Zeitenwende in der Weltpolitik: Was für Deutschland auf dem Spiel steht
In einer Welt des rapiden machtpolitischen und technologischen Wandels müssen sich Deutschland und Europa strategisch neu orientieren: Im Wettkampf zwischen den USA und China gerät Europa bereits zwischen die Fronten. Und dies wird auch unser Verhältnis zu Russland verändern müssen. Jetzt ist ein nüchterner, illusionsloser Blick auf die neuen Realitäten notwendig, wie Klaus von Dohnanyi zeigt: Auf »Wertegemeinschaften« oder »Freundschaften« können wir nicht vertrauen, Deutschland und Europa müssen vielmehr offen ihre eigenen, wohl verstandenen Interessen formulieren und mit Realismus verfolgen. So fordert von Dohnanyi in seinem Buch grundsätzliche Kurskorrekturen - im Bereich der äußeren Sicherheit ebenso wie in der Industriepolitik, weg von einseitigen Abhängigkeiten, hin zu einer Politik der Eigenverantwortung. Ein ebenso provokantes wie anregendes Buch - von einer der herausragenden politischen Persönlichkeiten unserer Gegenwart.
In einer Welt des rapiden machtpolitischen und technologischen Wandels müssen sich Deutschland und Europa strategisch neu orientieren: Im Wettkampf zwischen den USA und China gerät Europa bereits zwischen die Fronten. Und dies wird auch unser Verhältnis zu Russland verändern müssen. Jetzt ist ein nüchterner, illusionsloser Blick auf die neuen Realitäten notwendig, wie Klaus von Dohnanyi zeigt: Auf »Wertegemeinschaften« oder »Freundschaften« können wir nicht vertrauen, Deutschland und Europa müssen vielmehr offen ihre eigenen, wohl verstandenen Interessen formulieren und mit Realismus verfolgen. So fordert von Dohnanyi in seinem Buch grundsätzliche Kurskorrekturen - im Bereich der äußeren Sicherheit ebenso wie in der Industriepolitik, weg von einseitigen Abhängigkeiten, hin zu einer Politik der Eigenverantwortung. Ein ebenso provokantes wie anregendes Buch - von einer der herausragenden politischen Persönlichkeiten unserer Gegenwart.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Klaus von Dohnanyi hat seine Schrift, die für Deutschland "Nationale Interessen" neu definieren will, vor Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine verfasst, aber auch Thomas Speckmanns Rezension wirkt eher notdürftig aktualisiert. Positiv rechnet Speckmann dem einstigen SPD-Granden an, dass er zu einer realistischen Einschätzung der eigenen Kräfte aufruft, Sicherheit nicht nur militärisch, sondern auch sozial und demokratisch versteht, und etwa angesichts erster Klimafolgen eine Stärkung des Katastrophenschutzes fordert. Wenn aber Dohnanyi angesichts drohender Konflikte zwischen den USA, Russland und China eine neutrale Position für Europa fordert, eine "nachdrückliche Entspannung" gegenüber Moskau und ein Ende der Sanktionen, kann der Rezensent nur abwinken.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.01.2022Vergesst
Amerika
Klaus von Dohnanyis einseitige Streitschrift zur Weltpolitik
Der Begriff der nationalen Interessen ist ein Reizwort. Steht er doch scheinbar im Gegensatz zu allem, was eine auf Integration und Vergemeinschaftung angelegte europäische Politik ausmacht. Das Wiedererstarken der Nationalismen gilt derzeit als größter Hemmschuh für das Voranschreiten des Projekts Europa sowie, im globalen Maßstab, einer friedlichen und auf Ausgleich bedachten Weltordnung.
Klaus von Dohnanyi, SPD-Politiker und früherer Erster Bürgermeister der Stadt Hamburg, sieht das ausdrücklich anders. Er plädiert dafür, das nationale Interesse dorthin zurückzuholen, wo es aus seiner Sicht hingehört – ins Zentrum deutscher und europäischer Politik. Und es damit den anderen Weltmächten, allen voran den Vereinigten Staaten, China und Russland, gleichzutun. Dass das vielen in Deutschland und insbesondere auch in seiner eigenen Partei nicht gefallen dürfte, ist ihm bewusst; mit weiten Teilen des Koalitionsvertrages der neuen rot-grün-gelben Regierung hadert er, vor allem, was die Außen- und Sicherheitspolitik betrifft. Sein Verdikt: zu viel Wunschvorstellung, zu wenig Realitätssinn.
