind allerdings nicht lakonisch, vielmehr furchtbar reimgierig. Darüber stolpert man das eine oder andere Mal, auch weil sie so erwachsen klingen. Vielleicht hat da auch der Übersetzer ein bißchen Mitschuld. Besonderes Flair erhalten die Geschichten durch die vielen Gewürze, die in der Küche der Sids benutzt werden. Diesen Text lesen wir in Deutschland, wo es Nasi Goreng nur aus der fettigen Dose gibt, am besten auch mit der Nase. Am schönsten ist die Geschichte immer dann, wenn die ostindischen Sehnsüchte und Gerüche durch den Text ziehen.
WILFRIED VON BREDOW.
Adriaan van Dis: "Nathan Sid". Aus dem Niederländischen von Siegfried Mrotzek. Carl Hanser Verlag, München und Wien 1996. 95 S., geb., 22,- DM. Ab 13 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main