Am deutlichsten wird das für Dohnanyi im globalen Wettstreit mit China und Russland, zwei Konflikte, die für ihn maßgeblich von den Vereinigten Staaten befördert werden und bei denen Europa und die Nato als willfährige Handlanger agieren. Ein Präsident Biden unterscheide sich hier allenfalls im Ton von seinem Vorgänger Trump. Der amerikanischen Weltpolitik attestiert Dohnanyi eine „gefährliche Mischung aus dem Imperialismus eines Theodore Roosevelts verknüpft mit dem Missionarismus eines Woodrow Wilson.“
China und Russland hingegen werden mit Nachsicht bedacht. Im Agieren Chinas sieht Dohnanyi eine Analogie zum Aufstieg der Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert. Das Land setze auf wirtschaftliches Wachstum, verzichte jedoch (bisher) auf militärisches Ausgreifen. Im aggressiven Vorgehen gegen die Nachbarn im südchinesischen Meer erkennt Dohnanyi eine Art chinesischer „Monroe-Doktrin“, demnach das Land keine militärisch und ideologisch fremden Kräfte in seiner Nachbarschaft zulassen könne – zumal China nicht über die einzigartige geografische Lage der Vereinigten Staaten verfüge.
Russland bescheinigt Dohnanyi, nach den Demütigungen der 1990er-Jahre um seinen Stolz und einen Platz auf der Weltbühne zu ringen. Dass Putin mit der Annexion der Krim gegen Völkerrecht verstoßen hat, räumt er ein, jedoch nicht ohne den Zusatz, dass auch die USA in jüngster Vergangenheit wiederholt widerrechtlich agiert hätten; und eine deutliche Mehrheit der Krimbewohner sich eher Russland als der Ukraine zugehörig fühle. Anzeichen dafür, dass Putin die Westgrenzen seines Landes weiter verschieben möchte, sieht Dohnanyi nicht. Stattdessen schwere Fehler bei der Nato-Osterweiterung, die Russland in eine Position gebracht habe, wie einst die Vereinigten Staaten in der Kubakrise.
Nach diesem recht einseitigen Parforceritt durch das Weltgeschehen fragt man sich: Was hat das alles mit nationalen Interessen zu tun? Für Dohnanyi widerspricht die Art und Weise, wie mit den aktuellen geopolitischen Großkonflikten verfahren wird, fundamental den nationalen Interessen Deutschlands und Europas, sie diene ausschließlich dem Ziel der Vereinigten Staaten, ihre globale Vormachtstellung zu behaupten. Inklusive des bewusst in Kauf genommenen Risikos einer militärischen Eskalation mit China, deren Folgen Europa zu tragen hätte.
Ziel deutscher und europäischer Politik müsse es daher sein, Europa endlich von seiner „Illusion der Freundschaft“ mit den Vereinigten Staaten zu befreien und als souveränen Partner „allianzneutral“ in der Weltpolitik zu positionieren. Russland aus seiner Umklammerung mit China loszueisen und wieder an Europa heranzuführen, sei ebenso im deutschen Interesse wie die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit China weiter zu vertiefen – auch wenn dabei das normativ Wünschenswerte, Stichwort: Menschenrechte, bisweilen dem politisch Machbaren untergeordnet werden müsse. Schließlich gehe es in der Politik „um Ergebnisse, nicht um moralisierende Selbstbestätigung.“
Im Umgang der EU-Staaten miteinander mahnt Dohnanyi mehr Toleranz an. Der Nationalstaat bleibe weiterhin der Nukleus demokratischer Legitimation und sozialstaatlicher Absicherung. Aufgabe Europas sei der Zusammenhalt in grundlegenden Fragen sowie die Sicherstellung der wirtschaftlichen und technologischen Wettbewerbsfähigkeit. Politische Divergenzen zwischen den Staaten, wie jüngst in Fragen der polnischen Justizreform oder der ungarischen Sexualerziehung, dürften nicht zu einer die Gemeinschaft gefährdenden Prinzipienreiterei ausarten.
Sinn und Zweck einer Streitschrift ist es, mit Zuspitzungen eine als nötig erachtete Debatte zu befeuern. Mit der brandaktuellen politischen Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und Russland über die Ukraine sowie über die künftige Nato-Sicherheitsarchitektur in Europa kommt Dohnanyis Buch genau zum richtigen Zeitpunkt. Dass er sich damit bei einer Regierung Scholz politisch Gehör verschaffen kann, ist aufgrund der Einseitigkeit seiner Urteile vor allem mit Blick auf die Vereinigten Staaten, China und Russland, aber auch auf die Bedeutung der EU als Wertegemeinschaft, jedoch eher unwahrscheinlich. Was Dohnanyi so vehement von der Politik einfordert, nüchternen Realitätssinn, hat er selbst beim Schreiben seines Buches an der einen oder anderen Stelle aus den Augen verloren.
FLORIAN KEISINGER
Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche. Siedler-Verlag, München 2022. 240 Seiten, 22 Euro.
Florian Keisinger ist Historiker.
Dass die Regierung Scholz
auf den SPD-Politiker hören wird,
ist sehr unwahrscheinlich
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Amerika
Klaus von Dohnanyis einseitige Streitschrift zur Weltpolitik
Der Begriff der nationalen Interessen ist ein Reizwort. Steht er doch scheinbar im Gegensatz zu allem, was eine auf Integration und Vergemeinschaftung angelegte europäische Politik ausmacht. Das Wiedererstarken der Nationalismen gilt derzeit als größter Hemmschuh für das Voranschreiten des Projekts Europa sowie, im globalen Maßstab, einer friedlichen und auf Ausgleich bedachten Weltordnung.
Klaus von Dohnanyi, SPD-Politiker und früherer Erster Bürgermeister der Stadt Hamburg, sieht das ausdrücklich anders. Er plädiert dafür, das nationale Interesse dorthin zurückzuholen, wo es aus seiner Sicht hingehört – ins Zentrum deutscher und europäischer Politik. Und es damit den anderen Weltmächten, allen voran den Vereinigten Staaten, China und Russland, gleichzutun. Dass das vielen in Deutschland und insbesondere auch in seiner eigenen Partei nicht gefallen dürfte, ist ihm bewusst; mit weiten Teilen des Koalitionsvertrages der neuen rot-grün-gelben Regierung hadert er, vor allem, was die Außen- und Sicherheitspolitik betrifft. Sein Verdikt: zu viel Wunschvorstellung, zu wenig Realitätssinn.
Am deutlichsten wird das für Dohnanyi im globalen Wettstreit mit China und Russland, zwei Konflikte, die für ihn maßgeblich von den Vereinigten Staaten befördert werden und bei denen Europa und die Nato als willfährige Handlanger agieren. Ein Präsident Biden unterscheide sich hier allenfalls im Ton von seinem Vorgänger Trump. Der amerikanischen Weltpolitik attestiert Dohnanyi eine „gefährliche Mischung aus dem Imperialismus eines Theodore Roosevelts verknüpft mit dem Missionarismus eines Woodrow Wilson.“
China und Russland hingegen werden mit Nachsicht bedacht. Im Agieren Chinas sieht Dohnanyi eine Analogie zum Aufstieg der Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert. Das Land setze auf wirtschaftliches Wachstum, verzichte jedoch (bisher) auf militärisches Ausgreifen. Im aggressiven Vorgehen gegen die Nachbarn im südchinesischen Meer erkennt Dohnanyi eine Art chinesischer „Monroe-Doktrin“, demnach das Land keine militärisch und ideologisch fremden Kräfte in seiner Nachbarschaft zulassen könne – zumal China nicht über die einzigartige geografische Lage der Vereinigten Staaten verfüge.
Russland bescheinigt Dohnanyi, nach den Demütigungen der 1990er-Jahre um seinen Stolz und einen Platz auf der Weltbühne zu ringen. Dass Putin mit der Annexion der Krim gegen Völkerrecht verstoßen hat, räumt er ein, jedoch nicht ohne den Zusatz, dass auch die USA in jüngster Vergangenheit wiederholt widerrechtlich agiert hätten; und eine deutliche Mehrheit der Krimbewohner sich eher Russland als der Ukraine zugehörig fühle. Anzeichen dafür, dass Putin die Westgrenzen seines Landes weiter verschieben möchte, sieht Dohnanyi nicht. Stattdessen schwere Fehler bei der Nato-Osterweiterung, die Russland in eine Position gebracht habe, wie einst die Vereinigten Staaten in der Kubakrise.
Nach diesem recht einseitigen Parforceritt durch das Weltgeschehen fragt man sich: Was hat das alles mit nationalen Interessen zu tun? Für Dohnanyi widerspricht die Art und Weise, wie mit den aktuellen geopolitischen Großkonflikten verfahren wird, fundamental den nationalen Interessen Deutschlands und Europas, sie diene ausschließlich dem Ziel der Vereinigten Staaten, ihre globale Vormachtstellung zu behaupten. Inklusive des bewusst in Kauf genommenen Risikos einer militärischen Eskalation mit China, deren Folgen Europa zu tragen hätte.
Ziel deutscher und europäischer Politik müsse es daher sein, Europa endlich von seiner „Illusion der Freundschaft“ mit den Vereinigten Staaten zu befreien und als souveränen Partner „allianzneutral“ in der Weltpolitik zu positionieren. Russland aus seiner Umklammerung mit China loszueisen und wieder an Europa heranzuführen, sei ebenso im deutschen Interesse wie die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit China weiter zu vertiefen – auch wenn dabei das normativ Wünschenswerte, Stichwort: Menschenrechte, bisweilen dem politisch Machbaren untergeordnet werden müsse. Schließlich gehe es in der Politik „um Ergebnisse, nicht um moralisierende Selbstbestätigung.“
Im Umgang der EU-Staaten miteinander mahnt Dohnanyi mehr Toleranz an. Der Nationalstaat bleibe weiterhin der Nukleus demokratischer Legitimation und sozialstaatlicher Absicherung. Aufgabe Europas sei der Zusammenhalt in grundlegenden Fragen sowie die Sicherstellung der wirtschaftlichen und technologischen Wettbewerbsfähigkeit. Politische Divergenzen zwischen den Staaten, wie jüngst in Fragen der polnischen Justizreform oder der ungarischen Sexualerziehung, dürften nicht zu einer die Gemeinschaft gefährdenden Prinzipienreiterei ausarten.
Sinn und Zweck einer Streitschrift ist es, mit Zuspitzungen eine als nötig erachtete Debatte zu befeuern. Mit der brandaktuellen politischen Auseinandersetzung zwischen den Vereinigten Staaten und Russland über die Ukraine sowie über die künftige Nato-Sicherheitsarchitektur in Europa kommt Dohnanyis Buch genau zum richtigen Zeitpunkt. Dass er sich damit bei einer Regierung Scholz politisch Gehör verschaffen kann, ist aufgrund der Einseitigkeit seiner Urteile vor allem mit Blick auf die Vereinigten Staaten, China und Russland, aber auch auf die Bedeutung der EU als Wertegemeinschaft, jedoch eher unwahrscheinlich. Was Dohnanyi so vehement von der Politik einfordert, nüchternen Realitätssinn, hat er selbst beim Schreiben seines Buches an der einen oder anderen Stelle aus den Augen verloren.
FLORIAN KEISINGER
Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche. Siedler-Verlag, München 2022. 240 Seiten, 22 Euro.
Florian Keisinger ist Historiker.
Dass die Regierung Scholz
auf den SPD-Politiker hören wird,
ist sehr unwahrscheinlich
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2022Entspannt euch in Europa!
Klaus von Dohnanyi sucht mit einer Streitschrift die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland
"Erkenne die Lage, rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen." Am Anfang steht Gottfried Benn bei Klaus von Dohnanyi. Am Anfang steht bei ihm die Inventur der Gegenwart. Es geht um eine Gegenwart, für die weder Deutschland noch Europa angemessen gerüstet sind - im wahrsten Sinne des Wortes. Es geht um eine Gegenwart, in der weder Deutschland noch Europa machtpolitisch mithalten können mit den Vereinigten Staaten, Russland oder China.
Diese Analyse wird von vielen geteilt - im Westen wie im Osten. Aber was folgt daraus für den heutigen Beobachter Dohnanyi, der für Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit zentrale Funktionen übernommen hatte - als Staatsminister im Auswärtigen Amt und Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, als Bundeswissenschaftsminister und Erster Bürgermeister Hamburgs?
Wohltuend wirken zwei Ansätze Dohnanyis: Zum einen ruft er dazu auf, die eigene Lage, die eigenen Kräfte und Möglichkeiten realistisch einzuschätzen. Und da ebendiese in seinen Augen begrenzt sind, plädiert er zum anderen für eine Fokussierung auf das, was jetzt wichtig sei: Sicherheit - wobei er diese nicht eng, sondern umfassend definiert: äußere, wirtschaftliche, soziale und demokratische.
Wohltuend wirken auch Ansätze, mit denen Dohnanyi derartige Sicherheit erreichen will. Als größte unmittelbare Gefahr für Deutschland bezeichnet er die Folgen des Klimawandels. Auch hier rät er zu Realismus: Man solle heute damit rechnen, dass schon die Begrenzung des weltweiten Anstiegs der Erwärmung der Erdatmosphäre bei nur 1,5 Grad ein sehr ehrgeiziges und möglicherweise nicht mehr zu erreichendes Ziel sei.
Entsprechenden Vorrang sowohl politisch als auch in den öffentlichen Haushalten Deutschlands und der Europäischen Union will Dohnanyi eingeräumt sehen für den Katastrophenschutz, die Organisation des Gesundheitswesens und die langfristigen Planungen der deutschen und europäischen Infrastruktur in den nächsten Jahren. Treffend schreibt er der Europäischen Kommission ins Stammbuch: "Die Menschen lesen zwar vom ,Green Deal', von Europas Zielen des Klimaschutzes bis in die Jahre 2035 und 2050 - die Menschen leben aber heute, und sie erfahren schon heute die Folgen des Klimawandels." Sie benötigten heute und morgen Schutz und Hilfe.
Eng verbunden mit dem Klimawandel ist auch für Dohnanyi die Migration nach Europa. Hier bezweifelt er überaus realistisch, dass diese Frage lösbar sei, indem alle Mitgliedstaaten der EU sich zur anteilsmäßigen Aufnahme von Flüchtlingen bereit erklären. Zwar bleibt es auch in seinen Augen richtig, sich weiterhin auf die Lösung der Migrationsfrage in den Herkunftsländern zu konzentrieren, aber dieser Ansatz wird nach Dohnanyis nüchterner Einschätzung nur sehr langfristig wirken. Daher sieht er das Problem der Verteilung von Migranten in der EU nur dann als lösbar an, wenn es zugleich einen glaubwürdigen Ansatz für die Sicherung der Außengrenzen gibt.
Weniger wohltuend hingegen wirken Ansätze, mit denen Dohnanyi die Herausforderungen in der klassischen Sicherheitspolitik adressiert. Grundsätzlich ist es zwar weiterhin richtig, einem erweiterten Sicherheitsbegriff zu folgen und daraus abzuleiten, sich von einer Dominanz militärischer Sicherheitsüberlegungen zu lösen. Aber gerade Berlin aufzufordern, in der transatlantischen Allianz für einen solchen Weg zu werben, wirkt irritierend. Ist es nicht Deutschland, das bereits bei der militärischen Sicherheit große Defizite aufweist? Und basiert nicht eine "moderne, zeitgemäße Sicherheitsstrategie", wie Dohnanyi sie fordert, heute erneut auf einem militärischen Potential, das Abschreckung ermöglicht? Wie wenig davon in Europa übrig ist, erleben NATO und EU seit Jahren an ihren östlichen Grenzen - und dies nicht erst seit Russlands Überfall auf die Ukraine.
Zweifellos bleibt es ebenfalls richtig, dass eine aktive Entspannungspolitik gegenüber Russland langfristig notwendiger denn je ist - allerdings erst bei einer ebenfalls langfristig erfolgreichen Eindämmung der russischen Aggression gegen den Westen - und dass dabei das wirtschaftliche Potential des Westens auch weiterhin positiv eingebracht werden kann - umso mehr in einem durch die eigene Aggression ökonomisch stark geschwächten Russland. Aber ob es sich auf dem Weg dorthin als hilfreich erweisen würde, die Sanktionen gegenüber Moskau aufzuheben, da sie nach dem Urteil von Dohnanyi wenig bewirkt haben, ist schon allein deshalb zu bezweifeln, da wirklich schmerzhafte Sanktionen wie ein totales Embargo von Gas, Öl und Kohle aus Russland bislang nicht verhängt wurden - und zwar genau aus dem Interesse des Westens heraus, das auch Dohnanyi formuliert: eine "nachdrückliche Entspannung gegenüber Russland" - irgendwann nach dem Ende des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Es ist nur leider der Kreml, der eine solche Entspannung derzeit verhindert - durch sein brutales Agieren in seiner Nachbarschaft.
Angesichts der aktuellen Nachrichtenlage im Russlandkonflikt dann auch noch als Ziel auszugeben, Europa müsse am Ende eine allianzneutrale Position beziehen, da es durch militärische Kraft nicht wirklich gesichert werden könne, widerspricht nicht nur Dohnanyis Feststellung zuvor, die NATO sei auch konventionell ein Grund für russische Zurückhaltung in Europa - die sich allerdings auf das Bündnisgebiet der transatlantischen Allianz beschränkt. Dohnanyis Schlussfolgerung, wer sich selbst gegenüber einem Stärkeren nicht mehr wirkungsvoll verteidigen könne, für den sei es immer sicherer, sich nicht einzumischen in Konflikte der Größeren und sich auch nicht durch eine Allianz zu binden, vergisst zum einen, dass gerade die Geschichte Europas lehrt, machtpolitisch lieber Subjekt als Objekt sein zu wollen. Zum anderen eignet sich die Rolle Spaniens, Schwedens und der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, die Dohnanyi zum Vorbild für ein Verhalten Europas im heutigen Machtkampf zwischen Amerika, China und Russland stilisiert, nicht für die geopolitische Komplexität im 21. Jahrhundert - zumal Spanien unter Franco mit einer Infanteriedivision an Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion teilnahm.
Und schließlich China: Hier verhält es sich bei Dohnanyi ähnlich wie bei seinem Blick auf Russland. Peking und Moskau werden vor allem als Getriebene dargestellt: Die Politik des Westens nach dem Ende des Kalten Krieges hat nach Dohnanyis Darstellung nicht nur dazu geführt, dass "heute sogar das christlich-europäische Russland aus seinen europäischen Interessen vertrieben und an die Seite seines früher eher feindlichen Nachbarn China gedrängt" worden sei.
Auch China erscheint als Projektionsfläche westlicher Politik - nicht zuletzt von Amerikas Machterhaltung, Geopolitik und Wirtschaftsinteressen. Umso mehr mahnt er, es sei nicht im Interesse Deutschlands und der EU, den USA auf ihrem "gefährlichen Weg in eine geopolitische Konfrontation mit China" zu folgen.
Seine These, China sei für Europa militärisch bisher in keiner Weise bedrohlich, lässt in ihrer Absolutheit außen vor, wie abhängig nicht zuletzt Deutschlands Wirtschaft von sicheren Seewegen von Asien nach Europa ist. Diese Sicherheit gefährden Chinas maritime Expansionspolitik gegenüber seinen asiatischen Nachbarn und seine starke Aufrüstung zur inzwischen größten Marine der Welt. Und so sollte die Fortsetzung des Zitats von Gottfried Benn, das bei Dohnanyi am Anfang steht, auch seinem bewusst als Streitschrift verfassten Buch empfohlen sein: "Vollende nicht deine Persönlichkeit, sondern die einzelnen deiner Werke." THOMAS SPECKMANN
Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche.
Siedler Verlag, München 2022. 238 S., 22,00 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klaus von Dohnanyi sucht mit einer Streitschrift die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland
"Erkenne die Lage, rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen." Am Anfang steht Gottfried Benn bei Klaus von Dohnanyi. Am Anfang steht bei ihm die Inventur der Gegenwart. Es geht um eine Gegenwart, für die weder Deutschland noch Europa angemessen gerüstet sind - im wahrsten Sinne des Wortes. Es geht um eine Gegenwart, in der weder Deutschland noch Europa machtpolitisch mithalten können mit den Vereinigten Staaten, Russland oder China.
Diese Analyse wird von vielen geteilt - im Westen wie im Osten. Aber was folgt daraus für den heutigen Beobachter Dohnanyi, der für Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit zentrale Funktionen übernommen hatte - als Staatsminister im Auswärtigen Amt und Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, als Bundeswissenschaftsminister und Erster Bürgermeister Hamburgs?
Wohltuend wirken zwei Ansätze Dohnanyis: Zum einen ruft er dazu auf, die eigene Lage, die eigenen Kräfte und Möglichkeiten realistisch einzuschätzen. Und da ebendiese in seinen Augen begrenzt sind, plädiert er zum anderen für eine Fokussierung auf das, was jetzt wichtig sei: Sicherheit - wobei er diese nicht eng, sondern umfassend definiert: äußere, wirtschaftliche, soziale und demokratische.
Wohltuend wirken auch Ansätze, mit denen Dohnanyi derartige Sicherheit erreichen will. Als größte unmittelbare Gefahr für Deutschland bezeichnet er die Folgen des Klimawandels. Auch hier rät er zu Realismus: Man solle heute damit rechnen, dass schon die Begrenzung des weltweiten Anstiegs der Erwärmung der Erdatmosphäre bei nur 1,5 Grad ein sehr ehrgeiziges und möglicherweise nicht mehr zu erreichendes Ziel sei.
Entsprechenden Vorrang sowohl politisch als auch in den öffentlichen Haushalten Deutschlands und der Europäischen Union will Dohnanyi eingeräumt sehen für den Katastrophenschutz, die Organisation des Gesundheitswesens und die langfristigen Planungen der deutschen und europäischen Infrastruktur in den nächsten Jahren. Treffend schreibt er der Europäischen Kommission ins Stammbuch: "Die Menschen lesen zwar vom ,Green Deal', von Europas Zielen des Klimaschutzes bis in die Jahre 2035 und 2050 - die Menschen leben aber heute, und sie erfahren schon heute die Folgen des Klimawandels." Sie benötigten heute und morgen Schutz und Hilfe.
Eng verbunden mit dem Klimawandel ist auch für Dohnanyi die Migration nach Europa. Hier bezweifelt er überaus realistisch, dass diese Frage lösbar sei, indem alle Mitgliedstaaten der EU sich zur anteilsmäßigen Aufnahme von Flüchtlingen bereit erklären. Zwar bleibt es auch in seinen Augen richtig, sich weiterhin auf die Lösung der Migrationsfrage in den Herkunftsländern zu konzentrieren, aber dieser Ansatz wird nach Dohnanyis nüchterner Einschätzung nur sehr langfristig wirken. Daher sieht er das Problem der Verteilung von Migranten in der EU nur dann als lösbar an, wenn es zugleich einen glaubwürdigen Ansatz für die Sicherung der Außengrenzen gibt.
Weniger wohltuend hingegen wirken Ansätze, mit denen Dohnanyi die Herausforderungen in der klassischen Sicherheitspolitik adressiert. Grundsätzlich ist es zwar weiterhin richtig, einem erweiterten Sicherheitsbegriff zu folgen und daraus abzuleiten, sich von einer Dominanz militärischer Sicherheitsüberlegungen zu lösen. Aber gerade Berlin aufzufordern, in der transatlantischen Allianz für einen solchen Weg zu werben, wirkt irritierend. Ist es nicht Deutschland, das bereits bei der militärischen Sicherheit große Defizite aufweist? Und basiert nicht eine "moderne, zeitgemäße Sicherheitsstrategie", wie Dohnanyi sie fordert, heute erneut auf einem militärischen Potential, das Abschreckung ermöglicht? Wie wenig davon in Europa übrig ist, erleben NATO und EU seit Jahren an ihren östlichen Grenzen - und dies nicht erst seit Russlands Überfall auf die Ukraine.
Zweifellos bleibt es ebenfalls richtig, dass eine aktive Entspannungspolitik gegenüber Russland langfristig notwendiger denn je ist - allerdings erst bei einer ebenfalls langfristig erfolgreichen Eindämmung der russischen Aggression gegen den Westen - und dass dabei das wirtschaftliche Potential des Westens auch weiterhin positiv eingebracht werden kann - umso mehr in einem durch die eigene Aggression ökonomisch stark geschwächten Russland. Aber ob es sich auf dem Weg dorthin als hilfreich erweisen würde, die Sanktionen gegenüber Moskau aufzuheben, da sie nach dem Urteil von Dohnanyi wenig bewirkt haben, ist schon allein deshalb zu bezweifeln, da wirklich schmerzhafte Sanktionen wie ein totales Embargo von Gas, Öl und Kohle aus Russland bislang nicht verhängt wurden - und zwar genau aus dem Interesse des Westens heraus, das auch Dohnanyi formuliert: eine "nachdrückliche Entspannung gegenüber Russland" - irgendwann nach dem Ende des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Es ist nur leider der Kreml, der eine solche Entspannung derzeit verhindert - durch sein brutales Agieren in seiner Nachbarschaft.
Angesichts der aktuellen Nachrichtenlage im Russlandkonflikt dann auch noch als Ziel auszugeben, Europa müsse am Ende eine allianzneutrale Position beziehen, da es durch militärische Kraft nicht wirklich gesichert werden könne, widerspricht nicht nur Dohnanyis Feststellung zuvor, die NATO sei auch konventionell ein Grund für russische Zurückhaltung in Europa - die sich allerdings auf das Bündnisgebiet der transatlantischen Allianz beschränkt. Dohnanyis Schlussfolgerung, wer sich selbst gegenüber einem Stärkeren nicht mehr wirkungsvoll verteidigen könne, für den sei es immer sicherer, sich nicht einzumischen in Konflikte der Größeren und sich auch nicht durch eine Allianz zu binden, vergisst zum einen, dass gerade die Geschichte Europas lehrt, machtpolitisch lieber Subjekt als Objekt sein zu wollen. Zum anderen eignet sich die Rolle Spaniens, Schwedens und der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, die Dohnanyi zum Vorbild für ein Verhalten Europas im heutigen Machtkampf zwischen Amerika, China und Russland stilisiert, nicht für die geopolitische Komplexität im 21. Jahrhundert - zumal Spanien unter Franco mit einer Infanteriedivision an Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion teilnahm.
Und schließlich China: Hier verhält es sich bei Dohnanyi ähnlich wie bei seinem Blick auf Russland. Peking und Moskau werden vor allem als Getriebene dargestellt: Die Politik des Westens nach dem Ende des Kalten Krieges hat nach Dohnanyis Darstellung nicht nur dazu geführt, dass "heute sogar das christlich-europäische Russland aus seinen europäischen Interessen vertrieben und an die Seite seines früher eher feindlichen Nachbarn China gedrängt" worden sei.
Auch China erscheint als Projektionsfläche westlicher Politik - nicht zuletzt von Amerikas Machterhaltung, Geopolitik und Wirtschaftsinteressen. Umso mehr mahnt er, es sei nicht im Interesse Deutschlands und der EU, den USA auf ihrem "gefährlichen Weg in eine geopolitische Konfrontation mit China" zu folgen.
Seine These, China sei für Europa militärisch bisher in keiner Weise bedrohlich, lässt in ihrer Absolutheit außen vor, wie abhängig nicht zuletzt Deutschlands Wirtschaft von sicheren Seewegen von Asien nach Europa ist. Diese Sicherheit gefährden Chinas maritime Expansionspolitik gegenüber seinen asiatischen Nachbarn und seine starke Aufrüstung zur inzwischen größten Marine der Welt. Und so sollte die Fortsetzung des Zitats von Gottfried Benn, das bei Dohnanyi am Anfang steht, auch seinem bewusst als Streitschrift verfassten Buch empfohlen sein: "Vollende nicht deine Persönlichkeit, sondern die einzelnen deiner Werke." THOMAS SPECKMANN
Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche.
Siedler Verlag, München 2022. 238 S., 22,00 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Selbstbewusst, souverän, auf die eigene Erfahrung bauend und in großer Ausführlichkeit und mit intellektuellem Tiefgang auf die Geschichte zurückgreifend formuliert [Dohnanyi] Einsichten und Ansichten in Sentenzen, die sich in solchem Freimut sonst kaum einer leisten würde.« Die ZEIT